Читать книгу Die Himmelskugel - Olli Jalonen - Страница 27
ОглавлениеDIE BÖSEN ZEICHEN sieht man wochenlang auf dem Horizont liegen. Ich sehe sie immer abends, aber ich kann sie einfach nicht zu Zeichen zusammensetzen, erst im Nachhinein, auch wenn es mir dann sofort einfällt.
Zu der Zeit habe ich die Angewohnheit, jeden Abend, wenn die Sonne untergeht, zur Mundenhalbinsel zu gehen. Ich gehe durch Jamestown dorthin, am Hafenanleger vorbei und den Rest der Strecke auf einem schmalen und hohen Wachweg, sodass ich es, genau kurz bevor die Sonne im Meer untergeht, zum besten Aussichtspunkt schaffe. Nie berührt sie als sauberer Ball das Meer, sondern stößt in den letzten Momenten auf einen Wolkenkragen, der wie aus dem Nichts hinterm Horizont aufsteigt, als hätte Gott ihn mit der Hand als Schutz dorthin gewischt. Es kann ja auch sein, dass Gott in Seiner großen Vernunft den brennenden Scheiterhaufen der Sonne daran hindert, direkt aufs kalte Wasser zu treffen. Der Wolkenkragen ist manchmal wie ein lederner Handschuh, mit dem man heiße Glutstücke aus dem Ofen in die Kohlenpfanne legen kann.
(Nein, Angus, es ist nicht so, wie es aussieht. Die Sonne kreist nicht und dreht sich nicht, die Erde unter uns dreht sich. Die Sonne ist ein Stern unter Sternen. Wie ein Phänomen sich in den Augen des Menschen zeigt, so sind normalerweise nicht sein Wesen und seine Konsistenz. Darum, kleiner Angus, darum ist alles nur fast so, oder fast alles ist so. Auch die Anziehungskraft zwischen den Menschen, Clarke, darum ist es so, dass man die Unvernunft und plötzliche Lust nicht recht erklären kann, das Phänomen packt einen, obwohl einem die Vernunft noch so sagt und befiehlt, zuerst darüber nachzudenken, was das Wesen auch dieser Angelegenheit ist. Ist es nicht so, Clarke? Darum kann es passieren, dass wir die Folgen unserer Taten bereuen, wenn wir von einem Phänomen und unserer Lust mitgerissen werden, aber jetzt reißen wir uns wieder zusammen.)
So ist der Wolkenkragen kein Handschuh aus Leder, und der Scheiterhaufen senkt sich nicht vom Himmel, sondern die irdische Kugel kreist in täglicher Unerschütterlichkeit auf ihrer Bahn, das weiß ich, weil ich auch diese wichtige Sache von Herrn Halley gelernt habe. Aber soviel man auch gelernt hat, man mag den Augen nicht immer sagen, ihr seht nicht alles richtig, so scharf und geübt ihr auch seid.
Am Rand des Horizonts, ganz unten, kurz bevor es tieforangerot wird, ist eine Reihe schwarzer Kritzel. Am ehesten sehen sie den obersten Baumkronen auf den Höhen ähnlich, aber weil mitten im Meer kein Waldrand wachsen kann, muss es etwas anderes sein.
Die Ufer-Banshee kann Lockfäden ausgestreut haben. Weil ja alle Banshees letztendlich die Bestimmung haben, die Menschen einzuwickeln und dann ins vollkommene Verderben zu führen.
Ich komme trotzdem nicht auf die Idee, Angst zu haben, weil an einem so hellen Ort keine Banshee in der Nähe zu sein scheint. Ich gehe einfach jeden Abend zur Mundenhalbinsel, das ist eine Angewohnheit und ein Zwang geworden, ich kann mich nicht daran hindern. Würde die Sonne einmal direkt ins Meer fallen und nicht in Wolken und Dunst sinken, wenn es zu einem solchen Sonnenuntergang käme, käme mir das wie ein Sieg vor, und ich müsste danach kein weiteres Mal mehr gucken kommen.
Ich erinnere mich an die kleinen schwarzen Zacken und zur Seite schwebenden Schräglinien über dem Horizont und verstehe sofort, dass es vorausgeschickte Zeichen sind, als der Herr Pastor in den Zweihäuserhof gelaufen kommt. Er ist schlimm verschwitzt, und an seinem staubigen Übergewand sieht man, dass er in seiner Eile hingefallen ist.
