Читать книгу Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde - Natalka Sniadanko - Страница 13
Zu Fuß ins Gymnasium
ОглавлениеKeines von Karl Stephans Kindern hatte Griechisch oder Latein gelernt, denn sie wurden nicht nach dem Lehrplan des Gymnasiums unterrichtet. Eine Tatsache, die später Wilhelms Offiziersburschen Iwan, Sohn eines ukrainischen Bauern, verblüffen sollte. Iwans Familie war, an den damaligen Maßstäben gemessen, beinahe wohlhabend. Der Vater besaß ein Feld, das er unter seinen beiden Söhnen aufteilen wollte. Iwan war der ältere und sollte den Hof übernehmen. Wie die meisten ukrainischen Bauern jener Zeit war auch der Vater der Meinung, seine Kinder müssten so wie schon Urgroßvater, Großvater und Vater Bauern werden. Aber Iwan hatte einen derart starken Drang zu lernen, dass er nach der Dorfschule ins Gymnasium wollte. Mit dem Besuch der Dorfschule konnte der Vater gerade noch leben, auch wenn die Schule Iwan von der Arbeit abhielt. Vom Gymnasium jedoch wollte er nichts wissen. Als die Zeit kam, sich am Gymnasium einzuschreiben, fand Iwan selbst heraus, welche Schule für ihn die beste war, wie man sich für die Aufnahmeprüfung vorbereiten konnte, wann man wo zu erscheinen hatte, in welcher Schule am wenigsten geprügelt, in welcher auf Ukrainisch unterrichtet wurde und wo es die besten Lehrer gab. Er tüftelte einen genauen Plan aus, wie er den Vater von seinem Vorhaben überzeugen konnte, und verriet ihn niemandem. Den ganzen Sommer über war Iwan so folgsam, dass der Vater schon glaubte, der Sohn habe die dumme Idee mit der „Wissenschaft“ aufgegeben. In jenem Sommer träumte Iwan fast jede Nacht davon, dass er mit anderen Gymnasiasten beisammenstand: in einer engen Bluse mit Schnalle und einer roten Borte für die Knöpfe, mit breiten goldenen Tressen und dem in Gold gestickten, wellenförmigen Emblem des Gymnasiums auf der hohen schwarzen Kappe. Er träumte, dass sich die Jungen im Morgengrauen vor dem Schulgebäude sammelten, beim ersten Kellerfenster, dem Treffpunkt der Schüler der 1A, welcher ihnen vom Schulaufseher – dem Repetenten – zugewiesen worden war. Die Jungen erzählten einander von ihren Ferienabenteuern, bis der Schulwächter – ein Tertianer – das Tor öffnete und sie in die weitläufige Aula einließ. Dort blickten auf hohen Postamenten stehende griechische Götter mit schimmernden Ambrosialocken streng von allen Seiten auf die Schüler herab.
Das erste Problem, das Iwan zu lösen haben würde, war die Anreise. Wie sollte er am Tag der Schuleinschreibung in die Stadt kommen? Theoretisch könnte er das mit den Eltern, die am selben Tag auf dem Pferdewagen zum Markt fahren wollten. Iwan wusste, dass der Vater schwer zu überreden sein würde, dennoch bereitete er sich sorgfältig vor und verlor kein Wort über seinen Plan.
Ein paar Tage davor schrubbte er am Abend gründlich seine Füße, um sie von den Schwielen zu befreien, denn bisher war er nur barfuß gelaufen, eigene Schuhe besaß er nicht. Als der große Tag gekommen war, trieb Iwan die Kühe früh auf die Weide, um zurück zu sein, bevor die Eltern zum Markt aufbrachen. Er frühstückte, legte seine Sonntagskleider zurecht und wusch sich Hals und Ohren. Erst dann teilte er dem Vater mit, dass er mit in die Stadt fahren werde, um sich in der Schule anzumelden.
„Wo?! In welcher Schule? Die Schule werd’ ich dir austreiben! Du bleibst zu Hause und gibst Ruh!“ Der Vater reagierte wie erwartet.
Doch der Junge war gewappnet. So laut er konnte, begann er zu schreien und zu klagen – die Nachbarn sollten hören, dass es im Haus Streit gab. Der Vater wurde wütend, langte dem Sohn eine, Tränen flossen, der Vater fluchte. Die Mutter schwieg, vielleicht wünschte sie sich insgeheim sogar, dass der Sohn Priester würde. Als die Mutter dem Vater nicht beipflichtete, schrie Iwan noch lauter. Auf das Geschrei hin liefen die Nachbarn zusammen und versuchten den Vater davon zu überzeugen, den Jungen ins Gymnasium zu schicken. Doch er gab nicht nach.
