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III.Gründe für ein Absehen von der Losaufteilung (§ 5 EU Abs. 2 Nr. 1 Satz 3 VOB/A)

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36Für die Prüfung der Frage, ob ein Auftrag, der aus theoretisch (mengenmäßig oder fachlich) trennbaren Leistungen besteht, ohne Losaufteilung vergeben werden darf, hat die Rechtsprechung zwei Prüfungsstufen entwickelt:51

37Prüfungsstufe 1 – Rechtfertigung mit Beschaffungszielen:52 Die Entscheidung des öffentlichen Auftraggebers, von einer Aufteilung in Lose abzusehen, kann bereits durch das mit der Vergabe angestrebte Beschaffungsziel gerechtfertigt sein: Zwar trifft den öffentlichen Auftraggeber gemäß § 97 Abs. 4 Satz 2 GWB, § 5 EU Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 VOB/A die Pflicht, Leistungen in Lose aufgeteilt zu vergeben. An ihre Grenzen stößt diese Verpflichtung jedoch, wenn eine Zerlegung in Teil- oder Fachlose aufgrund der konkreten Beschaffungsziele des Auftraggebers nicht in Betracht kommt. Das ist dann der Fall, wenn die Lose in ihrer Summe den mit dem Beschaffungsprojekt verfolgten (übergeordneten) Zielen des Auftraggebers nicht mehr entsprechen, wenn sich also die Gesamtleistung nicht in der Addition der Einzelleistungen erschöpft.53 Der Auftraggeber verfügt bei der Definition seiner Beschaffungsziele über einen großen Beurteilungsspielraum. Es ist grundsätzlich seiner Entscheidung vorbehalten, welche Beschaffungsziele er auf welche Weise erreichen möchte. Er ist im Ausgangspunkt frei, die auszuschreibende Leistung nach seinen individuellen Vorstellungen zu bestimmen und nur in dieser – den autonom bestimmten Zwecken entsprechenden – Gestalt den Wettbewerb zu eröffnen.54 Keinesfalls ist der öffentliche Auftraggeber verpflichtet, Ausschreibungen so zuzuschneiden, dass sich bestimmte Unternehmen daran beteiligen können. Denn der öffentliche Auftraggeber hat als Nachfrager nicht bestimmte Märkte oder Marktteilnehmer zu bedienen.55 Ebenso wenig muss er seine Ausschreibung an der Leistungsfähigkeit einzelner Leistungserbringer oder an deren geschäftspolitischen Entscheidungen oder Geschäftsmodellen ausrichten.56 Deshalb muss der Auftraggeber dem Grundsatz der Losvergabe nicht solche eigenen Beschaffungsinteressen opfern, die er nur durch eine kombinierte Vergabe erreichen kann.57 Die Pflicht zur Losaufteilung kann nicht so weit gehen, dass der Auftraggeber gezwungen wird, etwas anderes zu beschaffen als er selbst ausgeschrieben hat.58

Im Sinne einer richtlinienkonformen Auslegung der deutschen Normen sind dabei stets auch die Vorgaben der europäischen Vergaberichtlinien zu beachten. Richtlinie 2014/24/EU spricht in Erwägungsgrund 78 ausdrücklich von einer Verpflichtung der öffentlichen Auftraggeber, zu prüfen, ob eine Aufteilung eines Auftrags in Lose im konkreten Fall überhaupt sinnvoll ist.

38Solche übergeordneten Beschaffungsziele, die eine Aufteilung des Auftrags in Lose von Anfang an unmöglich machen, können beispielsweise insbesondere bei größeren Bauvorhaben Terminsicherheit59 und Kostensicherheit60 bei dem Gesamtvorhaben und die Qualität der Bauausführung sein. Diese Ziele dürfen jedoch kein Selbstzweck sein, sondern müssen übergeordneten, projektspezifischen Zielen dienen, die die Art und Weise der Beschaffung bedingen. Ebenso wenig ist die reine Absicht, eine Vergabe im Wege einer Generalunternehmervergabe durchzuführen, ein legitimes Beschaffungsziel, das eine Gesamtvergabe rechtfertigen würde, weil sich das Recht des Auftraggebers, den Beschaffungsbedarf zu definieren, auf den Beschaffungsgegenstand selbst, nicht aber isoliert auf die Art und Weise der Beschaffung bezieht.61

39Prüfungsstufe 2 – Rechtfertigung mit wirtschaftlichen oder technischen Gründen: Ergibt sich auf der ersten Prüfungsstufe, dass die benötigte Leistung auch in Form einer Vergabe in Losen beschafft werden könnte, wird auf der zweiten Stufe geprüft, ob trotzdem Gründe dafür sprechen, von einer Losaufteilung abzusehen. Gemäß § 5 EU Abs. 2 Nr. 1 Satz 3 VOB/A dürfen mehrere Teil- oder Fachlose ausnahmsweise zusammen vergeben werden, wenn wirtschaftliche oder technische Gründe dies erfordern.

