Читать книгу Die Himmelskugel - Olli Jalonen - Страница 13
ОглавлениеDURCH DAS VOM HERRN PASTOR VERFASSTE PAMPHLET lerne ich gut und flüssig lesen (gut heißt richtig, aber flüssig heißt schnell). Ich lese sowohl für mich als auch laut, das sind zwei Arten des Lesens, und sie belehren einander.
Lesen ist Sehen, aber auch Hören. Schreiben ist kurzes Zeichnen. Die Buchstaben sind verschieden, obwohl es gleiche gibt, große und kleine und in einem Buch andere als in einem Brief, bei unterschiedlichen Menschen jeweils etwas anders, je nachdem, wie die Hand es kann und was sich an Alter angesammelt hat. Einen Brief schreiben ist Zeichnen, aber auch Sprechen. Wenn man lesen lernt, lernt man, lautloses Sprechen zu hören. Wenn man schreiben kann, kann man sprechen, ohne dass man etwas laut sagt.
Die dritte Art des Lesens ist die, dass man alle Arten gleichzeitig kann und ganz versteht, was man gelesen hat. Wie gut ich das lerne, überprüft der Herr Pastor, indem ich ihm am nächsten Tag, ohne die Seiten vor mir zu haben, erzählen muss, was ich am Tag zuvor gelesen habe.
Das vierte Lesen ist dann, dass man im Kopf noch einmal liest, was man gelesen hat. Das hilft sehr, wenn man erzählen muss, was was ist und was man gelernt hat.
Der Herr Pastor schaut zu und passt die ganze Zeit auf. Er bleibt auch dann im Raum, wenn ich still für mich lese, und er geht so gut wie nie hinaus, ohne jedes Blatt seines Pamphletes mitzunehmen.
Einmal muss er jedoch so schnell austreten gehen, dass der ganze in schöner Handschrift geschriebene, Dutzende Seiten dicke Stoß Blätter auf dem Tisch liegen bleibt. Jeder Bogen ist auf beiden Seiten gefüllt, und dies auch noch so genau, dass an leeren Stellen andere Schrift hinzugefügt worden ist, und sei es quer oder senkrecht, wenn es nicht anders gepasst hat. Der Herr Pastor lässt mich nicht alle Seiten lesen, und vor den in die Zwischenräume geschriebenen Stellen hat er mich eigens gewarnt und mir verboten, auch nur einen Blick darauf zu werfen.
Zuerst schaue ich überhaupt nicht hin. Aber dann kann es sein, dass Gott selbst es will, denn beinahe wie aus Versehen werfe ich einen Blick auf den obersten Bogen und sehe den Namen meiner Mutter. Zuerst stehen oben mehrere geduckte Zeilen:
»Warnung. Muss überprüft werden.«
»Wurde sich von jemandem bei einer Versammlung der Sektierer eingeprägt und mir dann am Donnerstag berichtet.«
»Sie haben gesagt: Wir sind zusammen nicht so viele, wie der Sand Körner hat. Aber auch der Pfeil hat nur eine Spitze, dennoch kann man mit einem Pfeil viele Häute durchbohren.«
»John Bushell, Edwin Thorne, Martin Burch, Witwe Hodges hinter Longwood, Totholz-Stevens Witwe Catherine und ihr Bankert sowie Witwe Catherines Tochter Ann und deren Bankert, die erwachsene Hurentochter Mary der beim Weißen Tor wohnenden Mary Gallagher.«
»Die Sektierer haben gesagt: Wir müssen sie zum Jüngsten Gericht schicken. Aber damit sie auch eine irdische Strafe erhalten und dadurch wissen, dass das Jüngste Gericht für sie kommt, sollen sie zuerst wegen ihrer Kinder und Bankerte leiden. Darum machen wir uns daran, die in Sünde Gezeugten auszumerzen.«
»Über deren Namen sind bereits im Himmel Messer und Strick gezeichnet worden. Geht im Schutz der Nacht hin oder bei Tag, wenn niemand es sieht. Fangt mit den Wickelkindern an. Empfindet nicht unnötig Mitleid. Das Fleisch des Sündigen ist nichts als aus Asche gekochte Lauge. Was von Falschgläubigen gezeugt worden ist und genährt wird von einer, die vom Glauben abgefallen ist, ist nicht mehr als eine Ratte, die von einem Handelsschiff geflohen ist.«
Unter der Namensliste hat der Herr Pastor, damit es hinpasst, in sehr kleiner Handschrift angemerkt:
»Ich wundere mich über die Anzahl der Frauen. Sie sind verhasst.«
Als der Herr Pastor zurückkommt, tue ich so, als hätte ich nur gewartet, und versuche so zu sein wie vorher, obwohl ich das Gefühl habe, etwas falsch gemacht zu haben und zu lügen. Als ich mit dem Lautlesen weitermache, verbessert er mich geduldig, wenn ich ein Wort oder eine Stelle schlecht ausspreche. Eine Stelle ist mehr als ein Wort, denn bei einer Stelle muss man verstehen, welche Wörter dazugehören.
