Читать книгу Die Himmelskugel - Olli Jalonen - Страница 14

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ICH LESE LAUT, weil der Herr Pastor zuhören und das Selbstgeschriebene hören will. Er nickt und summt laut, wenn ihm eine Stelle besonders gut gefällt.

»Es heißt, dass Gott nach dem Tod von Fernando Lopez beschloss, als Nächstes dürften sich zwei männliche Sklaven aus Mosambik, ein Sklave von der fernen Insel Java und mit ihnen zwei Sklavinnen auf St. Helena niederlassen. Diese fünf flüchteten und versteckten sich vor denen, die sie suchten, im Dickicht der Insel, bis das Schiff abgefahren war. Sie bewohnten die Insel und lebten, wie Menschen leben, und ihr Geschlecht wuchs auf zwanzig Personen an. Ihre Kinder waren die ersten Menschen, die auf unserer Insel geboren wurden, und die Nachkommen ihrer Nachkommen leben noch immer unter uns.

Aber sie waren keine Gärtner Gottes wie Fernando Lopez, sondern lebten so, wie Unverständige leben. Sie brannten Lichtungen in die Wälder und fällten große Bäume, wenn sie ein paar reifere Früchte aus deren Wipfeln wollten. Zu ihrer Zeit wurden die verwilderten Ziegenherden riesig, und die Ziegen fraßen und benagten oben auf dem Kamm und auf der Hochebene Schösslinge und Gras und die Blätter von Sträuchern. Ratten, die von den Schiffen entkommen waren, vermehrten sich und machten sich überall breit, und die Katzen, die zu ihrer Abwehr mitgebracht wurden, fraßen Vögel, die nie eine Katze zu Gesicht bekommen hatten und darum nichts von deren Sitten wussten und sie nicht als Mörder erkannten.

So gerieten die von Gott vorgesehenen Tiere in die Zähne und Klauen derjenigen, die von Menschen mitgebracht worden waren. Aber entspricht nicht auch das der göttlichen Absicht? Ist es eine Züchtigung oder eine Bewegung im Räderwerk von Gottes Getreidemühle? Kann es sinnloses Geschehen geben, gibt es etwas, das nicht im großen Plan vorgesehen wäre?

Gott ist gut. Gott ist der Allmächtige auf der Erde wie im Himmel. Aber warum wollte Er das Paradies auf Erden niederreißen und nur Bruchstücke davon übrig lassen? Und warum wollte Er die letzten Winkel des Paradieses ausgerechnet auf unserer wunderbaren Insel bewahren?«

Diese Insel gehört uns und Gott, sagt der Herr Pastor und verbessert sofort, dass diese Insel Gott und uns gehört. Mit uns meint er uns und die Engländer, weil er selbst ganz Engländer ist, auch wenn er jetzt auf der Insel ist, aber er ist hier ebenso zufällig, wie es den größten Teil aller Inselbewohner irgendwann durch Zufall herverschlagen hat.

So sagt er es und fragt dann, ob meine Familie durch Zufall oder mit Absicht hergekommen ist. Darauf kann ich nicht antworten, und ich tue es auch nicht, denn wenn ich antworte, obwohl ich es nicht weiß, breche ich das Versprechen, ehrlich zu sein, und werde ein Lügner.

Ich habe es so verstanden, Angus, dass deine Familie mehr aus einem bestimmten Grund als durch Zufall hergezogen ist, nach dem Großen Brand von London, gleich als damit begonnen wurde, die Anbauflächen zu verteilen. Ein solches entsetzliches Unglück hat euch hierhergeführt. Deine gute Mutter war erst knapp über zwanzig und dein Vater nicht viel älter. Damals hatten sie schon zwei Kinder, deine Schwester Ann und einen männlichen Säugling, der auf der Überfahrt starb.

Jetzt, da jeder Inselbewohner auf meine Veranlassung in ein Buch eingetragen ist, kann man das leicht überprüfen, und ich habe es überprüft. Aus Interesse habe ich mir gerade gestern erst euren Eintrag angesehen. Du wurdest hier vier Jahre nach der Übersiedlung als Halbwaise geboren, und deine Schwester war damals acht, so alt, wie du heute bist.

Es war ein trauriges Unglück, als dein Vater starb, noch als ich hierherkam, wurde viel darüber geredet. Man zog Steine aus dem Steinbruch zur Festung hinauf, und das Seil der Winde war an der Spule durchgescheuert.

