Читать книгу Die Himmelskugel - Olli Jalonen - Страница 8
ОглавлениеBEIM MITTAGESSEN sind wir neuerdings zu fünft. Das Baby meiner Schwester kommt mir viel kleiner vor als das Baby meiner Mutter, obwohl es nur zwei Monate jünger ist, aber so viel magerer und kleiner, dass es in zwei Monaten nicht so viel wachsen wird, und es krabbelt und sitzt auch nicht so gut wie das Baby meiner Mutter.
Wir essen Bohnen zum Fisch und heißes Yamsmus, die Babys essen nicht mit, weil sie keine Zähne haben, aber sie dürfen weiches Mus vom kleinen Finger lecken. Ansonsten trinken sie Milch. Das Baby meiner Schwester trinkt zwischendurch auch Muttermilch.
Sie sind beide so etwas wie meine kleinen Brüder, aber nicht ganz, weil das Baby meiner Mutter wirklich mein Bruder ist, ich aber für das Baby meiner Schwester der Onkel bin. Auch für meine Schwester sind sie beide wie kleine Brüder, aber nur das eine ist ihr Bruder, das andere Kind ihr Sohn. Und das Baby meiner Mutter ist für das Baby meiner Schwester ein Onkel, wie ich. So etwas ist kompliziert, und Ann versteht es noch schlechter als ich.
Gus, warum bist du zum Beobachtungsbaum zurückgerannt?, stellt meine Mutter schließlich die unangenehme Frage, auf die ich nicht antworten möchte, die ich aber beantworten muss, weil man immer antworten muss und nicht lügen darf, weil man sich das Lügen angewöhnt und Lügen überprüft werden können.
Ich schiebe die Schuld für mein Zurückrennen ganz auf die Mainas. Das ist wahr. Ich erzähle von den Körnern und Samen, die sie geholt und gefressen haben. Meine Mutter hört erschrocken zu, weil das Herrn Hawley nicht gefallen wird.
Herr Hawley ist ein Wohltäter für uns, aber jetzt jenseits des Meeres. Herr Hawley ist ein gescheiter und gebildeter Mann, der mir alles Neue, was ich weiß, beigebracht hat. Im Können und Wissen gibt es Neues und Altes, das Neue sammelt sich über dem Alten an. Die Gelehrten stehen auf den Schultern der jeweils anderen, hat Herr Hawley zu Herrn Clarke gesagt. So ist man von Anfang an weiter oben im Wissen, weil man von den Schultern der Vorigen weiter in die Ferne sieht.
Ich will auf den Schultern von Herrn Hawley stehen.
Herr Hawley hat ein gutes Jahr lang bei uns gewohnt. Herr Clarke ebenfalls. Auf den mit Federhalter geschriebenen Kalendern 1677 und 1678, die Herr Hawley mir als Vorlage überlassen hat, kann man an den Eintragungszeichen sehen, an welchen Tagen sie bei uns gewohnt und sich im Zimmer einquartiert und oben Himmelsbeobachtungen gemacht haben, und fast immer haben sie bei uns gegessen, wenn sie kein Abendessen im Amtshaus des Gouverneurs hatten oder in den vornehmen Häusern anderer Herrschaften im Kapellental der Niederung und in Jamestown, oder wenn sie alles Mögliche zu tun hatten, was alles Gründe sein konnten, sie am Kommen zu hindern.
Als Herr Hawley und Herr Clarke nach England zurückgekehrt sind, als die Golden Fleece sich vor Jamestown zur Abfahrt bereit gemacht hat und die Reisetruhen und Beobachtungsinstrumente mit Booten hingebracht worden sind, da hat etwas anderes und Seltsames angefangen. Eine Wolke ist über uns gekommen und ein Wolkenschatten, eine Vorahnung des Bösen und das Ende des Guten.
