Читать книгу Die Himmelskugel - Olli Jalonen - Страница 22
ОглавлениеICH BIN ZEHN GEWORDEN. WEIHNACHTEN LIEGT MITTEN IM SOMMER, und zu der Zeit kommt es auch noch zu einer außergewöhnlich heißen und klaren Periode. Es regnet überhaupt nicht, nicht einmal oben in den Bergen, weil man selbst dort tagelang keinen Nebel in Kringeln sieht und auch nicht den üblichen weißen Wolkenkragen auf Actaeon und Diana.
Weihnachten ist das Geburtsfest von Gottes Sohn, also feiert jetzt auch die Natur mit ihrer Schönheit die Geburt Jesu, versuche ich den Zwillingen die allerleichtesten Sachen über die Religion beizubringen, aber sie sind erst drei, oder Adam ist gerade dreieinhalb und Anns Thomas drei Jahre und vier Monate alt. Bei so Kleinen kann man eigentlich noch nicht alt sagen, aber man sagt es trotzdem.
Ann ist 19, und das ist ziemlich viel, aber noch nicht sehr viel. Meine Mutter ist 35 und bald 36 und der Herr Pastor 52. Das sind hohe Zahlen für ein Menschenleben. Darum wird zumindest über das Alter des Herrn Pastors nicht geredet, weil eine hohe Zahl im Alter bedeutet, dass das Sterben zu Gott schon nahe ist.
Wenn ich mithilfe des schriftlichen Teilens von Jesu Geburt an rechne, 1681 Jahre geteilt durch 52 Jahre, ergibt das nur 32 Menschen und kleine Reste vom Teilen, und 32 kommt einem nicht sehr viel vor, auch wenn man sie sich als echte Menschen hintereinander vorstellt, sodass immer, wenn einer stirbt, ein neuer geboren wird.
Von Mamas Alter passen 48 hinein. Von solchen in Anns Alter würden 88 in der Reihe stehen und ein Teilungsrest aus Menschenteilchen.
Als zehnjährige Tote sind seit Jesu Geburt 167 in der Reihe, und ich bin der Hundertachtundsechzigste und noch am Leben.
Es ist schön, sich solche Sachen zu überlegen, und sie sind leicht zu rechnen, weil ich schon viel schwerere kann. Herr Halley hat mit dem letzten Aufzeichnungskalender das von S. Taylor geschriebene Buch Einige einfache mathematische Problemaufgaben und ihre Lösungen aus dem Blickwinkel der üblichen Rechenarten geschickt. Herr Halley hat das Paket an den Herrn Pastor geschickt und dazu in einem Brief geschrieben, das Buch sei zur Lehre und zum Nutzen der Jungen und vielleicht auch der Soldaten auf der Insel gedacht, aber vor allen anderen dürfe Angus es lesen und die Übungen machen.
»Richtet Angus, dem Sohn von Frau Catherine, meine Grüße aus, der seine Aufgaben gut erfüllt und fleißig und genau die Himmelskörper aufgezeichnet hat«, hat in dem Brief auch gestanden. Der Herr Pastor hat mir die Stelle gezeigt und mir die Monatsseiten des etwas schmutzig mit Tinte geschriebenen neuen Kalenders und das richtig gedruckte Buch von S. Taylor gegeben. Das war ein großartiger Moment, solche möchte ich noch mehr in meinem Leben haben.
Aus dem Übungsbuch habe ich gelernt, dass es noch mehr Rechenarten gibt als die vier normalen, die ich schon kann, aber über die anderen wird in dem Buch kein bisschen mehr gesagt, obwohl ich sie kennen möchte. Es wird nur gesagt, dass so, wie es auf der Welt verschiedene Sprachen gibt, in letzter Zeit auch für die Familie der Mathematik neue, unbekannte Mitglieder gefunden worden sind und sich vielleicht noch weitere finden, wenn das Wissen wächst und sich die Begeisterung für die Beschäftigung damit ausweitet wie Wellen um einen Stein, der ins Wasser gefallen ist.