Deine Mutter wurde sehr jung Witwe, das ist menschlich betrachtet traurig, aber alles ist von Gott vorgesehen, die Trauer wie die Freude. Du kannst dich an deinen Vater nicht erinnern. Redet deine Mutter noch von ihm?

Nie, antworte ich, und das stimmt. Ich weiß genau, wo mein Vater begraben liegt, und Ann sagt manchmal etwas über ihn, als würde sie sich erinnern, und bestimmt erinnert sie sich auch.

Ann ist sechzehn Jahre alt, aber fast siebzehn. Das ist bald genau zweimal mein Alter, wenn ich acht werde und Ann noch sechzehn ist, doch zwei Jahre später wird es nie mehr so sein, denn wenn ich zehn bin, ist Ann zuerst achtzehn und dann neunzehn und kann nie mehr zweimal so alt sein wie ich, weil ich von da an immer schneller älter werde.

Herr Halley hat mir gezeigt, wie man mit Zahlen rechnen kann, mit Buchstaben aber nicht. Man kann die Buchstaben in einem Wort zählen, aber Buchstaben kann man nicht zusammenrechnen, weil aus zwei A nicht B wird und auch nicht C und nicht D, und E ist keine Drei und auch sonst keine Zahl.

Eine Sechzehnjährige ist schon erwachsen, selbst wenn unsere Mutter Ann manchmal noch Mädchen nennt und ihr den Kopf streichelt. Ann ist zweimal so alt, wie ich bald bin, ich habe dann das halbe Alter eines Erwachsenen, aber woher weiß man, dass man erwachsen wird und ist? Gibt es jemanden, der alles über alles weiß, oder wenigstens jemanden, der alles über eine Sache weiß?

Das frage ich den Herrn Pastor. Durch die Leseübungen bin ich mit ihm vertraut geworden, und er hat gesagt, dass ich Fragen stellen darf. Der Geringere lernt, indem er den Klügeren und Älteren fragt. Wer fragt, verirrt sich auf dem Weg nach London nicht, selbst wenn er über große Heiden kommt und im Moor das grüne Irrlicht brennt, hat der Herr Pastor gesagt.

Gibt es jemanden, der alles weiß?, frage ich.

Wie kommst du darauf? Wie bist du nur darauf gekommen, denn ich habe gerade das Gleiche gedacht, nämlich weshalb Gott wollte, dass das Hanfseil zerfaserte und dein Vater genau an der Stelle unter der Steinlast auf der Holzpritsche stand.

Oder gibt es jemanden, der wenigstens über eine Sache alles weiß?, frage ich dann.

Gott weiß alles. Daran darf niemand den geringsten Zweifel haben. Gott durchschaut uns, unsere Gedanken, unsere Gebete, unsere Stunden des Zweifels in der Dunkelheit der Nacht. Strenge deinen Kopf noch nicht mit solch großen Gedanken an, gutes Kind, überlasse sie den Erwachsenen als Bürde. Auch wenn man aus dem Mund des Kindes die Wahrheit hört, wie man sagt und wie es natürlich auch ist, und das Denken durch Denken wächst. Das kann man einem Kind nicht verbieten, aber ist es so richtig? Nun weiß ich gar nicht, was ich dir raten soll, sagt der Herr Pastor.

Ich habe ihn noch nie so gesehen. Er runzelt die Stirn und redet wirr. Die Lesestunde hat erst angefangen, aber er legt die Seiten seines Pamphlets schon wieder auf den Stoß.

Da fallen mir zum Glück die Beeren und der Krug mit der Soße ein. Die Frage des Herrn Pastors an meine Mutter liegt schon so lange zurück, dass ich damals erst lesen lernte und es jetzt schon kann. Der Herr Pastor hat mir aufgetragen, meine Mutter zu fragen, aus welchen Beeren die süße Soße zur Mangopastete gemacht ist, aber ich habe nicht daran gedacht, und als ich daran gedacht habe, hat meine Mutter nicht daran gedacht oder nicht mehr die richtigen Beeren gefunden, weil Juni und Juli und August kältere Monate sind und es dann nicht alle Sträucher schaffen, zu wachsen und reife Beeren zu machen.

Ich entnehme dem Leinenbeutel einen sehr kleinen Tonkrug mit Mus und, eingerollt in die großen Blätter des Kastanienbaums, ein Stück Zweig von einem Stachelbeerstrauch. Entschuldigung, meine Mutter hat mich gebeten, dies dem Herrn Pastor zu geben und um Entschuldigung dafür zu bitten, dass sie nicht früher daran gedacht hat, sage ich und reiche ihm über den Tisch hinweg den Krug und das Stück Zweig. Der Herr Pastor hebt den Deckel des Krugs an und probiert mit der Fingerspitze das Eingekochte und öffnet dann ein Kastanienblatt nach dem anderen, bis der dornige Zweig der Stachelbeere zum Vorschein kommt.

