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Fünf Sprachen erlernen und Wein um zehn Uhr vormittags

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Alle Kinder von Karl Stephan lernten Polnisch in Galizien und beherrschten es gut, doch Wilhelm war der Einzige, der für sich nicht die polnische, sondern die ukrainische Identität wählte, und das musste in der Familie früher oder später zu Konflikten führen. Die italienische und die österreichische Identität ließen sich ruhig und schmerzlos vereinen, und auch die polnische stellte in einer multinationalen aristokratischen Familie keinerlei Gefahr dar, aber die ukrainische Identität war mit der polnischen unvereinbar. Man musste eine Wahl treffen. Karl Stephan wählte Polen, Wilhelm die Ukraine …

Von klein auf sprachen alle Kinder der kaiserlichen Familie täglich fünf Sprachen. Im Alter von sechs Jahren kamen zu den Fremdsprachen noch andere Fächer dazu. Bis zum Alter von zwölf Jahren fand der Unterricht zu Hause statt.

„Ich weiß es, als wäre es gestern gewesen“, erzählte Wilhelm. „Polnisch unterrichtete Herr Teodorowicz, Mathematik und Ungarisch der Marineoffizier Kapitän Cohanyi, Musik Frau Drost und Englisch Miss Nellie Ryan. Wir hatten acht ständige Lehrer, der Rest wechselte von Zeit zu Zeit.“

Die Lehrer wurden von niemandem kontrolliert und stellten den Lehrplan selbstständig zusammen. Karl Stephan war der Meinung, das Wichtigste sei, die Kinder zu starken Persönlichkeiten zu erziehen. Sollte ein Lehrer also versuchen, Druck auf die Kinder auszuüben, und sie zwingen, langweilige und unnütze Dinge zu lernen, würde der Vater auch ohne Kontrolle davon erfahren, denn über so einen Lehrer würden sich die Kinder beschweren. Außerdem war er der Meinung, dass Lehrer nicht unbedingt aristokratischer Herkunft sein mussten, denn Menschen aus dem gemeinen Volk hatten einen deutlich gesünderen Einfluss auf die Kinder als die destruktive Atmosphäre bei Hof. Maria Theresia war vorsichtiger und besuchte die Unterrichtsstunden manchmal ohne Vorankündigung, weswegen so mancher Lehrer seinen Posten verlor. Sobald die Kinder die Strategie der Mutter durchschaut hatten, warnten sie ihre Lieblingslehrer vor den Visiten, denn normalerweise besprach sie diese beim Frühstück mit Karl Stephan.

So gelang es den Kindern lange Zeit, ihre geliebte Französischlehrerin zu decken, die eine eher unübliche Methode gefunden hatte, die Kinder für das Erlernen der Sprache zu begeistern: Sie las ihnen auf Französisch obszöne Erzählungen vor und zeigte ihnen manchmal sogar Illustrationen dazu. Die Jungen waren begeistert. Wilhelms Bruder Albrecht versuchte einmal sogar, die Lehrerin zu verführen. Seine Vorbereitungen dauerten lange: Immer wieder goss er ein wenig von den alkoholischen Getränken, die für Festgäste bestimmt waren, in eine Kognakflasche aus Kristall. Diese hatte er eigens in der Küche entwendet. Er schüttete alle Getränke, an die er herankam, zusammen, mit dem einzigen Ziel, die Kristallkaraffe voll zu bekommen. Als er auf diese Weise eine fantastische Mischung geschaffen hatte, lud er die Mademoiselle zu einer Extrastunde ins Spielzimmer ein. Die Stunde plante er vorausschauend für einen Abend, an dem die Eltern einen Empfang gaben. Bei solchen Gelegenheiten kümmerte sich niemand um die Kinder. Um sich Mut zu machen, nahm Albrecht einen Schluck aus der Flasche, und sofort drehte sich alles in seinem Kopf. Als die Mademoiselle eintraf, bot Albrecht ihr ein Gläschen von seiner Mixtur an. Sie nahm es an. Beim ersten Schluck weiteten sich überrascht ihre Augen, doch der Junge versicherte ihr, dass es sich um einen besonders erlesenen Kognak handle, den er sich von seinem Vater „geliehen“ habe und der nur für besondere Gäste bestimmt sei.

Die Mademoiselle wechselte ins Französische und begann Albrecht auszufragen, ob es in der Wiener Hofburg tatsächlich ein spezielles Zimmer mit Giften gebe, von denen die Habsburger bereits dreihundert Jahre lang Gebrauch machten. Es heiße, die Gifte seien besser als das Gift der Medici, denn es ließe sich keinerlei Spur eines Verbrechens nachweisen. Das ganze Gespräch drehte sich um solche Themen. Nach kaum einer Stunde waren beide von der Mixtur eingeschlafen. Erst gegen Morgen erwachten sie mit schweren Köpfen und wussten nicht sofort, wieso sie hier waren. Zum Glück schliefen alle im Schloss noch, sodass die beiden leise in ihre Zimmer zurückkehren konnten.

Die Schwestern von Willy und Albrecht empfanden während der Französischstunden anfangs Unbehagen, doch mit der Zeit wurde auch ihre Neugier geweckt. Maria Theresia schöpfte erst Verdacht, als der fünfjährige Willy plötzlich begann, sie über die Bedeutung verschiedener nicht allzu manierlicher Wörter auszufragen. Als sein Wortschatz so weit angewachsen war, dass er fragte, was ein französischer Kuss sei, besuchte Maria Theresia ohne Vorankündigung eine Französischstunde, betrat den Raum aber nicht sofort, sondern blieb kurz vor der Tür stehen und lauschte. Dann rief sie Karl Stephan, denn sie nahm an, er würde ihr nicht glauben, wenn sie so etwas über die geliebte Französischlehrerin ihrer Kinder erzählte. Tatsächlich wollte Karl Stephan die hübsche Französin nicht gerne entlassen, denn sie gefiel ihm nicht nur als Lehrerin, aber Maria Theresia war unerbittlich. Die Kinder verabschiedeten ihre Lieblingsgouvernante mit Tränen in den Augen. An ihrer Stelle wurde ein alter, langweiliger Lehrer eingestellt, den alle einmütig hassten, besonders für die langen Passagen aus Molière-Stücken, die sie nun auswendig pauken mussten.

