Читать книгу Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde - Natalka Sniadanko - Страница 4
1907
ОглавлениеAus einer alten Zeitung, die Halyna in der Truhe mit den Sachen ihrer Großmutter gefunden hatte, erfuhr sie vom Lokführer Felix Pfeiffer aus Bohdaniwka. Die Großmutter hatte aus der Zeitung ein Schnittmuster gemacht. Darauf stand geschrieben, dass Felix Pfeiffer am 22. November von seiner Frau verlassen worden war, genau an ihrem zweiundzwanzigsten Geburtstag. Der Lokführer nahm sich vor, sie mit einer Zeitungsannonce und mithilfe der Polizei suchen zu lassen. Felix’ Frau Bronislawa wurde als mittelgroß, mit braunem Haar und einer Warze im Gesicht beschrieben. Sie trug bei ihrem Verschwinden ein cremefarbenes Kleid und einen weißen Hut. Halyna sah diesen zornigen, vielleicht aber auch verstörten jungen Mann sofort vor sich und hielt sein Bild auf einem Blatt Papier fest. In ihrer Vorstellung hatte er leicht gelocktes, sorgfältig pomadisiertes Haar, schmale Lippen, braune Augen, eine gerade römische Nase sowie Schnurr- und Backenbart, war hager mit leicht gekrümmter Haltung und äußerst auffälligen Händen, zu groß und kräftig für seine Statur mit wulstigen, schmal zulaufenden Fingern. Wahrscheinlich waren seine Hände stets schweißnass, und gab man ihm die Hand, hatte man nachher das Bedürfnis, sich abzuwischen.
Am Morgen des 22. November, dem zweiundzwanzigsten Geburtstag seiner wunderschönen Ehefrau, wachte besagter Felix Pfeiffer auf, holte sein Geschenk aus dem Versteck und stellte fest, dass seine Frau verschwunden war. Jedoch nicht spurlos: Auf dem Tischchen mit dem abgebrochenen Bein, das an ihrer Bettseite stand, lagen ein altes Korsett und ein Unterrock mit Brandloch. Bronislawa hatte damals das Bügeleisen nicht rechtzeitig vom Unterrock genommen, weil sich Felix unbemerkt von hinten an sie herangeschlichen hatte, um sie zu küssen. Als er ihren herrlichen Geruch wahrnahm, konnte er nicht anders, als unter dem Rock nach ihrem Schoß zu suchen und ihn zu berühren. Kaum spürte er ihre Feuchtigkeit, knöpfte er seine Hose auf, drückte seine Frau mit aller Kraft nach vorne und drang in sie ein. Bronislawa nahm die bekannte, trockene Härte in sich wahr und kippte ihr Becken nach hinten, damit es weniger schmerzte. Wie gelähmt beobachtete sie, wie unter dem Bügeleisen ein schwarzer Fleck entstand.
„Nimm das Eisen weg“, flüsterte ihr Felix keuchend von hinten ins Ohr. „Ich bin gleich so weit, ein bisschen noch“ – er fand ihre Brüste unter der Bluse und knetete sie fest in den Händen.
Da machte Bronislawa einen jähen Schritt nach vorne, das Bügeleisen fiel zu Boden, Felix’ Glied glitt aus ihr, er schwankte und blickte seine Frau verwundert an. Als Nächstes warf Bronislawa ihn zu Boden und setzte sich auf ihn. Sie legte seine Hände auf ihre Brüste und begann, sich in dem Rhythmus zu wiegen, den sie in ihrem Inneren verspürte, anstatt sich seinem Rhythmus anzupassen. Nach ein paar Minuten erfasste sie ein süßes Beben, sie stöhnte und stand auf. Felix blieb mit steifem Glied auf dem Boden liegen. Bronislawa kehrte zum Bügeleisen zurück. Einige Sekunden später spürte sie erneut Felix hinter sich, doch diesmal bewegte er sich vorsichtiger und streichelte derweil ihren Schoß. Gleichzeitig erreichten sie den Höhepunkt, zum ersten Mal in ihrem bisherigen Eheleben.
