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Mit dem Zug nach Wieliczka

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Nach der Renovierung des Schlosses brachte Stephan die vom Onkel geerbte Bierbrauerei auf den neuesten Stand der Technik. In dieser Brauerei sollte später ein berühmtes polnisches Bier hergestellt werden und zu Teilen würde sie sogar noch den Habsburgern gehören, als von der Österreichisch-Ungarischen Monarchie nur noch in Geschichtsbüchern die Rede war. Karl Stephan ließ elektrisches Licht einleiten und obendrein eine Mini-Eisenbahnlinie für den Transport von Brennholz errichten. Diese Eisenbahn faszinierte Willy von klein auf. Stundenlang konnte er dastehen und der Bewegung der Rädchen und Kolben zusehen, wenn der Zug anfuhr oder stehen blieb. Willy liebte alle eine Zugfahrt begleitenden Gerüche, sogar den Gestank von heißem Maschinenöl oder Masut. Oft waren schwarz verschmierte Lokführer die Helden seiner Träume. Einmal beschloss Willy einen an der Lokomotive hängenden Eiszapfen zu kosten. Er kroch unter den Zug, der die ganze Nacht über bei der Brauerei gestanden hatte, um die Eiszapfen abzubrechen. Obwohl er schreckliche Angst hatte, der Zug könnte anfahren und ihn überrollen, konnte er der Versuchung einfach nicht widerstehen. Das Kindermädchen, das an jenem Tag mit den Kindern spazieren ging, hatte sich durch ein Gespräch mit dem Wächter ablenken lassen und wurde erst aufmerksam, als der von Kopf bis Fuß mit Masut beschmierte, aber glückliche Willy ihr einen Eiszapfen zum Probieren hinhielt. Bei dem Gedanken, was dem jungen Erzherzog unter dem Zug hätte zustoßen können, wurde sie beinahe ohnmächtig. Nach diesem Vorfall wich das Kindermädchen bei Spaziergängen nicht mehr von Willys Seite und wollte nicht einmal seine Hand loslassen. Fortan war es Willy verboten, sich den Zügen zu nähern. Das schürte seine Neugier noch mehr, und er wartete mit Ungeduld auf die Reise nach Wieliczka bei Krakau, wo es ein berühmtes Salzbergwerk gab. Der Vater hatte den Kindern diese Fahrt schon lange versprochen.

Am Morgen der lang ersehnten Reise erwachte Willy noch vor dem Morgengrauen und konnte vor Aufregung nicht mehr einschlafen. Ein paar Mal kletterte er auf das Fensterbrett im Kinderzimmer und versuchte hinter dem mit Raureif bedeckten Fenster etwas zu erkennen. Aber draußen war es dunkel. Endlich hörte er aus der Ferne das bekannte Pfeifen der Lokomotive. Vielleicht war der Lokführer gekommen und traf Vorbereitungen für die Fahrt. Willys erste Reise mit der neuen Eisenbahn!

Im Flur ertönten Schritte. Das Kindermädchen stieg die Treppe zum Kinderzimmer hinauf. Gleich würde sie sich die gestärkte Schürze umbinden und das Zimmer betreten. Und während sie die üblichen Morgenrituale vollziehen – Gebet, Gymnastik, kalte Waschungen, Morgentoilette, Ankleiden, Frühstück –, wird vom kleinen Bahnhofsgebäude zum Zug ein roter Teppich ausgerollt. Das ist immer so, wenn die Familie des Erzherzogs eine Reise macht. Entlang des Teppichs stehen die Diener in Paradelivree Spalier und warten geduldig, bis die Kinder mit dem Kindermädchen und einigen Gouvernanten in den Zug steigen. Willy hüpft vor Aufregung und isst fast nichts zum Frühstück. Vor seinen Augen drehen sich bereits die Räder der Waggons, die er vergeblich vom Zugfenster aus zu sehen versucht. Der Hunger holt ihn während der Fahrt ein, sie haben bereits ein gutes Stück der Reise hinter sich. Als hätte das Kindermädchen seine Gedanken gelesen, packte es die von zu Hause mitgenommenen belegten Brote aus, dazu gab es leckeren Tee. Willy beobachtete begeistert, wie eine Bedienstete im Gang aus einem großen, glänzenden Samowar heißes Wasser in die Tassen füllte. Unter dem Samowar knackten fröhlich die Scheite im Feuer.