Herr Halley hat mich die Zahlen gelehrt, als ich erst sechs war. Darum habe ich angefangen, auch den Zwillingen zuerst die Ziffern beizubringen, nicht die Buchstaben vom A an, sondern die Ziffern von eins nach oben und langsam genug.
Es reicht nicht, dass ich den Strich der 1 oder den Vogelhals der 2 in den Sand male und es laut sage, weil zumindest Adam leicht lernt, es nachzusagen, so wie er alles nachahmt, was ich sage. Wichtiger ist es, ihnen beizubringen, was in einer Zahl drin ist. Der Strich ist ein kleiner Stein, der Vogelhals zwei kleine Steine.
Vielleicht sind Dreijährige für mathematische Problemaufgaben doch noch zu klein. Ich versuche ihnen mehrmals dasselbe zu erklären, aber beide verwischen den Ziffernsand, schieben ihn zu Haufen und Häufchen zusammen und laufen mittendrin davon.
Wären Adam und Thomas schon sechs, hätte der Lehrer es leichter, aber man muss geduldig sein. Man muss von Jesu Geburtsfest erzählen. Man muss ihnen die Namen von ein paar gewöhnlichen Vögeln beibringen, sodass sie sie an der Farbe der Federn erkennen. Man muss die Ziffern von eins bis zehn immer wieder auflisten und ihre Zeichen malen, sodass man sie sieht. Durch Wiederholung lernt letztendlich jeder.
Und die Zwillinge sind nicht aus Schlechtigkeit wild, sondern weil sie sich so gern bewegen und jede Woche stärker werden. Auch Thomas kann schon rennen, ohne zu schwanken, und zwar ziemlich schnell. Je größer sie werden, desto mehr werden sie zu Menschen und desto mehr kommen sie mir wie Brüder vor.
Ich bringe ihnen gern die Zahlen, die Vögel und das Rennen bei, weil das im Leben nützliches Wissen und Können ist. Viele von uns können ihre eigene Aufgabe haben, so wie Herr Halley sie mir gegeben hat, und die kann man nicht erfüllen, wenn man nichts weiß und nichts kann.
Wenn ich zu Hause bin, sind die Zwillinge oft mit mir zusammen. Oft sind sie natürlich auch mit Mutter und Ann allein, aber seit wir ins Untertal gezogen sind, können sie nicht mehr mit anderen zusammen sein.
Den Kindern des Untertals ist nämlich verboten worden, mit uns zu reden. Das ist seltsam, weil es früher nie so war, auf der Hochebene haben alle mit uns geredet, außer Dennisons Frau, und alle waren dort fast gleich. Auch ich hatte Freunde, zumindest Rebecca vom Schmied, und auch andere, selbst wenn ich mir aus ihrer Gesellschaft nicht immer etwas gemacht habe, weil die Gleichaltrigen kindisch waren und die Älteren mich für ein Kleinkind und für verrückt hielten, sie haben es sogar laut gesagt, obwohl ich ihnen wer weiß wie oft erklärt habe, dass ich zum Baum hinauflaufe, weil es eine von London aus aufgetragene, sehr wichtige Arbeit ist.
Seit dem Tag, an dem wir umgezogen sind, hat man uns gezeigt, dass es um den Zweihäuserhof herum sehr still und leer sein wird. Als Mutter und Ann zum Begrüßungsbesuch zu den nächsten Nachbarn gegangen sind, so wie es höflich und gute Sitte ist, hat man ihnen die Tür vor der Nase zugemacht. Ich habe davon noch nichts gewusst und bin zur gleichen Zeit für mich allein umhergelaufen und habe die neuen Orte im Untertal erkundet. Ich habe niemanden gestört, habe mich nur umgesehen, aber hinter dem Haus von Sheridan sind drei Jungen gekommen, die größer waren als ich, und haben angefangen, mich mit Kaktusstücken zu bewerfen. Alle hatten Schleudern, weil man die stachligen Dinger mit bloßen Händen nicht fest werfen kann. Ein Stück hat mich am Unterarm getroffen, und das hat wehgetan, und ein anderes auf der Kleidung am Rücken, als ich mich umgedreht habe und weggerannt bin. Am Anfang sind sie mir noch hinterher und haben ihre Schamlosigkeiten gerufen, aber sie sind so viel langsamer, dass ich leicht entkommen bin.