Felix mochte es, seine Frau in den unpassendsten Situationen zu lieben. Anfangs sträubte sie sich dagegen, denn ihr gefielen diese plötzlichen, schnellen und manchmal schmerzhaften Liebesspiele nicht. Sie spürte noch keinerlei Genuss, da hatte er seine Sache bereits erledigt, küsste sie auf den Hals und ging zufrieden pfeifend davon. Sie aber kochte innerlich vor Wut und ekelte sich vor seinem Sperma, das an ihren Oberschenkeln hinunterglitt. All das kam ihr nicht richtig vor, und von Zeit zu Zeit versuchte sie, es anders zu machen. Wenn sie abends ins Bett ging, entblößte sie ihre Brüste und schmiegte sich an ihren Mann, der von der Arbeit erschöpft nur unzufrieden brummte und sich zur anderen Seite drehte. Am nächsten Morgen jedoch, wenn Bronislawa noch schlief, drang er ohne Vorwarnung in sie ein und ein paar kurze Bewegungen später war alles schon wieder vorbei. Felix war stolz darauf, dass er seine Frau so oft liebte, und er konnte es kaum erwarten, dass sie endlich schwanger würde, ein Kind wäre der Beweis seiner Männlichkeit. Doch Bronislawa wollte nicht schwanger werden, zumindest nicht, solange sie nach dem Liebesspiel nur Enttäuschung und Ekel empfand. Außerdem wollte sie reisen, wollte Venedig, Paris, Wien, Ägypten, Indien und Persien sehen. Manchmal sprach sie mit Felix über das Reisen, doch er hatte eine völlig andere Vorstellung davon. Er freute sich über die Ermäßigung, die er bei Bahnfahrten bekam, und plante für Sonntag einen gemeinsamen Ausflug nach Brjuchowytschi, um dort im Wald spazieren zu gehen. Bronislawa dagegen wollte exotische, unbekannte Länder bereisen – lange, vielleicht für immer.
Am Morgen des 22. November 1907 wurde dem Lokführer Felix Pfeiffer mit einem Mal klar, dass er von seiner Frau verlassen worden war, obwohl es zu diesem Zeitpunkt noch keine echten Beweise dafür gab. Sie konnte ebenso gut noch in der Bäckerei sein oder in der Küche sein Frühstück zubereiten. Doch auch ohne Beweise war Felix überzeugt, dass er richtiglag.
Im ersten Moment war er fassungslos, doch dann versuchte er zur gewohnten Morgenroutine zurückzukehren: sich waschen, anziehen, frühstücken und aus dem Haus gehen. Doch das war schwieriger als vermutet. Der Lokführer irrte auf der Suche nach den einfachsten Dingen wie einem frischen Hemd, Kaffee, der Kaffeekanne, Butter, Zucker oder Streichhölzern durchs Haus. Normalerweise bereitete Bronislawa all das für ihn vor. Sie stand früher auf, deckte den Frühstückstisch und legte alles, was er für die Morgentoilette brauchte, ordentlich neben die Schüssel mit warmem Wasser. Nun aber stellte sich plötzlich heraus, dass das Brot hart geworden, die Butter ranzig, der Käse aufgegessen, der Kaffee ausgeraucht und die gesamte Wäsche hoffnungslos verdreckt war. Felix nahm die Kaffeekanne, schaute hinein und sah den hart gewordenen Kaffeesatz vom Vortag darin. Er ärgerte sich, dass Bronislawa die Kanne nicht gewaschen hatte. Er stellte sie auf den Tisch, von dem Krümel auf den Boden rieselten. Vom Fenster aus beobachtete er einige Sekunden lang einen Mann, der eilig über die Straße lief, dabei den Hut auf seinem Kopf festhielt und sich nach einer Britschka umblickte. Der Mann verschwand um die Ecke. Felix drehte sich zum Tisch, auf dem sich das schmutzige Geschirr türmte, und fegte mit einer entschlossenen Bewegung alles zu Boden. Er stieg über die Scherben, putzte seine vom Vortag schmutzige Kleidung ab und lief aus dem Haus. Zuerst schlugen seine Beine den gewohnten Weg ein: zum Bahnhof, wo er arbeitete. Doch kurz vor dem Bahnhofsgebäude drehte er plötzlich um und lief in die entgegengesetzte Richtung.
„Meine Verehrung, Herr Felix, guten Morgen!“, rief ihm der Straßenkehrer hinterher, der bereits zum zweiten Mal an diesem Morgen den Bahnhofsplatz fegte, doch Felix schaute nicht zurück und hielt nicht an, um wie üblich mit ihm eine Papirossa zu rauchen.
Wie der Mann, den Felix eben vom Fenster aus beobachtet hatte, hielt er seinen Hut auf dem Kopf fest und überquerte schnellen, entschlossenen Schrittes die Straße. Er schaute weder nach links noch nach rechts, stürmte geradeaus, ohne den anderen Fußgängern auszuweichen, sein Blick war starr und konzentriert. Mädchen wichen ihm erschrocken aus, ältere Herren blickten ihm missbilligend hinterher, wenn er sie mit den Ellenbogen anstieß, doch Felix merkte von alledem nichts. Er sprang vom Trittbrett der noch rollenden Pferdestraßenbahn, lief, ohne irgendetwas zu beachten, über die Straße und geriet beinahe unter die Hufe der Gäule, die scheuten und zur Seite wichen. Fahrer und Schaffner pfiffen gleichzeitig. Eine ältere Passagierin lehnt sich aus dem Fenster des Waggons und rief Felix etwas hinterher, doch der hörte davon nur „soll dich der …“ und „völlig verrückt geworden“, er lief weiter, bog ab und erblickte im nächsten Augenblick das Hauptpostamt.