Den kenne ich. Sage deiner Mutter Danke für den Geschmack und für die Information. Der Geschmack mag etwas anders sein, als ich ihn aus der Kindheit zu Hause erinnere. Alles hier kann anders sein, uns jedoch an das Vergangene und Verlorene erinnern. Sage deiner Mutter Danke. Betrauert sie das Schicksal deines Vaters noch immer sehr?

Auf diese Frage des Herrn Pastors kann ich nicht antworten, und ich traue mich auch nicht. Es ist nicht alles auf einmal da. Es ist die Wolke da oder der Schatten der Wolke.

Ich drehe den Kopf leicht von einer Seite zur anderen, weil ich nicht weiß, was ich wissen sollte, und nicht lügen will. Die Zeiten liegen übereinander. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass meine Mutter meinen Vater betrauert hat. Ich kann mich an meinen Vater überhaupt nicht erinnern, weil ich nicht einmal geboren war, als er gestorben ist. Ich erinnere mich an alle anderen Zeiten und an andere Trauern. Laut antworte ich nichts.

So ist das, Angus. Hier haben wir das Leben von Inselbewohnern, die anderen kommen zu uns und verlassen uns wieder, wenn sie abfahren, aber wir bleiben. Die Schiffe der Kompanie bringen Leute und nehmen Leute mit, neuerdings bringen sie mehr, weil es so beschlossen wurde. Der Raubzug der Holländer ist ein Weckruf, und darum halten sich hier inzwischen reichlich Männer des Königs und der Kompanie auf. Das sollte eigentlich dasselbe sein, aber das ist es nicht, sagt der Herr Pastor, geht dann aber dazu über, von den Soldaten zu erzählen, die schon weggeschickt oder an andere Stützpunkte abkommandiert worden oder mitten in ihrer Dienstzeit gestorben sind, und dann fängt er an, von den Witwen der Soldaten und von anderen Frauen zu erzählen, die einen Appell an Gouverneur Blackmore geschrieben haben, er möge sie gnädig von der Insel entlassen, weil sie zur Abreise keine andere gesetzliche Möglichkeit haben, als einen Seemann zu finden, der auf einem Schiff in Jamestown haltmacht und bereit ist, sie zu heiraten und mitzunehmen, und so etwas passiert nicht oft.

Deshalb, Angus, falls du dich gefragt haben solltest, warum, deshalb herrscht am Hafenanleger immer so viel Betrieb, wenn Schiffe kommen, und die jungen Frauen tragen ihre besten Kleider. Ein solches eitles Umherspazieren und Stehenbleiben nennt man Kokettieren, das sind Erwachsenendinge, du brauchst davon nichts zu wissen und dich nicht darum zu kümmern. Sie wollen einfach so sehr fort von hier und bezeichnen die Insel als ihr Gefängnis. Ich verurteile sie nicht und glaube auch nicht, dass Gott es in aller Strenge tut.

Die Seiten meines Pamphlets über die jüngsten Zeiten lasse ich dich noch nicht lesen, weil sie noch nicht fertig sind und auch nicht ganz ungefährlich. Wenn man die ganze Wahrheit berichtet und aufschreibt, begegnet man auf der geraden Straße der Ehrlichkeit falschen Geboten und Vorschriften, wie auch der Dummheit und Unwissenheit der Menschen. Wenn immer nur mehr solcher falschen Vorschriften diktiert werden und dieselben Menschen mit dem Diktieren weitermachen, was hat derjenige, der die Wahrheit spricht, dann zu erwarten?

Darum überlege ich ein bisschen, ob ich überhaupt noch weiter von unserer Insel berichten kann. Vielleicht nicht bis zum heutigen Tag. Über Fernando Lopez sind alle einer Meinung, dass er ein guter Mann und ein Gärtner des Paradieses war, aber von uns Menschen gibt es und wird es bis zur zweiten Ankunft Jesu Christi so vielerlei geben, Starke wie Schwache, Ehrliche wie Gauner, und selbst der Stärkste unter uns ist nicht vollkommen frei von Versuchung.

So ist das, Angus. Die Erwachsenen haben untereinander Angelegenheiten, die nicht einfach sind. Der Mensch sehnt sich immer nach etwas, auch wenn er alles schon hat.

Die Himmelskugel

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