Читать книгу Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde - Natalka Sniadanko - Страница 22

1915–1939

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Im Parterre von Doktor Stepan Lewynskyjs Haus befanden sich das Wartezimmer und der Behandlungsraum, im ersten Stock das Wohnzimmer, das Esszimmer, die Küche und das Arbeitszimmer des Vaters, im zweiten Stock das Kinderzimmer und Bronislawas Zimmer. Stepan Lewynskyj war ein bekannter HNO-Arzt und neben seiner privaten Ordination arbeitete er in dem von Andrej Scheptyzkyj gegründeten Spital, das auch „russinisches Spital“ genannt wurde. Das russinische Spital wurde von den Menschen sehr geschätzt. Je länger es existierte, desto mehr Leute warteten täglich vor den Behandlungsräumen der Ärzte. Blasse, ausgezehrte Frauen reisten mit ihren Säuglingen auf Fuhrwerken aus weit entfernten Dörfern an, die Armen der Stadt kamen – im Spital wurde niemand abgewiesen, allen wurde geholfen.

„Vater zog sich nach der Arbeit für ein paar Stunden in sein Arbeitszimmer zurück und bat, nicht gestört zu werden“, erzählte Großmutter Sofia. „Wenn zu dieser Zeit im anderen Zimmer beharrlich das Telefon klingelte, zog er den Kopf ein und wäre am liebsten unter den Tisch gekrochen, in der Hoffnung, es wäre nicht für ihn. Doch einen Moment später stand die unerbittliche Bronislawa in der Tür: ‚Der Herr Doktor wird verlangt. Vom russinischen Spital.‘ Und der Vater hätte ein schlechtes Gewissen gehabt, wäre er nicht ans Telefon gegangen oder hätte er vorgegeben, nicht zu Hause zu sein. Deshalb schätzten ihn die Menschen so. Die Straßenbahnschaffner kündigten die Station beim Spital sogar mit ‚Heiliger Jura! Lewynskyj‘ an.“

Als Kind verbrachte Sofia die Sommerferien manchmal bei ihren Großeltern im Dorf. Der Großvater, ein Ukrainer, war griechisch-katholischer Priester, Großmutter Genia war deutscher Abstammung. Von ihren dreizehn Kindern starben acht im Säuglingsalter. Das Pfarrhaus hatte sechs Zimmer (die Pfarrkanzlei des Großvaters befand sich im hintersten, kleinsten Zimmer), außerdem eine große Küche mit Ofen, einen Vorraum, ein Vorhaus und eine verglaste Veranda. Im Esszimmer stand ein großer, runder, ausziehbarer Tisch mit sechs Tischbeinen, in dem Sofia ein auf dem Kopf stehendes Schiff sah. An der Wand stand eine hohe Kredenz mit Marmorplatte, auf einen speziellen, runden, niedrigen Tisch stellte man den Samowar, und an der Wand hing eine große Uhr mit Gewichten. Die Uhr schlug jede Stunde, tief und melodisch. Sofia durfte nicht einmal in die Nähe der Uhr gehen, ganz zu schweigen davon, sie zu berühren. Einmal in der Nacht zog sie trotzdem an den Gewichten und entkam nur mit Mühe der Großmutter, deren feine Ohren im Schlaf die kindlichen Schritte vernommen hatten.

Im Salon standen ein Klavier, ein Tisch, ein Sofa, Polstersessel und Stühle, mit goldgelbem Metall verziert und mit einer ebenso goldfarbenen Bespannung, ein Sekretär mit zahlreichen Lädchen, darauf eine Uhr. Auf dem Boden lag ein weicher Teppich – damals „Diwan“ genannt – mit rot-grauen Ornamenten, die Kinder liebten es, darauf zu spielen.

