Читать книгу Die Himmelskugel - Olli Jalonen - Страница 15
ОглавлениеDIE UFER-BANSHEE HAT IHRE KLEIDER AUSGEZOGEN und auf die offene See gelegt, denn solche Kleiderflecken sehe ich weit draußen zwischen den Wellen. Niemand sonst kann sie sehen, weil kein anderer von dieser Stelle auf den Felsen aufs Meer schaut. Gibt es sie überhaupt, wenn niemand sie sieht? Aber weil ich sie sehe, gibt es sie. Die von der Banshee ausgezogenen Kleider sind ein schlechtes Omen, und am Rücken fühlt es sich an, als wäre es auf einmal kalt, und an den Fußsohlen, als würde ich über einem noch tieferen Abgrund stehen.
Die Ufer-Banshee haben schon manche gesehen, normalerweise nachts. Sie zieht nicht in Lumpen umher und ruft nach dem Tod, wie es die Berg-Banshee tut, sondern hat wenig an und watet in scheinbar flachem Wasser, lockt aber die Menschen zu sich ins Tiefe, vor allem Männer und Jungen. Meine Mutter hat erzählt, dass sie sie vielleicht einmal aus der Ferne gesehen hat, und darum hat sie mir verboten, allein auf die Uferfelsen zu gehen oder sogar in flachen Buchten zu schwimmen.
Du hast schon Verstand im Kopf, sagt meine Mutter, dabei trauert sie bereits jetzt um die Zeit, wenn Adam und Thomas wachsen und anfangen, durch die Gegend zu ziehen. Adam kann schon stehen und laufen. Thomas wird im August ein Jahr und fängt dann vielleicht an zu laufen. Thomas ist Adams Schatten, er sieht fast gleich aus, ist aber an jeder Stelle kleiner und dünner.
Als ich nach Hause komme, sage ich nicht einmal Ann, dass ich weit draußen auf dem Meer die ausgezogenen Kleider der Banshee gesehen habe. Man kann Ann nichts sagen, was man Mutter nicht sagen will.
Mutter ist in den Beeten, etwas zu essen holen, und Ann ist mit den Zwillingen im Garten, Zwiebelstängel sammeln. Thomas liegt auf der Seite und kratzt im Sand. Adam übt an der Wand tappeln. Laufen, das noch nicht Laufen ist, nennt man Tappeln. Wer so klein ist, hat den größten Teil noch vor sich und muss alles lernen. Ein Küken lernt es sofort, aber Adam und Thomas nicht, auch nicht in einem Jahr. Ein kleiner Mensch hat nicht einmal Zähne, sondern nur Hellrot im Mund.
Warum ist der Mensch am Anfang so jämmerlich?, frage ich Ann. Ann antwortet auf solche Fragen normalerweise nicht, aber jetzt steht sie aus der Hocke auf und bricht dabei trockene Spitzen von Zwiebelstängeln ab und lässt sie auf die Erde fallen.
Das ist so, weil man auf die Babys aufpassen muss, sogar mitten in der Nacht, sagt Ann. Das ist ungefähr das Gleiche, was Mutter gesagt hat, und auch wieder nicht, weil Ann es sagt. Das stimmt, sage ich und dann nichts weiter, obwohl es noch mehr gäbe, aber selten ist sich Ann bei etwas so sicher und schaut mich direkt an, normalerweise guckt sie nur kurz und blickt zumindest vor Fremden auf den Boden (weil sie eingeschüchtert wurde, sage nie etwas Böses zu Ann und nichts Lautes, Angus). So rede ich nie auch nur ein bisschen weiter.
Die Ankunft von Thomas hat Ann außer von außen auch von innen verändert. Sie ist jetzt oben dicker, aber an den Beinen und Armen dünner, und manchmal redet sie nur sehr wenig. Über das mit dem Reden ist Mutter traurig, aber auch darauf darf man nicht achten, damit nicht noch Schlimmeres passiert. Ich habe versprochen, dass ich jedenfalls nichts sage, sondern Ann helfe, wie ich Zeit habe und es kann. Bei den Fütterangelegenheiten der Zwillinge habe ich es bis jetzt nicht richtig gekonnt, weil das Frauensache ist, und auch Ann ist eine Frau.
Ich helfe Ann, wenn ich es kann und merke, dass sie Hilfe braucht. Das muss ich auch, denn ich bin der älteste Mann in der Familie (auch wenn man das nicht immer merkt, ach, Angus, was bildest du dir ein, sammle Holz und wälze keine leeren Gedanken, wir können uns nicht mehr leisten als das, was die Aufgaben von Herrn Hawley dir jetzt schon an Zeit wegnehmen und dir in den Kopf setzen, sogar Ann hat sich davon anstecken lassen, obwohl es sein kann, dass Herr Hawley nie wiederkommt, und damit müssen wir uns zufriedengeben, so viel ist sicher, und mehr kann man nicht tun, wir haben niemanden als uns).
Ich habe meine Mutter und Ann und seit einem Jahr Adam und fast genauso lang Thomas. Das ist nicht ganz wenig, und dann ist da noch alles andere.