So sind vom Umzugstag und von vielen anderen Tagen schlechte Erinnerungen zurückgeblieben. Als ich gelernt habe, die neue, längere Strecke zum Aufzeichnungsbaum zu laufen, habe ich mich im Untertal die ganze Zeit umblicken müssen, ob mir auch niemand folgt. Es hat nicht einmal geholfen, dass der Herr Pastor zum Reden in die Häuser gegangen ist und unseren Umzug und alles richtig erklärt hat. Nichts hat geholfen, eine Woche, ein Monat, viele Monate sind dahingegangen. Es ist, als wäre um unseren Hof herum ein tiefer Graben gezogen und eine Grenze gegen uns gemacht worden.
Im Untertal ist alles anders, und die Menschen leben auf andere Art als auf der Hochebene. In Jamestown vor allem gibt es Menschen von sehr hochstehend bis zu niedrigen Dienern und Sklaven hinunter.
Die Sklaven, die man hergebracht hat, sind die untersten. Jedes Schiff muss auf der Rückfahrt von Indien immer einen als Steuer mitbringen und hierlassen, damit es genug Männer für die Pflanzungen gibt und für die Steinbrüche zum Steinetragen und Frauen für alle anderen Arbeiten und als Hausdienerinnen.
Der Herr Gouverneur darf entscheiden, wann der Steuer-Sklave ein Mann und wann eine Frau sein muss, aber zwischendurch wird eine Pause eingelegt, damit nicht zu viele Unzuverlässige und Aufständische auf einmal auf der Insel versammelt sind. Einige von den Hergebrachten sind vollkommen schwarz, aber die meisten sind Braune aus Madagaskar und von noch viel weiter als Madagaskar, aus solchen abgelegenen Winkeln und von großen Urwaldinseln, wie sie weit weg in der Welt versteckt sind.
Wir sind selbst hergekommen. Mein Vater und meine Mutter und Ann sind gekommen, ich nicht. Mein Vater und meine Mutter sind nicht mit Zwang dazu bestimmt worden, London zu verlassen, und auch darum sollten die anderen nichts gegen uns haben, aber so ist es mir vorgekommen, als wir in das kleinere Haus gezogen sind, das der Herr Pastor für uns frei gehalten hat.
Bis zum Umzug hat es so lange gedauert, dass er erst am letzten Tag endgültig sicher war, als die Sachen eilig im Wagen heruntergebracht wurden und auf der Hochebene grauer Regen fiel (das sind eben Erwachsenenangelegenheiten, mische dich nicht in unser Verhältnis ein und höre nicht auf das, was die anderen sagen. Dein Vater hat damit überhaupt nichts zu tun, dein Vater liegt unter der Erde).
(Und ihr grüßt dort unten alle so höflich, wie ihr könnt, neigt den Kopf, wie es ein Fremder tut. Angus, noch tiefer, und mache ein unterwürfiges Gesicht und grinse nicht. Und leiste niemandem Widerrede. Und du, Ann, verbeugst dich und machst einen Knicks. Wenn ihr das immer und allen gegenüber tut, sollte niemand etwas auszusetzen haben, also denkt daran und achtet auch auf die Jungen.)