Wo ist Catherine?
Das ist das Erste, was der Herr Pastor wissen will. Mutter und Ann sind zur Parzelle gegangen, die Ernte holen, und Adam und Thomas haben sie mitgenommen. Das kann ich gerade noch sagen, dann fängt der Herr Pastor an zu erklären, dass es eine Hausdurchsuchung geben wird, ein Denunziant hat behauptet, dass Pastor Burch heimlich eine Aufklärungsschrift erstellt hat und darin das Leben und die Umstände des Menschen falsch erklärt.
Ich esse das Pamphlet meinetwegen auf, wenn ich nicht dazu komme, es zu verbrennen, aber es muss in Sicherheit gebracht werden. Du weißt, wo die Bogen sind. Hol sie aus dem Spalt im Balken und verstecke sie ganz. Vergrabe sie von mir aus im Schweinestall, aber so, dass sie nicht schmutzig werden, grabe unter dem Schweinestall ein Loch in die Erde und schütze das Pamphlet mit einem trockenen Beutel. Falls die Kontrolleure kommen, bevor du fertig bist, sagst du, dass du Mist schaufelst. Oder noch besser ist es, wenn du es ganz fortschaffst, weit weg von hier, befiehlt der Herr Pastor und eilt in sein eigenes Haus, um die Schrift verschwinden zu lassen, was immer es auch für eine ist, denn ich habe ihn nichts anderes mehr als Gemeindesachen schreiben sehen und das Wichtige notieren, von dem er will, dass es die Gemeindemitglieder bei der Predigt in der Kapelle hören. Falls er etwas geschrieben hat, dann hat er es auch vor meiner Mutter geheim gehalten. Das glaube ich sicher, weil ich nichts gehört habe, und ich versuche auch durch die Wand hindurch zu hören, was der Herr Pastor und meine Mutter untereinander reden, weil es immer besser ist, zuzuhören und im Voraus zu wissen, was ist und kommt, als wenn es überraschend kommt.
Ich fange sofort an, die Aufgabe zu erfüllen. Ich renne ins kleinere Haus. Die bösen Zeichen waren Striche der Warnung. Ich habe nichts aus ihnen herauslesen können, sie können Banshee-Sprache und falsche Buchstaben gewesen sein, aber jetzt weiß ich, was zu tun ist. Ich leere den aus einem Schweinemagen genähten Beutel, in den Mutter die hart geräucherten Ziegenstücke gepackt hat, lasse diese aber nicht offen liegen, sodass sie Tiere anlocken, sondern schütte sie in einen leeren Tonkrug und verschließe ihn mit einem passenden Stück Holz.
Dann eile ich in den Schweinestall und ziehe vorsichtig die Papierbogen aus dem halb hohlen Deckenbalken und packe sie in den grauweißen Beutel, und den Beutel stecke ich mir in den Hosenbund, sodass ich beim Rennen nicht darauf achten muss. Ich spähe hinter dem kleinen Haus hervor auf die Straße und in die andere Richtung zum oberen Weg, und weil niemand zu sehen ist, gehe ich rasch auf den Weg zu und blicke mich nicht mehr um.
Der Herr Pastor hat seine Aufgabe, und ich habe meine, denke ich immer denselben Gedanken hin und her, und sobald ich kann, fange ich an, bergauf zu rennen, und meine Beine sind sofort bereit wie die Beine eines Jagdhundes. Ich komme nicht außer Atem und nicht ins Schwitzen, und der Schweinebeutel und die Blätter im Beutel hindern mich kein bisschen, und auf dem Weg kenne ich jeden Stein, sodass die Beine wissen, wie sie darüberzuspringen haben.
Um den Aufzeichnungsbaum herum sind die anderen Bäume gewachsen, aber er ist noch immer der höchste auf dem Kamm. Er ist die einzige Araukarie dort, und auch er muss gewachsen sein, jedenfalls nach innen, weil ich jeden Monat neue Triebe abschneiden muss, die wie schuppige Schwänze aussehen und sich vor das Aufzeichnungsloch recken.
