Читать книгу Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde - Natalka Sniadanko - Страница 17
Lussin
ОглавлениеJedes Jahr zu Frühlingsbeginn übersiedelten die Habsburger von Saybusch in ihre Villa auf der Insel Lussin. Das Packen für den Sommeraufenthalt dauerte einige Wochen. Dann fuhr ein Sonderzug in den Saybuscher Bahnhof ein, der rote Teppich wurde ausgerollt, die Diener in Paradelivreen bildeten ein Spalier und verabschiedeten die Familie des Erzherzogs feierlich. Bei der Ankunft in Wien wurden sie noch festlicher empfangen. Viele einfache Leute und auch Aristokraten kamen, um die Ankunft des Erzherzogs mitzuverfolgen – die Straßen rund um den Bahnhof waren voll von Kutschen. Und danach sprach man noch tagelang darüber, wie Maria Theresia ausgesehen habe und wie groß die Kinder geworden seien.
Vor der Weiterfahrt verbrachte die Familie ein paar Tage in ihrem Palais in der Wiedner Hauptstraße. Maria Theresia besuchte mit den Kindern verschiedene Museen, begleitet vom Lehrer für Malerei, bei dem auch sie selbst ihr Leben lang Unterricht nahm. Er war ein hervorragender Kenner der italienischen Malerei und konnte die einzelnen Kunstwerke sehr spannend erklären. Als die Kinder etwas älter waren, durften sie ihr Nachmittagsprogramm selbst wählen: mit der Mutter malen oder mit dem Vater fotografieren. Wilhelm fand Gefallen an der Fotografie. Sie zählte zu den wenigen Dingen, die sein unstetes Naturell lange an einem Ort fesseln konnten. Stundenlang stand er über Negative gebeugt in der Dunkelkammer, und einmal im Monat richtete er für das Hauspersonal eine Fotoausstellung aus. Die Begeisterung fürs Fotografieren begleitete Wilhelm sein ganzes Leben lang. Einige von Wilhelms Bildern aus seiner Lemberger Zeit sollte seine Enkelin Halyna später sogar in ihrem Atelier aufhängen.
Von Wien ging es mit dem Zug weiter durch die malerische Steiermark und die Alpen nach Triest. Dort wurden sie von einer Yacht erwartet, die sie zur Insel Lussin im Adriatischen Meer brachte. Die Yacht legte oft an, und die Passagiere gingen an Land, um die idyllischen Inseln und winzigen Städte zu bestaunen, in denen zahlreiche Bauwerke aus römischer Zeit erhalten geblieben waren. An der Adriaküste befand sich der wichtigste Kriegshafen der Habsburger, die antike Stadt Pola2 mit ihrem atemberaubenden Amphitheater. Willy stellte sich gerne vor, wie sich hier fünfzehntausend Zuseher versammelten und das blutige Spektakel gebannt verfolgten. Auch in Pola besaß die Familie des Erzherzogs eine Villa. Hier hatte sie logiert, bevor die Villa auf der Insel Lussin fertiggestellt worden war.
Die beiden Hauptorte auf Lussin hießen Lussinpiccolo und Lussingrande. In Lussinpiccolo gab es einen Naturhafen, einen malerischen Hauptplatz, Reihen von Privathäusern, eine Kirche, einige Kapellen, ein kleines Café und ein gemütliches Hotel mit herrlichem Garten, in dem Palmen und Zypressen wuchsen. Bei Lussingrande an den Hängen des Monte San Giovanni ließ Karl Stephan seine Villa Podjavori aus weißem Stein errichten.
Die Bevölkerung bestand größtenteils aus Italienern, doch reisten zu jeder Jahreszeit, sogar zwischen November und April, die reichsten Österreicher hierher, denn der Ort war berühmt für sein Klima. Hier gingen alle zu Fuß und atmeten Meeresluft, entlang der Strandpromenade gab es keine Straße für Kutschen oder Automobile. Das Leben erschien einfach und wunderbar, genauso behielt Wilhelm diesen Ort in Erinnerung. Karl Stephan und Maria Theresia nahmen aktiv am Leben der Inselbewohner teil. Alle wohltätigen Veranstaltungen fanden unter ihrem Patronat statt. Konnten der Erzherzog und die Erzherzogin nicht persönlich erscheinen, schickten sie jemanden von den Hofleuten, am häufigsten Graf Chorinsky.