»Der erste Langzeitbewohner auf unserer Insel trug den Namen Fernáo Lopes beziehungsweise Fernando Lopez. Es heißt, er sei ein Adliger gewesen und habe im indischen Goa einen hohen militärischen Rang innegehabt. Aufgrund seiner angeborenen Gutherzigkeit und Gerechtigkeit kämpfte er an der Seite der Inder gegen die Tyrannei Portugals, aber sie verloren, und Fernando Lopez wurde von den rohen Untergebenen des Gouverneurs Afonso de Albuquerque gefoltert und verstümmelt.
Man band ihn zwischen Pfählen fest, schlug ihm mit einem krummen Messer Ohren und Nase ab, seine Lippen wurden beschnitten, Kopf und Gesicht wurden mit Muschelschalen abgeschabt, der rechte Arm wurde abgetrennt und von der linken Hand der Daumen.
Erst als Tyrann Albuquerque starb, durfte der in den Dschungel verbannte Fernando Lopez an Bord eines nach Portugal fahrenden Schiffes gehen. Dieses machte auf seiner langen Reise halt auf St. Helena, und Fernando Lopez beschloss, auf der Insel zu bleiben, weil er nicht wollte, dass seine Frau und seine Verwandten ihn als grausam verstümmelten Taugenichts sahen.
Er lebte auf der Insel in der Einsamkeit eines Eremiten. Nur hin und wieder konnte die Besatzung von vorbeikommenden Schiffen zuerst nur seine Spuren und sein Strohlager und dann ihn selbst weit weg auf den Anhöhen bei den Ziegen sehen. Sie ließen ihm Geschenke, Käse, Getreide und Reis da, und man ging dazu über, ihn für einen Heiligen zu halten, der freiwillig auf die unnütze Hast und die irdischen Freuden der Menschen verzichtete. Er fastete, betete und lebte in Frömmigkeit.
Sein einziger Begleiter war ein ins Meer gefallener junger Hahn, den er schwimmend herausholte. Dieser verließ seinen Retter nie mehr, sondern schlief des Nachts auf einer Stange in der Höhle. Die Höhle hatte sich der einarmige Fernando Lopez als Heimstatt und Schlafplatz mit Mühe in einen porigen Fels gegraben, und tagsüber folgte der Hahn seinem Herrn treuer als der beste Hund.
Fernando Lopez’ Ruf als heiliger Mann gelangte in die Handelshäfen wie auch bis weit in den Norden. Jedes Handelsschiff, das vorbeikam, um sauberes Trinkwasser zu holen, ließ etwas für ihn zurück, Brot und Essen, die Samen vielerlei Ackerpflanzen, Kleider, Briefe und Gelöbnisse, Enten, Hühner und Rebhühner, Schweine und Ziegen, Rosenkränze und Bitten für die Heilung von Kranken. Er dankte den Überbringern der Gaben aus der Ferne vom Felsen herab, sehr höflich, aber von so weit weg, dass die Seeleute sein verstümmeltes Gesicht nicht sehen konnten.
So dauerte es elf Jahre, bis der portugiesische König bestimmte, er habe nach Hause zurückzukehren. Fernando Lopez gehorchte, fühlte sich in Lissabon aber nicht mehr wohl und ertrug die Menge der Menschen und ihre Neugier und ihr Entsetzen nicht. Er versuchte, in der Stille eines Klosters zu leben, aber auch dort war ihm der Lärm zu viel.