Ich klettere den Stamm hinauf wie immer, bald werden es fünf Jahre, fünf Kalender sind es, der erste war nur das Ende eines Kalenders, und Herr Halley hat bis zu seiner Abreise das Ausfüllen überwacht. Jetzt habe ich den sechsten und beim sechsten noch keine einzige Nacht ausgelassen.
Ich klettere in die Aufzeichnungsgabel, aber dort kann man das Pamphlet des Herrn Pastors nicht verstecken, weil der Schweinebeutel eklig grau sichtbar bliebe und man in diese Höhe in der Mitte der Araukarie noch leicht heraufsteigen kann. Darum klettere ich weiter durch ein richtig schwieriges Astgestrüpp, sodass an Armen und Beinen Schrammen entstehen. Dann ist es mehrere Ellen lang wieder astlos, und man kann sich nur am Stamm festhalten und muss sich gleichzeitig nach oben recken, damit man mit der Hand die nächste Aststelle erreicht.
Von oben ist es schlimm, nach unten zu schauen. Es fängt an, in den Fußsohlen und Zehen zu zwicken, und man muss sich mit beiden Händen festhalten, weil sich der ganze Baum zu bewegen scheint. Sein Kronenstamm und die Schuppenäste, aus denen die Asttische bestehen, schwanken im Wind, und man kriegt das Gefühl, der Stamm kann schon dadurch abbrechen, dass man sich ein bisschen bewegt, obwohl man nichts weiter tut, als besseren Halt zu suchen.
Ich bleibe, so gut ich kann, an einer Stelle und versuche, nicht nach unten zu schauen. Den Beutel mit den Bogen binde ich mit Schnüren am Stamm und an Ästen fest, und um ihn herum und über ihm biege ich Zweige zu einem dichten Schild und zum Schutz vor Regen und pickenden Vögeln zurecht. Das Zweiggeflecht binde ich mit den gleichen langen Schnüren zusammen, sodass der Beutel im Versteck bleibt und die Bogen darin doppelt versteckt sind und so weit oben dicht an der Krone, dass kein anderer mehr hinaufklettern wird.
Durch das Erfüllen der Aufgabe fühle ich mich groß und stark. Ich schaue nicht nach unten, sondern blicke nach oben und seitlich in die Ferne. Von diesem Punkt aus ist der Himmel fast leer und sichtbar ohne Hindernisse dazwischen.
Hätte Herr Halley als Aufzeichnungsort die Krone der Araukarie gewählt und nicht die stärkste Astgabel weiter unten und hätte Herr Clarke dann auf Befehl mit der Säge und dem Messer den Zugang bis nach oben frei gemacht, wäre ich nicht an ein Aufzeichnungsfenster gebunden, sondern alles wäre die ganze Zeit auf einmal sichtbar. Man würde tagsüber die Vögel in allen Richtungen erkennen, und bei Nacht könnte man zusehen, wie die Sterne über den runden Rand des Horizonts und an ihm entlang ziehen.
Da fängt der Himmel erst an. Von so weit oben würde man in den besten Nächten alle Flecken finden, wenn man nur Nacht für Nacht mit den Augen den Himmel durchkämmen würde. Aber dann verstehe ich sofort, dass Herr Halley den Ausguck vollkommen richtig gewählt hat, denn wenn ich von der Krone aus spähen würde, würde der Himmel zu sehr hin und her schaukeln, und man könnte die Augen nicht auf einen Punkt und genau auf den richtigen heften.
Ich möchte nicht hinunterklettern und fange gar nicht erst an zu denken, dass ich bald hinabsteigen muss. An so etwas Unnützes denke ich erst gar nicht, weil der Totholz-Angus sich schon an einem höheren, leeren Punkt befindet und weiß, dass er etwas wirklich Wichtiges und für die Welt Notwendiges tun wird.
Auf der Haut bilden sich kleine Noppen, die meine Mutter Gänsehaut nennt, aber Gänsehaut entsteht durch Kälte oder wenn es auf der Hochebene lange geregnet hat und alle Kleider bis auf die Haut klitschnass sind und ein Wind geht. Also sind die Noppen keine Gänsehaut, denn sie kommen nicht vom Kalten, sondern vom Wissen.