Читать книгу Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde - Natalka Sniadanko - Страница 26
1950–2000
ОглавлениеTaras war ein braver Junge gewesen. Sein blondes Haar, seine wasserblauen Augen und seine mollige Figur ließen ihn wie einen Engel aussehen. Als er älter wurde, schoss er in die Höhe und verlor die überflüssigen Rundungen, ersetzte sie jedoch nicht durch Muskeln. Er ging stets etwas gebeugt und zog sein kleines Bäuchlein ein. Sein Blick – wach und durchdringend – blieb unverändert, es schien, als interessierte ihn nichts so sehr wie das eben von seinem Gegenüber Gesagte. Bei diesem Blick und dem charmanten Lächeln wurde jede Lehrerin schwach. Wenn Taras mit einem schlampig geführten Heft oder einer halbfertigen Klassenarbeit zur Lehrerin ging, musste er sie nur anlächeln und ihr aufmerksam in die Augen schauen, und schon war sie bereit, ihm jede Frage zu beantworten und ihm noch dazu eine deutlich bessere Note zu geben, als er verdiente.
Taras lernte schnell, den Charme seines Äußeren auch abseits der Schule einzusetzen. Die neidischen Mitschüler, die es weit mehr Anstrengung kostete, gute Noten und die Sympathie der Klassenkollegen zu bekommen, veranstalteten geheime Treffen, bei denen sie besprachen, wie man dem unverschämten Glückspilz eine Lehre erteilen könnte. Während Taras in der Grundschule der Liebling aller war, der Spaßvogel, der die Lehrerin unbestraft veräppeln konnte und so die ganze Klasse unterhielt, zog diese Nummer in der weiterführenden Schule nicht mehr. Nun musste er wählen, wessen Gunst er erringen wollte: jene der Lehrer oder seiner Mitschüler. Und hier begannen Taras’ Probleme.
Einmal auf dem Heimweg von der Schule schlenderte er pfeifend dahin. Ein paar Tage zuvor war der erste Schnee gefallen, und als Taras so dahinstapfte, hatte er das Gefühl, als schritte er über ein frisch gewaschenes weißes Laken. Es war ein beinahe verbotenes, beklemmendes Gefühl. Er kniff beim Gehen die Augen zusammen, denn der glänzend weiße Schnee blendete ihn. Plötzlich traf ihn etwas von hinten am Bein, er schwankte, stürzte aber nicht, bis er ein zweites Mal getroffen wurde. Er fiel hin und sah über sich hinter Schals versteckte Gesichter, besser gesagt sah er nur die Augen. Sie schlugen ihn nicht, sondern rieben ihn wortlos und konzentriert mit kaltem, stechendem Schnee ein. Es tat nicht sehr weh, war aber schrecklich erniedrigend. Besonders beschämend war ihr wortloses Einvernehmen.
„Jungs, wofür?“, fragte Taras und versuchte zu erkennen, wer sich hinter den einheitlich grauen Schals und den ins Gesicht gezogenen Mützen versteckte.
Sie antworteten nicht und rieben ihn weiter mit Schnee ein. Die ersten kalten Tropfen bahnten sich ihren Weg über Taras’ Rücken, sein Gesicht brannte. All das dauerte nur wenige Minuten, danach liefen die Jungen in verschiedene Richtungen davon. Taras stand langsam auf, klopfte den Schnee von seiner Kleidung und ging nach Hause.
Ein paar Tage später fand er einen verfaulten Apfel in seinem Schulranzen, danach eine tote Ratte.
In den Gesichtern der Klassenkameraden, die sich in jenen Tagen betont zurückhaltend zeigten, las er eine stumme Frage. Nun musste er sich entscheiden: Wollte er auf ihrer Seite stehen oder auf der Seite der Lehrerinnen?
Als sie ihn zum zweiten Mal nach der Schule abpassten und diesmal nicht nur mit Schnee einrieben, sondern auch all seine Hefte in den Schnee warfen, sodass sie unbrauchbar wurden, trottete er nach Hause und wischte sich das Blut von der Nase. Er hatte Tränen in den Augen. Zu Hause war nur Wilhelm. Der sah den Sohn und sagte:
„Komm, trinken wir gemeinsam Tee.“
Bei Tisch schwieg Taras lange. Dann fragte Wilhelm ihn knapp:
„Haben sie dich verprügelt?“
Da erzählte Taras ihm schluchzend von seinen Problemen. Davon, dass er keine Ahnung habe, wieso die Jungs plötzlich nicht mehr mit ihm befreundet waren und ihm nach der Schule auflauerten. Von den Lehrerinnen, die ihn behandelten, als wäre er ein Musterschüler, obwohl er keiner war. Davon, dass er nicht wusste, auf wen er hören sollte: auf seine Klassenkameraden, die ihn erst wieder respektieren würden, wenn er genauso schlechte Noten hätte wie sie, oder auf die Mutter, die täglich seine Hausaufgaben kontrollierte und stundenlang mit ihm lernte. Er hatte gar keine Chance, etwas nicht zu können, selbst wenn er wollte. Die Mutter predigte ihm, dass er es ohne Bildung im Leben zu nichts bringen würde, und die Jungen, deren Mütter den ganzen Tag arbeiteten, lachten ihn aus und zogen ihn damit auf, dass er nicht mit ihnen Spatzen abschießen oder auf dem Sportplatz der Schule Fußball spielen konnte.
