Читать книгу Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde - Natalka Sniadanko - Страница 21
2008
ОглавлениеHalyna schaute aus dem Fenster und sah hübsch gekleidete Erstklässler, die am letzten Schultag Blumensträuße in die Schule trugen. Die gigantischen Schleifen im Haar der Mädchen wippten bei jedem Schritt. Mütter zerrten ihre Kinder hinter sich her und stolperten dabei auf dem unebenen Asphalt dahin. Sie wollten sich nicht verspäten, aber ebenso wenig mit den Absätzen ihrer Stöckelschuhe in Löcher oder Hundeexkremente treten. Oles war alleine zur Schule gelaufen, ohne Mutter und ohne Blumen, in einer ungebügelten Jeans. In der fünften Klasse war der letzte Schultag längst nichts Besonderes mehr. Halyna blickte sich um. Auf dem Boden lag ein offener Koffer, darin unordentlich hineingeworfen: Bademantel, Pullover, Unterwäsche, ein paar Jeans. Oles und Halyna flogen nach Wien. Sie hatte vier Stunden, um einzupacken, mit Oles zu Mittag zu essen und in das für vierzehn Uhr bestellte Taxi zum Flughafen zu steigen.
In Wien wollte Halyna sich mit dem Besitzer einer Kaffeehauskette treffen, der die Ausstattung ihrer Lemberger Cafés gesehen hatte und ein Design bei ihr in Auftrag geben wollte. Eigentlich war geplant gewesen, gemeinsam nach Wien zu fahren, aber sie hatten keinen Termin gefunden, und so fuhren sie ohne Hryz.
Halyna warf einen Blick auf ihr Telefon und erinnerte sich daran, dass sie sich vor der Abfahrt bei Hryz melden sollte.
Am Morgen hatte er sie gebeten:
„Ruf mich vor dem Abflug auf jeden Fall an. Damit ich mir keine Sorgen mache, hörst du?“
Bei dem Gedanken an das Telefonat wurde sie wütend. Sie hasste diese sinnentleerten Gespräche:
„Hallo, ich bin’s.“
„Wie geht’s dir? Hast du schon gepackt?“
„Bin gerade dabei. Alles bestens.“
„Wunderbar. Gute Reise! Melde dich, wenn ihr dort seid!“
Nach der Ankunft in Wien würde sie noch so ein Gespräch führen müssen, bei dem sie ihrem Mann mitteilen würde, dass sie gut angekommen seien, doch ohne Details, wie eine elektrische Anzeigetafel am Flughafen. Und würde sie statt „Alles okay“ sagen: „Ja, wir sind da, und weißt du, wen wir im Flugzeug getroffen haben?“, würde Hryz schon seufzen und betont geduldig sagen: „Sag schon, aber schnell. Ich arbeite.“ Und diese vorgetäuschte, regelrecht aus dem Hörer tropfende Geduld raubte ihr jeden Wunsch weiterzuerzählen. Sie spürte sofort, wie unwichtig und zweitrangig all das war, worum sie sich hier kümmerte, während er dort „arbeitete“. Und selbst wenn er versprach, zurückzurufen, und später tatsächlich das Telefon klingelte, hörte sie bereits beim zweiten Satz, der über die Standardfloskeln hinausging, dasselbe vorwurfsvolle „Ich arbeite“.
So liefen ihre Telefongespräche mit der Zeit im Telegrammstil ab. Halyna bemühte sich, Hryz nicht mehr zu stören, doch dann rief er selbst an, was noch schlimmer war, denn er begann mit den Worten:
„Hallo, wie geht es dir? Alles okay?“
„Ja.“
„Dann lass uns am Abend reden. Ich arbeite.“
Halyna verstand nicht, wieso man jemanden anrief, wenn man keine Zeit hatte, mit ihm zu sprechen. Und Hryz verstand nicht, wieso man Einzelheiten über etwas austauschen sollte, das schon vergangen war. Sein Lass-uns-am-Abend-Reden bedeutete normalerweise, dass er Halynas Erzählungen geduldig lauschte und währenddessen seinen eigenen Gedanken nachhing. Wenn sie fragte, wie sein Tag gewesen war, antwortete er knapp: „Alles okay.“ Nur wenn Halyna weiter nachfragte, fügte er unwillig ein paar Sätze hinzu: „Ich hab mich mit Lizenzproblemen herumgeschlagen“, „Ich habe ein paar Kellner gefeuert, sie haben getrunken und dann die Gäste angepöbelt“, „Ich habe einen neuen Barkeeper angestellt, weil der alte falsch abgerechnet hat“.
Manchmal versuchte sie ihm zu erklären, dass sein Verhalten den Anschein erwecke, als spreche er nur um des Abhakens willen mit ihr. Dabei ließ er sie spüren, wie belastend und uninteressant das Gespräch für ihn war. Er wollte die Kommunikation auf ein Minimum beschränken, besser gesagt auf die Tatsache, dass eine Kommunikation stattgefunden hatte. Er hatte angerufen, das hieß, er kümmerte sich. Doch wenn man sich wirklich kümmert, ruft man nicht an, um Informationen auszutauschen, sondern um herauszufinden, was der dir wichtigste Mensch in diesem konkreten Augenblick tut, worüber er nachdenkt, was er fühlt. Nicht, weil er etwas Wichtiges tut, denkt oder fühlt, sondern weil dich die kleinsten Details aus seinem Leben interessieren und du ihm immer gern Zeit schenkst, denn du willst ihn stärken und aufrichten und ihm nicht nur ein distanziertes „Mach dir keine Sorgen, alles wird gut“ hinwerfen, oder noch übler: „Reg dich nicht auf, es gibt Schlimmeres“. Halyna versuchte zu erklären, dass sich alles in ihr zusammenzog, wenn sie solche sinnentleerten Floskeln hörte, dass sie sich ins hinterste Eck verkriechen und lange nicht herauskommen wollte.
Hryz antwortete normalerweise, dass sie alles falsch verstehe und übertreibe, dass er ihr immer gerne zuhöre und immer wissen wolle, was bei ihr los sei, in jedem Augenblick ihres Lebens, und selbst erzähle er ihr alles, nur gebe es wirklich wichtige Dinge und es gebe Kleinigkeiten, über die zu reden es sich nicht lohne. Na ja, Frauen würden vielleicht darüber reden. „Frauen dürfen das.“ Vielleicht dachte er, Halyna müsse dankbar sein, einen so geduldigen Mann zu haben, der sich sogar diesen Frauenkram anhörte. Aber anstelle von Dankbarkeit verspürte sie Kränkung und Ärger. Halyna wählte Hryz’ Nummer. Nachdem es ein paar Mal geklingelt hatte, hob er ab:
„Hallo, wie geht’s?“
„Hallo, alles okay. Und bei dir?“
„Auch. Hast du viel zu tun?“
„Du sagst es. Ist es etwas Dringendes? Wenn nicht, lass uns am Abend reden. Ich bin gerade sehr beschäftigt.“
„Gut“, meinte Halyna und legte auf.