Mutter hat lang gebraucht, ich habe noch länger gebraucht, Ann hat nicht gesagt, welcher Meinung sie ist, die Zwillinge haben keine Meinung gehabt. Nur der Herr Pastor ist sich über den Umzug vollkommen sicher gewesen, weil Gott es so beschlossen und meine Mutter für den Herrn Pastor reserviert hat, so wie er Eva für Adam gemacht hat, aber trotzdem hat die Umzugsentscheidung lange gebraucht, über das ganze lange Jahr hinaus, und in der Zeit hat uns der Herr Pastor jede Woche besucht und aus dem Laden in Jamestown Stoffe mitgebracht und Mutter im geschlossenen Zimmer Sonette vorgelesen.
Im Untertal regnet es weniger als auf der Hochebene. Darum ist der Boden härter, und alles wächst nicht so grün. Es gibt mehr Menschen, und manchmal sind sie überall, aber niemand ist so freundlich wie oben fast alle und hilft, oder sie können zueinander freundlich sein, aber nicht zu uns, und sich gegenseitig helfen, aber nicht uns.
Trotzdem gewöhne ich mich langsam ein, alle haben sich eingewöhnt, Mutter hat sich am meisten eingewöhnt und sagt, das Leben ist leichter, und die Hände sind nicht mehr bloß schaufelnde Spaten.
Nur einmal ist einer von den Jungen aus dem Nachbarhaus in den Zweihäuserhof gekommen. Ich habe durch den Fensterladenspalt gesehen, dass jemand neben dem Schweinestall steht, und mich beeilt, nachzusehen. Als der Junge mich gesehen hat, hat er sich weggedreht, aber ich bin einfach näher hingegangen und habe gefragt, was er will.
Nichts, außer von Herrn Pastor Burch.
Der Herr Pastor ist in die Kirche gegangen, habe ich geantwortet, und der Junge hat sich zu mir umdrehen müssen, weil er in keine andere Richtung gehen konnte, und hat genau aufgepasst, als er um mich herumging.
Ich nenne den Herrn Pastor immer noch jedes Mal Herr Pastor, weil es so richtig und höflich ist, auch wenn meine Mutter sagt, sag Onkel Pastor, so wie Adam und Thomas auch, das ist schön gesagt, und das kannst du auch sagen, wenn du es mit Respekt tust und ansonsten daran denkst, dich so zu benehmen, wie es sich gehört, und nicht glaubst, mehr zu sein, als du bist.
Eine gute Seite am Umziehen ist jedoch die, dass man den Herrn Pastor leichter und schneller fast alles fragen kann, weil wir nebeneinander auf demselben Hof in verschiedenen Häusern wohnen. Dazwischen ist ein Dach wegen der Habichte und ein Stall für die Schweine, und der Herr Pastor ist öfter in unserem kleinen Haus als in seinem.
Man kann Dinge fragen, bei denen man im Überlegen nicht weiterkommt, aber die allerschwierigsten Dinge kann man den Herrn Pastor nicht fragen. Die Zeit ist das, was sie ist, weil sie irgendwie ein Korn Gottes ist, so wie das Brot und alles andere Essen. Darum darf man eigentlich über die Zeit auch nicht genau nachdenken, damit man nicht aus Versehen etwas Falsches denkt.
Aber trotzdem denke ich oft, wenn ich im Aufzeichnungsbaum sitze und keine neuen Vögel vor der Öffnung zu sehen sind und sich bei Nacht die Stellen der Sterne nur so weit geändert haben, wie sie sich nun einmal ändern, darüber nach, was zurückliegt und was vorne noch kommen kann. Zurück liegt fast alles, aber vorne ist vieles weniger sicher.
Nur dann hat man viel Zeit vor sich, wenn man davon träumt, wie es wäre, wenn, und plant, was, falls. Dann kann man sich in etwas hineinbegeben, was es noch nicht gibt, aber ist es am Ende doch wahr und so, dass man sich die kommende Zeit selbst macht? Dass man, wenn man nicht überlegen würde, was, falls oder wie, wenn, etwas anderes vor sich hätte als das, was man sich überlegt und wünscht. Ich möchte Klügere danach fragen, weil es etwas Unheimliches ist. Denn wenn es so ist, müsste man nach vorne hinaus ständig nur Gutes planen, damit sich nichts anderes und Böses ins Künftige schieben kann.