Auch ich habe ein bisschen geweint, aber ich habe mich gleich abgewandt. Weinen steckt an, so wie Gähnen ansteckt, wenn drinnen schlechte Luft herrscht oder man müde ist, aber Herr Hawley hat nicht geweint, sondern nur uns dreien sehr würdevoll vom steinernen Steg aus zugenickt, meiner Mutter und Ann und mir.
Kluge Männer weinen nie. So einer wie Herr Hawley will ich werden, und ein bisschen bin ich jetzt schon so, wenn auch noch eine Armlänge und etwas weiter entfernt.
Man kann mit seinem kurzen Arm messen, was von vorne auf einen zukommt, so wie man auf diese Weise auch die Entfernungsgrade vom Himmel messen kann. Selbst ein großer Stein ist nur so groß wie ein Fingernagel, wenn man ihn am Arm entlang anpeilt. Der Mond am Himmel ist genau daumennagelgroß, außer am Horizont und dicht über dem Meer. Wenn er niedrig steht, ist er durch die Dämpfe der Erde faustgroß aufgequollen, aber wenn er weiter aufsteigt, wird er leer und schrumpft zu dem, was er eigentlich ist, daumennagelgroß, und die Farbe geht vom Orange des Horizonts und vom Gelb des Unterhimmels ins Fingernagelweiß des Mittelhimmels über.
Am letzten Abend hat mich Herr Hawley ins Ohr gezwickt und gesagt, er lässt mich auf der Insel, damit ich Zinsen trage und meinen Augen beibringe, segelnadelscharfe Falkenaugen zu werden, und wenn das passiert, oder falls das passiert, dann wird er mich, wenn ich groß bin, nach London einladen und dafür sorgen, dass ich auf dem großartigsten Schiff der Handelskompanie anheuern kann, wenn es vorbeikommt, um die Reissteuer aus Indien zu liefern, und die Matrosen frisches Wasser aus der Quelle in die Eichenfässer füllen und als Proviant für den Rest der Reise Schweine zum Braten und über Wacholderrauch gegartes Ziegenfleisch und Zitronen und allerlei sonstiges Frisches an Bord holen.
So ein Versprechen an mich ist in Kraft. Die Mainas und ein verdorbener Tag werfen so ein sicheres Versprechen nicht um. Aber damit das Versprechen in Kraft bleibt, muss an die Stelle des leeren Tages eine Erklärung geschrieben werden. Dann kann man die leere Stelle in den Berechnungen weglassen, und es kommt nicht zu einem allgemeinen Irrtum, zu einer Abweichung und einer Verfälschung. Über all das hat Herr Hawley mit Herrn Clarke gesprochen.
Wenn man, um schreiben zu können, lesen lernen muss, dann lerne ich es. Einige Buchstaben kenne ich, weil sie Teil meines Namens sind (den Namen muss man gleich können, es wird für dich, Angus, im Leben nicht reichen, nur die Hausmarke zu kennen), und andere sehen wie Zahlen aus. X ist zehn, I ist eins und V fünf. Zusammen und getrennt, an verschiedenen Stellen und in der richtigen Reihenfolge bilden sie auch die Zahlen sämtlicher Monate, und auch die größeren römischen Zahlen sind wie Buchstaben.
Seid Ihr der Ansicht, dass mir der Herr Pastor schnell das Lesen beibringen würde?
Meine Mutter antwortet, dass sie nicht weiß, wie schnell, weil sie nicht weiß, wie schwer es ist. Sie sagt, sie kann auch nicht wissen, ob der Pastor überhaupt damit einverstanden ist, aber sie fragt um Erlaubnis, wenn der passende Moment kommt, weil man bei einer solchen Lernsache nichts verlangen kann, man kann nicht hingehen und direkt bitten, sondern nur, wenn zufällig der richtige Moment kommt und vielleicht niemand zuhört, in so einem Moment kann man höflich und demütig fragen, so wie es sich für einen geringeren Menschen gehört.