Die Villa Podjavori wurde als kleine Festung über dem Meer errichtet. Von den Fenstern des langen zweistöckigen Gebäudes hatte man einen herrlichen Blick auf die blaue Adria, verschneite Alpengipfel und unzählige kleine Inseln. Treppen aus grauem Marmor, lange Gänge, Terrassen voller Blumen, das Interieur im Kolonialstil … Der riesige, direkt an den Hängen des Monte San Giovanni angelegte Garten erschien Willy immer geheimnisvoll. Hier konnte man völlig überraschend auf eine efeubewachsene Altane stoßen, auf Rosensträucher oder einen grauen kahlen Felsen, der wie eine Kirchturmspitze in die Luft ragte und sich in unerreichbarer Höhe, irgendwo zwischen Himmel und Meer, vom umliegenden Grün abhob. Hier wuchsen Oliven-, Zitronen- und Orangenbäume, Palmen und Kamelien, und es wimmelte von Insekten und faulen Schlangen, die unter den Büschen hervorkrochen, um sich in der Sonne zu wärmen.
Wie alle Kinder waren auch die Kinder des Erzherzogs manchmal ungezogen. Meist wurden sie hart dafür bestraft, besonders wenn der Vater von ihrem Vergehen erfuhr. In diesem Wissen verheimlichten die Lehrer und Gouvernanten die Dummheiten der Kinder manchmal vor den Eltern, was zum Glück einen viel größeren Lerneffekt hatte als jede Strafe.
Einmal zum Beispiel stellten Willy und Eleonora im Garten ihrem Zimmermädchen nach, das sich zum Wasserlassen hinter einen Busch gehockt hatte. Die Kinder wollten sie in einem unerwarteten Moment mit dem Schlauch des Gärtners anspritzen, bemerkten jedoch nicht, dass sich die englische Gouvernante Miss Ryan von hinten an sie heranschlich. Diese hatte die Kinder in ihrem Versteck gesehen, aber nicht den Gartenschlauch in ihrer Hand. Und so war am Ende Miss Ryan von Kopf bis Fuß durchnässt und die Kinder starr vor Schreck. Dafür würden sie eine saftige Strafe bekommen. Auch Miss Ryan erstarrte, denn sie müsste nun pitschnass in ihr Zimmer gehen und jedem, dem sie begegnete, von ihrem Abenteuer erzählen.
Graf Chorinsky, der die Szene vom Fenster aus beobachtet hatte, rettete alle, weil er die Situation sofort durchschaute und umgehend reagierte: Er lief in den Garten und gab Miss Ryan seinen Mantel, die Kinder schickte er mit einem Korb Rosen zum Gärtner. So war Miss Ryans Ruf gerettet, und Willy und Eleonora entkamen der Strafe.
Bald hatte Willy die Gelegenheit, sich zu revanchieren. Einige Tage später hielten sich Graf Chorinsky und Miss Ryan länger als geplant bei einem Bankett in der Nachbarvilla auf und kamen erst gegen Morgen nach Hause. Der Graf begleitete Miss Ryan zur Tür ihres Wohntraktes und wollte sich schon verabschieden, als sich herausstellte, dass die Gouvernante ihren Schlüssel verloren hatte. Die Situation war ausweglos. Der Graf konnte die junge Dame nicht in seine Suite einladen, denn das würde ihre Reputation ruinieren, doch konnte er sie auch nicht mitten in der Nacht alleine im Freien stehen lassen. Würde man sie jedoch am Morgen gemeinsam im Freien antreffen, wäre Miss Ryans Ansehen ebenfalls in Gefahr. Willy, der immer einen sehr leichten Schlaf hatte, wachte auf und schaute aus dem Fenster. Als er die beiden sah und ihr Gespräch mitanhörte, lief er sofort zur Tür und öffnete Miss Ryan. Die Tür zu ihrem Zimmer hatte Miss Ryan zum Glück nicht abgesperrt.