Der Tagesablauf der Kinder in Saybusch war bis auf die Minute durchgeplant.

6.00: Aufstehen. Kaiser Franz Joseph, der stets sehr früh aufstand, soll während seiner fast siebzigjährigen Amtszeit das ganze Kaiserreich dazu erzogen haben. Nach dem Aufstehen folgte die Morgengymnastik, noch im Nachthemd vor geöffnetem Fenster: Bewegungs- und Atemübungen, danach kalte Waschungen und die Nasenspülung (das Einziehen von kaltem Wasser durch die Nase – diese Angewohnheit behielt Wilhelm sein ganzes Leben lang bei, was ihn oft vor Erkältungen rettete).

7.00: Gottesdienst.

7.30: Frühstück (die Erwachsenen aßen früher, im Winter um 6.30, im Sommer um 7.00). Zum Frühstück gab es Tee, Kaffee und Brötchen mit Butter.

8.00: erste Unterrichtsstunde.

10.00: Sandwich und ein Glas Wein.

11.00: Spaziergang bei Unterhaltungen in einer Fremdsprache.

12.00: Mittagessen, dazu ebenfalls Wein. Im Sommer wurde auf der weitläufigen Veranda zu Mittag gegessen, umgeben von großen, blühenden Sträuchern, im Winter im Wintergarten, neben dem sich ein Glashaus mit Blumen befand, über denen blaue und grüne Wellensittiche herumflatterten. Danach war Tennis oder Eislaufen an der Reihe. Die Abfolge war unabänderlich, und jede Abweichung bedeutete eine echte Sensation. Meist war Karl Stephan der spontane Initiator solcher Variationen. Alle anderen riskierten beim Versuch, den Ablauf zu ändern, eine strenge Strafe.

Einmal erzählte Wilhelm Halyna von der lustigen Begebenheit, als das Tennisspielen völlig überraschend auf 11.30 vorverlegt wurde. Es war der erste Arbeitstag der neuen englischen Gouvernante Miss Nellie Ryan im Schloss. Sie wollte sich gerade bei Karl Stephan vorstellen, als Eleonora zum Vater gelaufen kam, um ihm freudig mitzuteilen, dass Miss Ryan Tennis spiele, und um zu fragen, ob sie gleich heute alle zusammen eine Partie spielen könnten. Karl Stephan antwortete gedankenlos: „Aber natürlich, bringt die Schläger!“, und ignorierte die verwunderten Blicke der Diener, die nicht wussten, wie sie sich in einer derart von der Norm abweichenden Situation verhalten sollten. Sie warfen Miss Ryan böse Blicke zu, weil in ihren Augen sie an dieser Misere schuld war. Die erschrockene Gouvernante lief in ihr Zimmer und fand in den unausgepackten Koffern mit Müh und Not die Tenniskleidung. Sie hatten drei Sätze gespielt, als der Gong drei Mal zum Mittagessen rief und der Majordomus in Livree und weißen Handschuhen auf dem Tennisplatz erschien. Der überraschte Karl Stephan fragte nach der Uhrzeit und scherzte dann lachend, die hübsche Miss habe ihm so den Kopf verdreht, dass er alles vergessen habe, sogar das Mittagessen.

15.30: Tee und Kuchen.

15.45: Unterricht.

19.00: Abendessen. Nach dem Abendessen stellten sich die Kinder in einer langen Reihe auf und traten eines nach dem anderen zu den Eltern vor, um ihnen die Hand zu küssen und eine gute Nacht zu wünschen. Dieses ermüdende Ritual dauerte ziemlich lange, denn sie mussten genau aufpassen, sich dem Alter nach vom jüngsten bis zum ältesten aufzustellen und stets links aneinander vorbeizugehen. Wenn sich Maria Theresia oder Karl Stephan zum Essen verspäteten, hatte man auf sie zu warten. Manchmal eine halbe Stunde oder länger.

Jahre später sollte Halyna mit Oles das Kindermuseum im Schloss Schönbrunn in Wien besuchen, damit er die Spielsachen der Habsburgerkinder ausprobieren, in ihren Büchern und Atlanten blättern, bestimmte Alltagsgegenstände sehen und diesen Tagesablauf lesen konnte.

„Gut, dass ich nicht um sechs aufstehen muss“, sollte Oles die Führung für sich zusammenfassen. „Ich dachte, meine Schule ist die schlimmste der Welt, aber es geht anscheinend noch schlimmer: Wenn alle Lehrer bei dir zu Hause sind, gibt es kein Entkommen. Und Wein würde ich auch nicht jeden Tag trinken wollen, noch dazu so früh. Wein ist schrecklich sauer.“

Karl Stephans Kinder hatten praktisch keine Ferien. Nur Juni und Juli waren bis auf die Fremdsprachen unterrichtsfrei, ein paar freie Tage fielen noch auf Weihnachten und Ostern. Mit fünf Jahren konnten alle Kinder lesen, schreiben und unterhielten sich in fünf Sprachen.

Der Erzherzog, der den Schwarzmarkt regierte, Matrosen liebte und mein Großvater wurde

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