Er sah sich im weitläufigen Foyer um, genau in der Mitte stand in majestätischer Pose erstarrt ein ehrwürdiger Aufseher mit gezwirbeltem Schnurrbart und dem hohen Hut eines österreichischen Pedellen, auf seinem langen Uniformrock prangten zwei Reihen blank polierter Knöpfe, eine Auszeichnung – schwarz-gelb mit eingestickten Initialen – und das Ehrenkreuz für langjährige Verdienste in der kaiserlich-königlichen Armee. Der Aufseher musterte Felix von Kopf bis Fuß und trat von einem Bein auf das andere, als wundere er sich, wohin dieser schlampig gekleidete Mann so eile. Felix blieb einen Augenblick stehen und holte tief Luft, dann ging er durch die massive Holztür zu seiner Rechten und reihte sich in die Schlange der Wartenden ein. Vor ihm drehte ein Gymnasiast den Kopf nach allen Seiten, er trug eine neue Uniform von Sajdlek, dessen Laden sich auf dem Heiligen-Geist-Platz neben dem Hausdurchgang befand. Dort arbeitete eine kleine, reizende Schwarzhaarige mit Grübchen am Kinn als Verkäuferin, auf die Felix seinerzeit ein Auge geworfen hatte. Der Gymnasiast wollte, dass alle seine hohe schwarze Moirékappe mit dem geschwungenen Emblem des Gymnasiums „G IV“ und seine Glacéhandschuhe bemerkten, die noch ganz neu rochen. Deshalb drehte er den Kopf nach allen Seiten, rückte seine Kappe zurecht, in der ihm offensichtlich viel zu heiß war, zog dann eine Zeitung aus der Tasche und raschelte laut damit. Felix blickte ihm über die Schulter und ließ seinen Blick automatisch über die Seite mit den Annoncen schweifen. „Seriöser, gut situierter Kavalier will per Briefkontakt junge, hübsche, tugendhafte Dame von guter Statur kennenlernen. Mitgift unerheblich, Austausch von Fotos obligatorisch. Briefe an die Redaktion der ‚Sonntag‘, Kennwort ‚Der Einsame‘.“ Darunter befand sich noch eine Annonce: „Nehme junges, hübsches, tüchtiges Fräulein zur Frau. Mitgift nicht obligatorisch. Brief mit Foto bitte an die Redaktion.“
Felix’ Aufmerksamkeit wurde von der längsten Annonce gefesselt. Aufgegeben von einer Frau, die einen Zopf „im Wert von 12 Kronen“ verlor, als sie die Akademiestraße, die Halyzka-Straße, die Kiliński-Straße und die Karl-Ludwigs-Straße entlangging. Zum ersten Mal an diesem Morgen lächelte Felix unwillkürlich, denn er stellte sich die unattraktive und unachtsame Salka H. vor, eine Schriftführerin, die ihres Zopfes verlustig gegangen war, noch bevor sie ihre Kavaliere damit beeindrucken konnte. In ihrer Verzweiflung gab sie danach auch noch eine stattliche Summe für den Abdruck einer Annonce in der Morgenzeitung aus. Felix dachte an das dichte Haar seiner Frau, das die Farbe von Schaum auf dem Kaffee hatte, ein klein wenig heller als die Farbe des Kaffees selbst, nachdem der Schaum verschwunden war. Einige Strähnen lösten sich immer unter ihrem weißen Hut. Er dachte an Bronislawas cremefarbenes Kleid und versuchte sich daran zu erinnern, wie viele Häkchen er an diesem Kleid öffnen musste, wenn sie es abends auszog, und wie mit jedem Häkchen sein Verlangen wuchs, den warmen, duftenden Körper seiner Frau endlich zu berühren. Einen Augenblick lang verlor sich Felix, tauchte ab in seine Träume, um sich kurz darauf wieder an den Grund seines Kommens zu erinnern, und sein Blick verfinsterte sich. Als er an der Reihe war, befeuchtete er den Bleistift konzentriert mit Speichel, schrieb sorgfältig Buchstabe für Buchstabe, überdachte jedes Wort, denn es kostete ihn mindestens zehn Kreuzer. Einen Moment überlegte er, wie er die Farbe ihres Haars beschreiben sollte, denn „Schaum auf dem Kaffee“ waren ganze vier Worte, außerdem war fraglich, ob jemand diesen Vergleich verstehen würde, deshalb schrieb er einfach: „braun“. Den Zopf seiner Frau erwähnte er nicht.