Auf der Insel führte die Familie ein Leben ohne Zeremonien und Formalitäten. Oft traf man eines der Familienmitglieder im Garten, bei einem Spaziergang in den Hügeln oder einfach im Kaffeehaus, ohne Wachen und sogar ohne Begleitung. Die Einheimischen hatten sich längst daran gewöhnt und grüßten die Mitglieder der erzherzoglichen Familie freundlich. Die Sommerfrischler hingegen waren überrascht und unterhielten sich aufgeregt über das Gesehene, wovon die Bewohner der Villa Podjavori sich jedoch nicht aus der Ruhe bringen ließen: Sie spielten Tennis, schwammen im Meer, unternahmen Fahrten mit ihrer Yacht, kümmerten sich um Garten und Gemüsebeete. Jedes Kind des Erzherzogs hatte im Garten sein eigenes Beet, für das es verantwortlich war. Die achtzehn italienischen Gärtner, die sich um den Garten kümmerten, waren gerne bereit zu helfen, doch die Kinder wussten Bescheid und werkten mit Freude auf ihren Beeten. Wenn Wilhelm Halyna davon erzählte, lebte er stets auf und wandte sich mit seiner immer wiederkehrenden Frage an Großmutter Sofia:
„Was meinst du? Sollen wir uns nicht ein Stückchen Land kaufen, wie nennt man das heutzutage gleich noch mal … eine Datscha, und endlich mit dem Gärtnern beginnen?“
Die Großmutter reagierte längst nicht mehr auf diese rhetorische Frage und auch Halyna war klar, dass Gartenarbeit nichts für den von Arthrose geplagten Wilhelm war. Selbst in die Karpaten begleitete er Sofia und Halyna nur selten, denn es fiel ihm schwer, weite Strecken zu Fuß zurückzulegen. Doch einen Streit zu diesem Thema zu beginnen, war gefährlich: Wilhelm glaubte fest daran, dass er eines Tages eine herrliche Datscha mit riesigem Garten besitzen würde. Und dass er irgendwann einen dicken Wälzer über sein Leben schreiben würde, nicht bloß eine kurze Autobiografie.
Die religiösen Feiertage und Familienfeste folgten auf Lussin einer festen Ordnung. Als Erstes wurde Maria Theresias Geburtstag gefeiert. An diesem Tag trugen die Frauen ihre schönsten Kleider und die Männer ihre Paradeuniformen. Nach dem Frühgottesdienst gingen die Kinder mit weißen Glacéhandschuhen, hintereinander in einer Prozession, zum Boudoir der Erzherzogin, um ihr zu gratulieren. Jedes Kind küsste der Mutter die Hand, brachte einen Strauß Blumen vom eigenen Beet und ein selbstgemachtes Geschenk und sagte einige Gedichte in verschiedenen Sprachen auf. Dann gratulierten die Erwachsenen: mit einer tiefen Verbeugung, einem Handkuss, Blumen, Glückwünschen und Geschenken. Zu Mittag gab es ein Festmahl, später ein Abendessen und danach Tanz und Musik.
Stephan fuhr an seinem Geburtstag gewöhnlich mit der Yacht aufs Meer hinaus. Ohne Familie. Die Kinder mussten ihm derweil lange Briefe mit Glückwünschen in verschiedenen Sprachen schreiben. Er antwortete stets auf Englisch, das er in Wort und Schrift perfekt beherrschte. Das waren die letzten Reste der Hofetikette, an denen die Familie des Erzherzogs auch im Urlaub fern der Heimat festhielt.
Stephans ältester Sohn Karl Albrecht studierte im Sommer ebenso intensiv wie das restliche Jahr über. Ab sechs Uhr morgens hatte er den ganzen Tag lang eine Unterrichtsstunde nach der anderen, selbst bei größter Hitze in Anzug und mit weißen Handschuhen. Sogar die einander an Karl Albrechts Seite abwechselnden Lehrer unterhielten sich manchmal darüber, wie schwer es der älteste Sohn des Erzherzogs habe.