40Den Prüfungsmaßstab definiert die Rechtsprechung folgendermaßen:62 Kommt eine solche Ausnahme in Betracht, hat sich der öffentliche Auftraggeber in besonderer Weise mit dem grundsätzlichen Gebot einer Losvergabe und den dagegen sprechenden Gründen auseinanderzusetzen. Im Rahmen der dem Auftraggeber obliegenden Entscheidung bedarf es einer umfassenden Abwägung der widerstreitenden Belange, als deren Ergebnis die für eine zusammenfassende Vergabe sprechenden Gründe nicht nur anerkennenswert sein, sondern überwiegen müssen. Für das Maß eines Überwiegens lassen sich keine allgemeinen Regeln aufstellen. Allein das Vorliegen vertretbarer Gründe reicht nicht aus. Aus dem Wortlaut „[…] dürfen zusammen vergeben werden, wenn wirtschaftliche oder technische Gründe dies erfordern“ folgt aber nicht, dass die Gesamtvergabe quasi „unausweichlich“ sein müsste. Die Erforderlichkeit einer Gesamtvergabe oder einer eingeschränkten Losbildung ist vielmehr daran zu messen, ob wirtschaftliche oder technische Gründe eine Unterteilung vernünftigerweise geboten erscheinen lassen. Daran sind vor allem in die Zukunft und auf die ordnungsgemäße Auftragsausführung zu richtende Überlegungen des Auftraggebers beteiligt. Die widerstreitenden Belange sind gegeneinander abzuwägen, wobei die Abwägung einen Wertungsüberhang für die Gesamtvergabe oder für den Verzicht auf eine kleinteiligere Losvergabe ergeben muss. Der mit einer Losvergabe allgemein verbundene Ausschreibungs-, Prüfungs- und Koordinierungsmehraufwand sowie ein höherer Aufwand bei Gewährleistungen können eine Gesamtvergabe für sich allein nicht rechtfertigen, weil es sich dabei um einen Losvergaben immanenten und damit typischerweise verbundenen Mehraufwand handelt, der nach dem Zweck des Gesetzes grundsätzlich in Kauf zu nehmen ist. Zu beachten ist aber auch, dass das Vergaberecht nicht nur Bieterrechte eröffnen, sondern auch wirtschaftliche Leistungsbeschaffung gewährleisten soll und der öffentliche Auftraggeber als Nachfrager durch seine Ausschreibungen nicht bestimmte Märkte oder Marktteilnehmer zu bedienen hat; vielmehr bestimmt er im Rahmen der ihm übertragenen Aufgaben den daran zu messenden Beschaffungsbedarf sowie die Art und Weise, wie dieser gedeckt werden soll. Die Entscheidung des Auftraggebers für eine Gesamtvergabe unterliegt dabei nur einer beschränkten rechtlichen Kontrolle durch die Nachprüfungsinstanzen. Denn dem Auftraggeber kommt bei der Entscheidung für eine Gesamtvergabe wegen der dabei anzustellenden prognostischen Überlegungen eine von den Nachprüfungsinstanzen nur beschränkt zu kontrollierende Einschätzungsprärogative zu. Die Entscheidung des Auftraggebers ist nur darauf zu überprüfen, ob sie auf einer vollständigen und zutreffenden Tatsachengrundlage beruht sowie aus vernünftigen Erwägungen heraus und im Ergebnis vertretbar getroffen worden ist bzw. nicht auf Fehlbeurteilungen, namentlich auf Willkür, beruht.

Die Gründe für eine Gesamtvergabe müssen sich aus dem Gegenstand der ausgeschriebenen Leistung selbst ergeben und dürfen nicht durch den Auftraggeber veranlasst sein.63 Es kann dabei ausreichend sein, wenn mehrere Gründe, die einzeln jeder für sich und isoliert betrachtet ein Absehen von einer Losaufteilung nicht rechtfertigen könnte, in einer Gesamtschau zusammengefasst eine Gesamtvergabe rechtfertigen.64 Der Auftraggeber kann sich unabhängig von früheren Ausschreibungen für einen bestimmten, abweichenden Loszuschnitt entscheiden, eine Selbstbindung an einen vorherigen Loszuschnitt besteht nicht.65 Ein Grund für eine Gesamtvergabe kann auch darin bestehen, dass eine Losaufteilung im konkreten Fall vergaberechtlich höchst angreifbar wäre.66 Nicht ausreichend ist eine lediglich einseitige Darstellung der durch den Verzicht auf die Losvergabe der Leistungen für den Auftraggeber erstrebenswerten positiven Effekte und der negativen Begleiterscheinungen, die bei einer Losaufteilung erwartet werden, erforderlich ist auch eine Auseinandersetzung mit den gegenüberstehenden Belangen.67