Vom Esszimmer kam man auf die Veranda, die auf eine hohe Pappelallee hinausging. Am Ende dieser Allee standen im Winter die Bienenstöcke in ihren Winterquartieren. Im Hof befanden sich ein Brunnen und die Wirtschaftsgebäude: Stall, Scheune, Dreschhaus, Hühnerstall und der Schuppen für die Pferdewagen. Aus einem kleinen Wasserloch hinter dem Stall hörte man oft das Quaken der Frösche.

Es war langweilig, am Land zu Hause herumzusitzen, deshalb trieb sich Sofia ganze Tage lang im Hof herum oder spielte auf der Straße mit den anderen Kindern. Unweit des Hauses wuschen die Frauen in einem seichten Bach die Wäsche. Als Kind fuhr Sofia gerne mit den Fingern über die abgeriebenen Rippen der Waschbretter und half der Großmutter beim Aufhängen der Wäsche auf den zwischen den Ästen der Bäume gespannten Wäscheleinen. Sie liebte den Geruch des Windes, der sich in der frisch gewaschenen Wäsche verfing. Doch am meisten liebte sie es, ein frisch gewaschenes Laken über das eben zur Scheune gebrachte Heu zu werfen, sich daraufzulegen und den frischen, würzigen Geruch einzuatmen. Dabei riskierte sie jedoch einen Klaps von der Großmutter.

Einmal nahmen die Dorfmädchen Sofia mit zur Heuernte. Sie beobachtete, wie die Mädchen das Heu geschickt zu Bündeln zusammenrafften und verschnürten, dann fuhren sie auf dem über und über mit Heu beladenen Wagen nach Hause. Vor dem Hof bremste der Wagen scharf, und Sofia fiel hinunter. Zum Glück passierte nichts, nur ein großer blauer Fleck zierte noch ein paar Wochen lang ihren Ellenbogen.

Sofia beobachtete gerne, wie die gespannte Kette des mit einem Holzdach bedeckten Brunnens die vollen Eimer quietschend nach oben zog, wie die Wassertropfen spritzten und sich die Sonne in den Farben des Regenbogens darin spiegelte, wie gerade Großmutter Genia sich hielt, wenn sie die vollen Wassereimer zur Sommerküche trug.

Im Garten wuchsen Apfelbäume, Kaiserbirnen und Pflaumen, doch am liebsten hatte Sofia die großen, saftigen Kirschen. Das Pfarrhaus befand sich nicht weit von der Kirche, doch die Dorfstraße machte dort einen kleinen Bogen, und so hatte man einen schmalen Weg durch den Obstgarten ausgetreten, der durch ein Tor genau auf den Kirchenvorplatz führte. Sofia nahm den Pfad durch den Obstgarten am liebsten, wenn sie beim Gehen geschwind eine Birne oder einen Apfel oder ein paar Stachelbeeren pflücken konnte. Im Vorgarten hatte die Großmutter Phlox gepflanzt, den sie oft in einer Vase auf den Mittagstisch stellte.

Als Kind liebte Sofia den ausladenden Nussbaum, dessen Blätter bitter rochen, wenn man sie zwischen den Fingern zerrieb. Sie mochte es, wenn die ersten Nüsse, deren grüne Schale noch schwer abzulösen war, vom Baum fielen. Noch schwieriger war es, die harte, feuchte Nuss zu öffnen. Und danach musste man geduldig die gelbliche Haut vom knackigen, weißen Inneren abziehen, das im Herbst, wenn es trocken war, viel bitterer und lange nicht so zart und saftig schmeckte wie im Sommer.

Mitten im Hof stand eine riesige, breite, alte Linde. Wenn sie blühte, kroch ihr Geruch in die entlegensten Winkel. Er begleitete Sofia bis nach Lemberg, versteckte sich in ihren Sachen und machte sich als trockene Blüte, die aus einem zusammengelegten Rock fiel, überraschend wieder bemerkbar. Die Kinder sammelten die Lindenblüten und legten sie auf Großmutters Webteppichen am Dachboden zum Trocknen auf. Später nahmen sie die Blüten in Stoffbeutelchen, die aus irgendeinem Grund immer rot waren, mit nach Lemberg.