Als ich den Herrn Pastor einmal gefragt habe, ob der Mensch die Zeit, die er vor sich hat, selbst machen kann, hat er sanft geantwortet, wir kleinen Erdenbewohner können für das, was kommt, nichts tun, sondern Gott unser Herr entscheidet über die Anzahl unserer Tage und verfügt mit unerschütterlicher Ruhe über ihren Lauf.
Ich weiß, dass es so ist, aber ich bin mir nicht sicher, weil manche Sachen, die ich vorausgeplant habe, auch passiert sind. Wenn ich fertig gedacht habe, dass ich morgen auf einem anderen Weg zur Hochebene und von dort zum Aufzeichnungsbaum laufe, dann bin ich auch diese andere Route gerannt.
Über dieses sichere Wissen der kommenden Dinge habe ich nie ein Wort sagen können, weil das Zweifeln ist und der Herr Pastor böse werden würde, wenn ich ihn fragen würde, warum es so gekommen ist, dass ich diese Route gerannt bin. Er würde böse werden und sagen, ich zweifle an Gottes Allmacht und lästere, und im schlimmsten Fall würde er es Mutter erzählen, und sie müsste mir mit dem Rohrstock so lange auf die Kniekehlen und die Oberschenkel und die Handflächen schlagen, bis sich blutende Streifen bilden würden und ich wüsste, was richtig ist, und den Herrn Pastor und Gott den Allmächtigen um Verzeihung bitten würde.
Ich weiß, wie es richtig sein sollte, aber ich weiß es nicht mehr sicher. Darum möchte ich jemand anderen als den Herrn Pastor fragen, warum ich trotzdem die nächsten Tage so planen kann, dass es dann auch so passiert.
Ich kann niemanden fragen. Kluge Leute gibt es auf der Insel wenige, zu viele sind Holzköpfe in der Herde des Gouverneurs, habe ich den Herrn Pastor leise zu meiner Mutter sagen hören. Der Herr Gouverneur sollte der klügste Mann auf der Insel sein, aber er ist der Letzte, den ich fragen könnte, weil er mit dem Herrn Pastor überhaupt nicht mehr gut auskommt.
Aus dem, was geredet wird, habe ich so viel verstanden, dass unser Umzug in das Haus neben dem Haus des Herrn Pastors nicht allen recht ist. Das Zweite, was nicht allen gefällt und deshalb auch dem Gouverneur nicht (weil er schwach ist und auf die Meinung der anderen hört und sie zu seiner eigenen macht, glaub mir, liebe Catherine, so ist es), sind die Zwillinge.
Ich habe es mir so überlegt, dass es für die Menschen seltsam ist, dass von den Zwillingen Adam der Onkel von Thomas ist. Das kann ich mir selbst nicht leicht merken, weil es auf andere Art kompliziert ist als eine schwere mathematische Aufgabe im Buch. Wenn ich versuche, die beiden zu unterrichten, kommt mir nicht in den Sinn, dass Adam mein Bruder ist, aber Thomas mein Neffe.
Ann kapiert manchmal überhaupt nicht, dass Adam ihr Bruder ist, während Thomas ihr Sohn ist. Ann ist nicht unbedingt ein kluger Mensch und wird auch nie einer werden, obwohl sich der Mensch, wenn er heranwächst, verändert und groß und klug wird, wenn es so sein soll.