41Maßgebliche Kriterien für die Entscheidung des Auftraggebers können auch etwa die vorhandenen Ressourcen für das Auftragsmanagement und die Koordinierung der Bauausführung beim Bauherrn, spezifische technische Anforderungen und das Synergiepotenzial von Bündelungen sein.68 Da der mit einer Losvergabe allgemein verbundene Mehraufwand für den Auftraggeber69 ebenso wie der Wunsch, mit nur einem Auftragnehmer kommunizieren zu müssen70 nach Ansicht der Rechtsprechung grundsätzlich als Begründung für eine Gesamtvergabe nicht ausreichend sind, sind fehlende Ressourcen auf Auftraggeberseite für Vergaben im Rahmen des „Alltagsgeschäfts“ des konkreten öffentlichen Auftraggebers nicht ausreichend. Insofern wird den Auftraggeber eine Verpflichtung treffen, die erforderlichen Ressourcen aufzubauen. Anders kann dies jedoch bei einzelnen Projekten sein, die hinsichtlich des Umfangs oder der Komplexität als untypisch im Vergleich zu „Standardvergaben“ des jeweiligen Auftraggebers zu bewerten sind. Nach der Rechtsprechung können eine kombinierte Vergabe rechtfertigende wirtschaftliche und technische Gründe beispielsweise folgende sein, wobei in den Entscheidungen oftmals nicht streng zwischen wirtschaftlichen und technischen Gründen abgegrenzt wird:

– unverhältnismäßige Kostennachteile der Einzellosvergabe,71 wobei es einer tatsächlichen Glaubhaftmachung durch den öffentlichen Auftraggeber bedarf, etwa im Wege einer vorab durchgeführten summarischen Wirtschaftlichkeitsbetrachtung,72

– Synergieeffekte durch organisatorische und technische Gründe; beispielsweise, weil auf diese Weise Arbeiten parallel durchgeführt werden können, die ansonsten aufgrund der engen räumlichen Gegebenheiten auf der Baustelle nur nacheinander durchführbar wären,73

– Bauzeitverkürzung und Vermeidung von Bauzeitverzögerungen als übergreifendes Ziel, um z. B. einen vielbefahrenen Autobahnabschnitt der Allgemeinheit wieder zur Verfügung stellen und die Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs schneller wieder sicherstellen zu können74 oder sofern die Verzögerungen zu wirtschaftlichen Nachteilen führen,75

– Beschleunigungseffekt bei einer mehrschichtigen und komplex gelagerten Baumaßnahme durch Übertragung der Koordinierungs- sowie Bauleitungs- und Überwachungsaufgaben auf einen Generalunternehmer,76

– Gefahr einer unwirtschaftlichen Zersplitterung durch die losweise Vergabe,77

– „interdisziplinärer Managementaufwand“, der ein übergeordnetes Verständnis eines einzelnen Auftragnehmers erfordert, der idealiter als solcher als die Gesamtheit der Prozesse lenkender Einzelbieter auftritt,78

– Risiko urheberrechtlicher Streitigkeiten bei Einzellosvergaben,79

– Vorteil der Verlängerung der Verjährungsfrist gemäß § 13 Abs. 4 Nr. 2 VOB/B bei Übertragung der Wartungsleistungen auf den Anlageninstallateur,80

– Erzielung von technischen und wirtschaftlichen Vorteilen durch Wahl eines innovativen Ansatzes in Form einer funktionalen Ausschreibung und durch Übertragung von Gesamtverantwortung, bei der dem Auftragnehmer Anreize für eine betriebswirtschaftlich „intelligente“ Herangehensweise geschaffen wird, die gleichzeitig zu geringen Verfügbarkeitseinschränkungen bei Instandsetzungsmaßnahmen führen soll,81

– Erhöhung der Systemsicherheit und Verfügbarkeit verschiedener Komponenten der Sicherheitsanlage einer Justizvollzugsanstalt (Bauleistungen)82 bzw. verschiedener Komponenten eines digitalen Alarmierungssystems für die nichtpolizeiliche Gefahrenabwehr (Lieferleistungen),83

– Vorteil der gemeinsamen Beschaffung von 3649 digitalen Meldeempfängern für die Feuerwehren in diversen Gemeinden (Lieferleistungen) aus technischen Gründen, um zu verhindern, dass aufgrund unterschiedlicher Verschlüsselungssysteme Meldungen nicht gleichzeitig empfangen werden könnten, um standortübergreifende gemeinsame Schulungen durchführen und einen Austausch von Ersatzteilen ermöglichen zu können,84

– Die durch ein Fachgesetz (hier Medizinproduktegesetz) geforderte Vorlage einer Systemerklärung bei der Kombination gefahrgeneigter Geräte nicht erst bei Verwendung des zusammengesetzten Produkts, sondern schon vor dessen Inverkehrbringen, ist ein sachliches Erfordernis, von der ansonsten gemäß § 97 Abs. 4 Satz 2 GWB gebotenen Fachlosvergabe abzusehen.85

Praxiskommentar VOB - Teile A und B

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