Kurz vor der Ankunft döste Willy ein. Er erwachte, als der Zug anhielt und die Lokomotive laut Dampf abließ. Der Junge schaute aus dem Fenster und sah, dass sie auf dem Abstellgleis standen. Sie reisten also inkognito. Willy freute sich, denn nun mussten sie keine Zeit für die ermüdenden offiziellen Zeremonien verschwenden. Auf diesem Gleis hielt auch der Zug des Kaisers, wenn er zu einem festlichen Empfang im Salzbergwerk anreiste und die offizielle Zeremonie am Bahnhof umgehen wollte. Vor dem Eingang zum Bahnhof warteten Equipagen, die sie zum Bergwerk brachten. Der kleine Willy sah den ganzen Weg über aus dem Fenster, denn er konnte es nicht erwarten, endlich in den Berg zu fahren.

In der Eingangshalle des Salzbergwerks bat man sie, Mäntel und Hüte abzulegen, und gab ihnen stattdessen weiße Mäntel und Schutzhelme, was Willy ganz besonders gefiel. Mit einem speziellen hydraulischen Aufzug fuhren der Reihe nach alle – das Kindermädchen, die Kinder, die Gouvernanten und der Führer – zur ersten Ebene, ungefähr hundert Meter unter der Erde. Willy benutzte einen solchen Aufzug zum ersten Mal. Die Konstruktion quietschte beängstigend, und von Zeit zu Zeit hielt der Lift kurz an. Willy blieb das Herz stehen. Er bemühte sich, nicht daran zu denken, dass der Aufzug für immer hier, unter der Erde, steckenbleiben könnte.

Schließlich blieb der Lift stehen, die Tür öffnete sich lautlos. Willy seufzte vor Erleichterung und verließ den Aufzug mit den anderen. Er hob die nicht allzu helle Lampe etwas höher, die ihm mit Mantel und Helm ausgegeben worden war und nach Petroleum roch. Doch sosehr er sich auch anstrengte, etwas um sich herum zu erkennen, mehr als die Gesichter und Gestalten seiner Brüder und Schwestern gab das schwache Licht in der Dunkelheit nicht preis. Der Führer wies sie an, ihm zu folgen und das Seil, dessen Enden er und das Kindermädchen hielten, nicht loszulassen. Ziemlich lange folgten sie einem dunklen, bedrohlichen Tunnel, der in einer grellen Lichtexplosion endete. Eleonora stieß einen überraschten Schrei aus. Vor ihnen tat sich ein riesiger Ballsaal auf, dessen Prunk atemberaubend war.

Alles hier war aus blendend weißem Salz gemeißelt und meisterhaft beleuchtet: massive Armleuchter und Lüster, Bänke, Säulen, das Gewölbe und sogar Skulpturen. In einer Nische stand ein Thron, über dem ein österreichischer Adler ins Salz gemeißelt war. Auf diesem Thron saß Kaiser Franz Joseph, wenn er einen der hier stattfindenden Bälle besuchte. Wie verzaubert ließ Willy das Seil los und trat näher an den Thron heran. Vorsichtig setzte er sich darauf und schloss die Augen. In seinen Ohren ertönte die Musik einer routinierten Militärkapelle, paarweise und mit Lampen in den Händen bewegten sich die Menschen mit ihren seltsamen Helmen und weißen Mänteln zu diesen Klängen, als befänden sie sich in einem Ballsaal. Er stellte sich vor, er wäre der alte Kaiser, der sich auf seinem Salzthron von der Last der täglichen Pflichten erholte, und ihm wurde warm und behaglich zumute. Doch plötzlich riss ihn ein gellender Schrei der englischen Gouvernante Miss Ryan aus seinen Träumen. Wie sich herausstellte, war er auf dem Thron eingedöst und sein Fehlen war erst aufgefallen, als die anderen bereits ein paar Säle weiter waren. Miss Ryan hatte solche Angst, dass sich Willy auf dem Salzthron erkältet haben könnte, dass sie die Führung abbrechen ließ. Anstatt die Kapelle und die anderen Etagen des Bergwerks zu besichtigen, besuchten sie das kleine Restaurant, tranken Tee und aßen belegte Brote. Als sie schließlich wieder den hydraulischen Aufzug betraten, um ebenso langsam und mit bedrohlichen Pausen an die Oberfläche zu fahren, hatte Willy das Gefühl, jeden Moment vor Müdigkeit umzufallen. Noch auf dem Weg zum Bahnhof schlief er in der Kutsche ein und schlief die ganze Heimreise im Zug. Er träumte, er säße auf dem Salzthron, und man hätte rund um seinen erstarrten Körper im schneeweißen Mantel und Helm einen Altar errichtet. Die Mutter und die Schwestern würden an diesem Altar beten und bitterlich weinen. Am ersten Tag nach ihrer Rückkunft ins Schloss erließen Willy und Eleonora eine neue Verordnung, die den Kindern das Schlafen in der Kälte verbot.

Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde

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