Der Herr Pastor hat von Kindheit an in Weisheit und Liebe aufwachsen dürfen. So hat er es uns erzählt. Solche Erzählabende sind gut. Wir haben Feuer gemacht und auf Stoffen auf dem Boden gesessen und zugehört, der Herr Pastor und Mutter haben auf Stühlen gesessen und zwischendurch vom Wein gekostet, Ann und ich haben Minzeblätter und heißes Wasser in den Bechern gehabt, aber die Zwillinge nur Nüsse oder sonst etwas zu essen und kaltes Wasser, damit sie sich nicht den Hals verbrennen.
Der Herr Pastor hat von seiner Kindheit und Jugend im Pfarrhaus und von der Weisheit seines Vaters, des Herrn Propstes, und von der sanften Natur seiner Mutter erzählt. An nichts hat es gefehlt, und die Bediensteten waren gut und durften bis in die letzten Jahre ihres Lebens im Pfarrhaus wohnen. Der Herr Propst, der Vater des Herrn Pastors, hat sich in seiner Freizeit mit Bienen beschäftigt und ihre Sitten so gut gelernt, dass er beim Öffnen der Nester keinen anderen Schutz brauchte als Lederhandschuhe mit langen Schäften.
Solche Erzählabende hat es nach dem Umzug nach unten und mitten in all dem Neuen und Verworrenen gegeben, es sind die besten Abende gewesen, und nicht einmal die Zwillinge haben dann getobt, sondern dagesessen oder sich still auf dem Boden gewälzt und fast schon zugehört.
Ich bereue es nicht, auf die Insel gekommen zu sein. Ich bereue nur die Tage, die aus dem Leben davongeglitten sind, als wären es gar keine Tage gewesen, hat der Herr Pastor einmal am Ende eines solchen Abends gesagt, aber mehr zu meiner Mutter als zu uns anderen. Ich sehne mich nicht nach Kent und nicht nach sonst etwas aus der Vergangenheit, hier ist jetzt Wohlsein, hat er zu Mutter gesagt und dann ihre Hand genommen.
Ist es das wirklich?, hat Mutter gefragt.
Ja. Ich bin eure Stütze, und Gott ist unsere Stütze, weil der Herr sieht, wer ein rechter und demütiger Diener ist. Ich werde so lange zu allen sprechen, bis sie es schließlich verstehen, hat der Herr Pastor gesagt, und so muss es sein, weil auch Mutter es glaubt und gleicher Meinung ist.
Aber obwohl uns der Herr Pastor verteidigt und für uns spricht und erklärt, dass das Haus leer gestanden hat und man denjenigen helfen muss, die in Not sind, und wenn das jemand ist, dann die Familie einer armen Witwe, sind wir für einen Teil der Leute Luft (Luft und ein leeres Fenster, leere Augen zumindest, weil sie nie ganz den Kopf drehen, sagt Mutter), und zu Mutter und Ann sagt ein Teil der Frauen unschöne Sachen, und damit ist auch der gute Ruf des Herrn Pastors dahin. Das macht Mutter am traurigsten, und sie fragt den Herrn Pastor bei Nacht leise danach, und ich kann nicht weghören, wenn sie ihn fragt, ob es nicht doch ein Fehler war, weg- und herunterzuziehen.
»AUFZEICHNUNGEN
BETREFFEND MEINE EINSCHÄTZUNG
DES TREIBENS DER SEKTIERER
Ihre geheimen Gespräche über Beschuldigungen und die Namen der Beschuldigten sind in den wichtigsten Punkten so niedergeschrieben worden, wie ich sie von meinen diversen Gewährsleuten gehört habe. Ihre irrigen Lehrauffassungen haben sie auf Bogen zusammengestellt, die sie unter sich als Handbuch bezeichnen.
Ernsthafte Gleichgültigkeit und Gesetzlosigkeit beweist die Tatsache, dass sie untereinander Eide schwören und bindende Verbrechensgelübde ablegen. Unverzeihliche Lästerung ist es, dass sie vom Heiligen Unbenannten sprechen, weil man ihrer Meinung nach, jedoch vollkommen falscherweise, Gottes Namen nicht laut aussprechen könne, da Gott kein Name, kein Bild und kein anderes Maß als alles sein könne.