Er bat darum, in den Vatikan zu dürfen, um dem Papst zu begegnen, denn ihn hatte eine Botschaft hinsichtlich einer solchen Möglichkeit erreicht. Nachdem er die Absolution erhalten hatte, fühlte er sich für kurze Zeit frei und zog durch die ganze Stadt Rom, ohne sein Gesicht zu verhüllen. Er pries die Güte Gottes und erzählte den Mächtigen des Landes von seinem abgelegenen Wohnort, den Gott gerade erst den Menschen der Erde habhaft gemacht hatte.
Aber schon bald ersuchte er darum, auf die Insel zurückkehren zu dürfen, und er erhielt eine zustimmende Antwort und die Erlaubnis und vom Papst eine Empfehlung an den König. So kehrte er mit dem ersten Indien-Schiff auf unsere Insel zurück, wo er bis zu seinem Tod ein gutes, einsames Leben führte.
Fernando Lopez wurde ein großer Gärtner Gottes. Die Sonne versengte ihn nicht, und es peitschte ihn kein kalter Regen. Er pflanzte Bäume und Beerenranken, gelbe Kürbisse und süße Granatäpfel, Erntegetreide über der Erde und im Innern der Erde vielerlei Wurzelgemüse. Um ihn herum breiteten sich dichte Wälder aus, in denen Gummibäume und mannshoher Farn wuchsen, Kohlbäume und ein gewaltiger, lodernder Strauch mit roten Früchten, welcher in allen anderen bewohnten Ländern bereits vollkommen verschwunden war. Er lebte im Paradies und zerstörte es nicht, sondern pflanzte darin nur neue Arten und hegte und pflegte sie mit der großen Weisheit, die Gott der Allmächtige ihm durch all seine Leiden geschenkt hatte.«
Diese Seiten versuche ich mir zu merken und auf vier Arten zu lesen, damit ich am nächsten Tag davon erzählen kann. Der Herr Pastor hört genau zu und sagt dann, das ist nicht schlecht gewesen, Angus, gar nicht schlecht, dir ist durch Gottes Gnade von Geburt an ein gutes Gedächtnis gegeben worden, und du verstehst, was wichtig ist und was nicht.
So kann es sein, so ist es einen guten Moment lang, obwohl ich mich vor allem daran erinnere, dass ich die Namen von meiner Mutter und von Ann gesehen habe. Aber wenn er mich lobt, bekomme ich das Gefühl, dass ich innerlich größer werde und dass der Totholz-Angus schon anderswo ist als hier. Das ist ein so seltsamer Zustand, dass sich die Hauthärchen auf dem Arm vor Angst aufrichten. Oder vor Größe, ich weiß nicht, was es ist, als gäbe es im Kopf fertige Momente und größere Zeiten, die noch nicht gekommen sind, vielleicht noch nicht einmal annähernd.
Ich habe auch früher schon innerlich Bilder gesehen, wenn ich mich Dingen hinterhererinnert habe, aber seit ich lesen gelernt habe, sehe ich vom Gelesenen fast jede Stelle und manchmal jedes Wort als etwas, das es nicht gibt, aber doch gibt. Jetzt blicke ich auch geradewegs nach vorn, und es ist, als würde ich mich selbst an einem Ort sehen, den es noch gar nicht gibt. Das ist beängstigend, geht aber vorbei, und ich rede mit niemandem darüber, damit man es mir nicht wegnimmt.
Wir machen mit einem neuen Blatt weiter, ich lese, und der Herr Pastor schaut meinem Lesen zu, und es kommt mir vor, als wären wir beide gesegnet. Ich darf hier sein und muss nicht den ganzen Nachmittag Wasser aus der Quelle holen und Yams an Stützstangen und abgeschnittene Äste binden, damit die Pflanzen nicht abbrechen, wenn die Knollen tief aus der feuchten Erde gegraben werden. Und der Herr Pastor ist gesegnet wegen seiner Güte und seiner Weisheit. Alles, was er in seinem Pamphlet geschrieben hat, präge ich mir ein und weiß, dass ich es mir merken werde, als wäre es mir widerfahren und nicht den fremden Menschen, die über hundert Jahre vor uns auf der Insel gelebt haben.