„Du wirst nie ein Anführer, wenn du tust, wozu man dich zwingt. Du musst sie dazu bringen zu respektieren, was du tust“, sagte Wilhelm.
Plötzlich realisierte Taras, dass dies der einzige Ausweg aus der Situation war. Denn er wollte gar keiner dieser grauen Durchschnittsschüler sein. Außerdem mochte er es zu lernen, er spürte gerne die intellektuelle Überlegenheit gegenüber den anderen Jungen.
„Wenn sie zu dir aufschauen sollen, musst du ihnen zeigen, dass du der Stärkere bist. Es selbst zu wissen ist zu wenig“, sagte Wilhelm.
Taras verstand. Intellektuelle Überlegenheit alleine reichte nicht, er brauchte Muskelkraft und Selbstbewusstsein, er musste überzeugen und rechtzeitig die richtigen Worte finden.
Kurz darauf kaufte Wilhelm seinem Sohn die ersten Hanteln und brachte ihm Übungen bei, die seine Haltung verbessern und seine Muskeln trainieren würden. Nur wenige Monate später, als die Klassenkameraden Taras wieder attackierten, verteidigte er sich so beherzt, dass er einem der Angreifer beim ersten Schlag die Nase brach. Die anderen liefen davon.
In der darauffolgenden Nacht machte er kein Auge zu, weil er fürchtete, der Junge mit der gebrochenen Nase würde sich bei der Klassenlehrerin über ihn beschweren, und die wiederum würde seine Mutter vorladen. Die Folgen wollte sich Taras besser nicht ausmalen. Nicht einmal Wilhelm erzählte er, was geschehen war. Auf unsicheren Beinen ging er am nächsten Tag zur Schule. Und war höchst erstaunt, wie verändert sich die anderen ihm gegenüber plötzlich verhielten. Kaum hatte er die Klasse betreten, kamen ein paar Jungen auf ihn zugelaufen und begrüßten ihn. Jeder von ihnen wollte, dass sich Taras neben ihn setzte – bisher war er immer alleine gesessen, denn die Jungen und unter dem Druck der Klassenkameraden auch die Mädchen hatten sich bei den Lehrern beschwert, dass er sie störe. Taras konnte diese überraschende Wendung kaum fassen. Selbst der Mitschüler mit der gebrochenen Nase kam nach seiner Genesung auf Taras zu und wollte mit ihm Fußball spielen. Erst dann erzählte Taras Wilhelm von den Ereignissen.
„Ganz richtig“, reagierte Wilhelm wie immer lakonisch. „Und jetzt versuch mir zu erklären, wovor du dich früher gefürchtet hast.“
„Dass sie es Mama erzählen“, sagte Taras unsicher.
„Und?“, fragte Wilhelm.
„Sie wird böse.“
„Und?“
„Wird weinen.“
„Und?“
„Ich bekomme eine schlechte Betragensnote.“
„Und was ist daran so schlimm? Tut das genauso weh wie Prügel? Ist es schlimmer, als von der ganzen Klasse gehasst zu werden? Bist du früher nie wegen deines Verhaltens ermahnt worden? Hat deine Mutter nie geweint, weil du ihr Kummer bereitet hast?“
Da wurde Taras klar, dass er Angst vor einer Vorstellung gehabt hatte und dass seine echten Probleme viel schwerwiegender waren. Erst als er seine Angst überwand, konnte er seine Probleme lösen.
Als Kind hatte Taras viel Zeit in der Gesellschaft von Erwachsenen verbracht, er begriff früh, dass Menschen leicht zu manipulieren waren, besonders naive Gleichaltrige. Wenn er beispielsweise die ganze Klasse gegen einen Einzigen aufhetzen wollte, fiel ihm das leicht. Noch leichter war es, die Mitschüler und Mitschülerinnen oder sogar die Lehrer davon zu überzeugen, dass er recht hatte. Selbst wenn er sich auf eine Stunde nicht vorbereitet hatte und zur Tafel gerufen wurde, schaffte er es, sein Allgemeinwissen und sein gutes Niveau so geschickt zu demonstrieren, dass die Lehrer oft ein Auge zudrückten und ihm – obwohl er den konkreten Stoff überhaupt nicht beherrschte – bessere Noten gaben, als er verdiente. Erwachsene zu manipulieren war schwieriger, und das Aneignen dieser Kunst ließ Taras vorzeitig erwachsen werden. In Wahrheit lernte er nur, Reife und Erfahrung zu imitieren, und hob sich so von den Gleichaltrigen ab.
Er schloss die Schule erfolgreich ab und wechselte auf Drängen der Mutter in die Technische Hochschule. Taras hatte keine besondere technische Neigung, er war eher humanistisch veranlagt, doch auch die humanistischen Fächer interessierten ihn nur bedingt, und die Technische Hochschule hatte den Ruf, bessere Zukunftsperspektiven zu ermöglichen. An der Universität gab er sich mit Lappalien wie Vorlesungen oder Lernen nicht mehr ab. Er kaufte sich alle Noten. Die gewonnene Zeit investierte er ins Geldverdienen, indem er Wilhelm in verschiedenen Angelegenheiten half.