Neben die Blumenbeete, in denen im Sommer Dahlien, Levkojen, Astern und exotische Blumen blühten, deren Samen sie in Warschau bestellten, schüttete man den Kindern zum Spielen einen Haufen Sand. Manchmal gingen alle zusammen an eine seichte Stelle des Flusses, wo das Wasser „den Fröschen bis zu den Augen reichte“, wie die Großmutter sagte.

„Einmal ging der Großvater mit mir und meinen beiden siebenjährigen Cousinen wandern“, erzählte Großmutter Sofia Halyna. „Der Berg erhob sich gleich hinter dem Pfarrhaus, die Wanderung dauerte nur einen Tag. Wir übernachteten nicht in den Bergen, trotzdem blieb mir dieser Tag aus irgendeinem Grund sehr gut in Erinnerung. Vielleicht weil ich zum ersten Mal so weit zu Fuß unterwegs war. Der Großvater schnitt uns Haselzweige ab, die am Ende wie zu einem Griff gebogen waren, und während wir rasteten, ritzten wir mit den Fingern Bilder darin ein. Im Wald kamen wir an einer unheimlichen Schlucht vorbei, tief und dunkel konnte man ihren Grund nicht sehen, von unten wehte uns eine geheimnisvolle, schaurige Kühle entgegen. Es war, als würden im nächsten Moment böse Geister aus der Schlucht auftauchen, und wir bekamen Angst. Großvater brachte uns bei, so zu wandern, dass wir lange nicht müde wurden. Man musste die Beine richtig abbiegen und durfte auf keinen Fall beim Gehen Wasser trinken. Nur wenn man rastete. Der Großvater zeigte uns die Heuwiesen, auf die kein Vieh getrieben wurde, und die Almen, auf denen die Schafe weideten. Er lehrte uns, essbare von giftigen Pilzen zu unterscheiden. Zeigte uns, wie die Berge rauchten, wenn sich der Nebel über sie legte, und erklärte, wie man so das Wetter vorhersagen konnte: Bleiben nach Sonnenuntergang dichte Nebel, wird’s andres Wetter geben; siehst du Nebel auf Seen, kannst du auf Schönwetter bauen; Nebel, wenn er steigend sich verhält, bringt Regen, doch klar Wetter, wenn er fällt. Und vieles mehr. Auf dem Heimweg sangen wir immer wieder eine huzulische Kolomyjka:

Oj, ihr, Berge, Berge,

Gesund sollt ihr bleiben,

Dass Adler und Falken

Gerne hier halten!

Zwischen dem Pfarrhaus und dem Obstgarten, der sich bis zur Kirchenmauer erstreckte, befanden sich von Wegen durchzogene Blumenbeete, um die sich die Großmutter sorgfältig kümmerte. Zu Weihnachten wurde die in die Mitte der Beete gepflanzte Silbertanne geschmückt. Sofia brachte aus Lemberg stets in Silberpapier gewickelte Nüsse und Pralinen mit, die sie während ihres Aufenthalts bei der Großmutter selbst verspeiste. Im Winter waren die Besuche bei den Großeltern kurz, denn der Vater konnte sich in der Erkältungssaison nur für wenige Tage freimachen. Sie besuchten die Großmutter immer zum katholischen Weihnachtsfest. An diesen Tagen musste der Großvater, der Priester war, keine Messe in der griechisch-katholischen Kirche im Dorf lesen, und Großmutter Genia, die Katholikin geblieben war, betrachtete diese Feiertage als Rückkehr in ihre deutsche Kindheit. An diesem Tag sprach sie mit allen Deutsch, obwohl nur ihre Tochter, Sofias Mutter, sie verstand. Das orthodoxe Weihnachtsfest feierte Sofias Familie dann in Lemberg.

Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde

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