Auf der Grundlage meiner Jahrzehnte messenden theologischen Erfahrung vermute ich, dass ihr Handbuch als Werkzeug der Rache abgefasst worden ist. Sie wünschen sich irrigerweise die Rückkehr in die Zeiten der katholischen Alleinherrschaft. Im Namen des Handbuchs reden sie untereinander vornehm und geheim über ihre wirren Bogen, obwohl sie nichts anderes sind als ein dünner, grotesker Stoß Papier, auf dem sie aus dem Zusammenhang gerissene heilige Sätze und ihre eigenen abartigen Lehren kopiert haben.
Folgende Stellen haben sie auf ihren Bogen notiert. Ich habe sie gemäß den Aussagen meines ungezwungenen Gewährsmannes niedergeschrieben:
1Denn so sagt der Herr durch Jeremias, der Herr sagt so: Enthalte deine Stimme des Weinens und deine Augen der Tränen, denn deine Arbeit wird belohnt werden. Der Herr hat uns befohlen, seine Diener zu sein, die erbarmungslos ihre Arbeit zu Ende bringen. Und höre: Da ist eine Stimme, ein Klagen, ein bitteres Weinen, Rahel weint um ihre Kinder, die es nicht gibt.
2Denn schon im zweiten Buch Mose steht der Befehl geschrieben, dem zufolge alle neugeborenen männlichen Kinder in den Fluss geworfen werden müssen. Dann erfüllt sich, was der Herr einst schon durch Jeremias gesagt hat. Denn der Herr hat gesagt: In Rama hat man ein Geschrei gehört, viel Weinen und Wehklagen; Rahel beweinte ihre Kinder und wollte sich nicht trösten lassen, denn es war aus mit ihnen.
3Unter Gottes Blick hier haben wir Namen, deren Träger ihrer Sünden wegen leiden müssen und nach der Strafe des Leidens vernichtet werden müssen wie Schädlinge.
4Durch uns erklärt Gott, welche unter uns Rechtgläubige und welche Abtrünnige vom Glauben sind.
Auf den Rückseiten der Bogen haben sie ihre unbegründeten Anschuldigungen auf folgende Art vermerkt:
John Bushell, allgemein sündiger Widersprecher.
Witwe Hodges, treibt in Gedanken Unzucht und ist auch in ihrem sonstigen Wirken zweifelhaft.
Noch schlimmer haben sie indes über mich geschrieben, obschon ich der treue Diener der Gemeinde und in Glaubensdingen die höchste Autorität auf der Insel bin.
Die verzerrten, verfälschten Anschuldigungen sind nichts anderes als die Vorbereitung und Anstachelung zu verbrecherischen Taten. Das Aufwiegeln zum Fanatismus, die Trennung von der Gemeinde und das Wirken in Isolation, die Verachtung der geistlichen wie der weltlichen Obrigkeit und das verwerfliche Geheimbündlerische künden von ihrer in jeder Hinsicht verzerrten Rechtschaffenheitsvorstellung sowie von falsch verstandenem und gefährlich verdrehtem Glaubenseifer. Wenn man in geistlicher Hinsicht schmal wie eine Messerklinge ist, bedeuten Gottes wahre Absichten, Seiner Worte Trost, Gnade und Rettung nichts.
Gott hat nicht zu ihnen gesprochen. Zu ihnen spricht Gott nicht. Eine falsche und in bestimmter Absicht vorgenommene Auswahl aus den Worten der Heiligen Schrift ist schlimmste Ketzerei.
Auf einer so kleinen Insel verschlingen sich Nachbarhass, Pläne zur persönlichen Rache und ein verzerrter Glaube zu einem Dickicht mit dornigen Zweigen. Der Herr bewahre uns vor allem Bösen und führe uns durch die düsteren Wälder auf helle Lichtungen.«