Schließlich spannte der Vater die Pferde ein und fuhr los. Iwan lief dem Wagen mit Geheul hinterher, durch das ganze Dorf und noch weiter, vorbei an den Bauern auf den Feldern. Wie auf Kommando richteten die sich auf, um das seltsame Schauspiel zu beobachten, und schüttelten stumm den Kopf. Das Gesicht des Vaters wurde röter und röter, am liebsten wäre er vor Scham im Erdboden versunken, doch von seiner „Pädagogik“ ließ er trotzdem nicht ab. Dazu zählten auch die Schläge, die er seinen Söhnen, wenn sie nicht gehorchten oder auch einfach so, „damit sie nicht übermütig wurden“, regelmäßig verpasste.
Sie erreichten die Stadt. Bei der Kirche trat gerade der Pfarrer auf die Straße, der Iwan noch aus der Dorfschule kannte. Müde vom Laufen hinter dem Wagen war Iwan verstummt, doch nun stimmte er sein Geschrei wieder an und verschmierte die Tränen auf seinem staubigen Gesicht. Der Priester fragte, was los sei. Sowohl Vater als auch Sohn erzählten ihre Version der Geschichte. Dem Vater zitterten die Hände, vor Zorn brachte er kaum einen ganzen Satz heraus. Iwan dagegen sprach in langen, wohlkonstruierten, im Voraus zurechtgelegten Sätzen und versuchte, den Geistlichen damit auf seine Seite zu ziehen.
Der Pfarrer dachte kurz nach und erinnerte sich, dass Iwan wirklich ein fleißiger und begabter Schüler gewesen war, und auch, dass Iwans Vater nicht genug Boden besaß, um zwei Söhne zu versorgen, und dass es überhaupt nicht schaden würde, wenn einer davon Priester oder Dorflehrer würde. Er kratzte sich am Hinterkopf, rückte den Gürtel seiner Soutane zurecht und verkündete, dass er den Jungen in der Schule anmelden würde.
Der Vater knetete seine Kappe so fest in den Händen, dass seine Knöchel weiß hervortraten, zornig funkelte er den Sohn an, wagte es jedoch nicht, sich gegen die Autorität des Priesters zu stellen. Also verabschiedete er sich mit einem zwischen den Zähnen hervorgepressten „Gelobt sei Jesus Christus!“ und verpasste dem Pferd wortlos einen Peitschenhieb. Das machte einen Satz nach vorne und der Wagen fuhr mit einem Ruck an.
So kam Iwan ins Gymnasium, den Weg dorthin musste er zu Fuß zurücklegen, sogar im Winter, neun Kilometer in jede Richtung. Latein wurde Iwans Lieblingsfach. Am Nachmittag saß er gerne auf der Ofenbank, knabberte an einer Karotte, einer Birne oder einem harten Stück Brot und wiederholte die Konjugation der lateinischen Verben. Für seine Mutter klang das wie eine Predigt: unverständlich und feierlich. Iwan selbst hatte das Gefühl, Zugang zu geheimem Wissen bekommen zu haben, das seiner Umgebung verborgen blieb.
Wenn ihn die Eltern beim Faulenzen ertappten, was das Sitzen über Büchern ihrer Meinung nach war, fragten sie stets scharf, warum er nicht arbeite. „Sic fata tulere“, antwortete Iwan mit seiner liebsten Redewendung und übersetzte gleich: „So wollte es das Schicksal.“ Doch es half nichts, der Vater griff nach dem Gürtel und jagte den ach so schlauen Gymnasiasten durchs Haus.
Später erzählte Iwan gerne die Episode aus seinem Schulleben, als er mit einem Freund vor der Lateinstunde Vesper aß. Die Mutter hatte ihm Käse in ein Tuch eingeschlagen, den er nun Stück für Stück genüsslich verspeiste. Die Mutter des Klassenkollegen hatte diesem Brot und Stückchen vom Huhn, das sie am Vortag geschlachtet hatten, eingepackt. Die Jungen teilten ihr Essen miteinander. Iwans Freund war schneller fertig und ging auf den Schulhof hinaus. Iwan pickte sorgfältig die letzten Käsekrümel aus seinem Tuch, als der Lateinprofessor vorbeikam. Der erblickte Iwan und scherzte: „Ivanus caseum amat.“
Doch Iwan antwortete ernst: „Ivanus Latine amat.“
Iwan, der etwa in Wilhelms Alter war, beherrschte Griechisch und Latein. Und wenn er mit dem Verhalten seines Herrn unzufrieden war, murmelte er: „Si duo faciunt idem, non est idem.“ Wilhelm verstand zwar nicht, was das bedeutete, fühlte sich aber schuldig.
„Wir Kinder wurden zu Hause streng, aber sehr frei erzogen. Die Traditionen des Herrscherhauses spielten keine besondere Rolle“, erzählte Wilhelm. „Bei uns erlernte jeder Mann ein Handwerk: meine beiden älteren Brüder die Tischlerei und Brandmalerei, ich die Zierklempnerei. Damit beschäftigten wir uns von früher Jugend an bis zum Eintritt in die Militärakademie immer abends.“