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Die Kriegsmaschinerie
ОглавлениеSchnell werde der Krieg beendet sein, ist bei Kriegsausbruch die allgemeine Ansicht in der Heimat. Doch schon bald holt die Realität diese Wunschvorstellung ein. Die großen Verluste an Aktiven, Reservisten und insbesondere auch Kriegsfreiwilligen führen zu einem erhöhten Bedarf an Rekruten. Die reguläre Einberufung, die vor dem Krieg erst bei 20-Jährigen einsetzte, wird vorverlegt. Die Zahl der Wehrpflichtigen in der Zeit bis 1918 beläuft sich auf durchschnittlich eine halbe Million pro Jahr. An der Front kommen allerdings zunächst weniger an, was an unzulänglicher Gesundheit oder Zurückstellung aus wichtigen beruflichen Gründen liegt. Im Laufe der Zeit werden viele dieser Männer aber nachgemustert und anschließend doch einberufen. Ähnliche Probleme haben im Übrigen auch die Alliierten. So sieht sich England, das zu Anfang des Krieges mit seinem Berufsheer auszukommen meint, 1916 zu einer allgemeinen Aushebung gezwungen.
Die Ausbildung auf deutscher Seite erfolgt vornehmlich in den Ausbildungszentren Altengrabow, Arys, Bitsch, Darmstadt, Döberitz, Elsenborn, Friedrichsfeld, Grafenwöhr, Gruppe, Hammelburg, Hammerstein, Heuberg, Jüterbog, Königsbrück, Lamsdorf, Lechfeld, Lockstedt, Münsingen, Munster, Neuhammer, Oberhofen, Ohrdruf, Orb, Senne, Warthe, Zeithain und Zossen. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen in Belgien und Russland kommen noch Beverloo und Warschau hinzu. Um auf Verluste kurzfristig reagieren und den Ersatz gezielter einsetzen zu können, werden die Rekruten häufig noch einige Tage in den Feldrekrutendepots der einzelnen Divisionen untergebracht. Diese Lager befinden sich unmittelbar hinter den Frontabschnitten.
Auch in der Heimat muss man sich dem Krieg stellen. Während im Winter 1914 eine Güterknappheit noch unvorstellbar ist, werden Nahrungsmittel bald staatlich rationiert. Die Kartoffel-Missernte von 1916 führt zum Kohlrübenwinter 1916/17, dessen Entbehrungen noch lange in der Erinnerung der Bevölkerung nachwirken werden. Die Blockade Deutschlands durch die Alliierten wirkt sich aus. Den schon damals für die deutsche Wirtschaft so wichtigen Exporten ist nun ein Riegel vorgeschoben. Darüber hinaus macht sich jetzt die Abhängigkeit von Importen negativ bemerkbar. Gegen Kriegsende müssen so zum Beispiel Altmetallsammlungen durchgeführt werden. Überall fehlt es zudem an Arbeitskräften. Bis Ende 1914 ist ungefähr ein Drittel der Industriearbeiter eingezogen, und die Heeresstärke steigt im Verlauf des Krieges ja noch an. Vermehrt werden klassische Männerberufe nun von Frauen ausgefüllt. Zahlreiche Facharbeiter müssen von ihren Betrieben als unabkömmlich angefordert werden. Die Zahl der vom Kriegsdienst Zurückgestellten nimmt zum Kriegsende hin weiter zu und erreicht 1,2 Millionen im Jahr 1918. In der Landwirtschaft kommt noch der Mangel an Pferden hinzu, die ebenfalls an der Front im »Einsatz« sind.
Die Rüstungswirtschaft hat Priorität. Die Betriebe müssen reibungslos arbeiten. Im Verlaufe des Krieges werden deshalb die Gewerkschaften schrittweise aufgewertet. Der Staat akzeptiert in größeren Betrieben die Errichtung von Arbeiter- und Angestelltenausschüssen, Vorläufern der Betriebsräte. Basis für diese Entwicklungen ist der Burgfriede, den die Sozialdemokratie am 4. August 1914 mit dem monarchischen Staat getroffen hatte. Diejenigen Sozialdemokraten, die sich mit dieser Linie nicht anfreunden können, vereinigen sich im April 1917 in der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (USPD). Finanziert wird der Krieg schlicht durch die Erhöhung der Geldmenge über Kredite und Anleihen, womit der Keim für die Nachkriegsinflation ausgebracht ist.
Wer im Krieg nicht getötet wird, wird durchschnittlich einmal verwundet. Zu dieser verkürzten Aussage gelangt man bei sehr oberflächlicher Auslegung einiger Zahlen, die der erst 1935 erschienene Sanitätsbericht über das deutsche Heer im Weltkrieg 1914 bis 1918 enthält. Bei einer Stärke des gesamten deutschen Heeres im Jahre 1917/18, die hier mit 7,1 Millionen Mann angegeben wird, weist er die erschreckende Zahl von 1,9 Millionen toten Deutschen und 5,6 Millionen Verwundungen aus. Hinzu kommen noch unzählige Erkrankungen. Artilleriegeschosse sind mittlerweile Grund für jede zweite Verletzung. Im Krieg 1870/71 ging auf sie lediglich ein Zwölftel der Verwundungen zurück. Es dominierten Schussverletzungen. Etwa 70000 Mal müssen auf deutscher Seite Soldaten mit Gasvergiftungen in die Lazarette aufgenommen werden, ganz abgesehen von den vielen Gastoten auf allen Seiten.
Der Sanitätsdienst ruht auf verschiedenen Fundamenten. In den Bataillonen, Artillerieabteilungen und gleichgestellten Einheiten stehen als Teil der kämpfenden Truppe Bataillonsärzte, Sanitäter und je Infanteriebataillon sechzehn Krankenträger bereit. Der Truppensanitätsdienst hat einfache Schutzverbände bei marschfähigen Verwundeten anzulegen und diese zum Leichtverwundetensammelplatz weiterzuleiten sowie schwerer Verwundete in die Sanitätskompanien und Feldlazarette zu überführen. Mit dem beginnenden Stellungskrieg und der zunehmenden Artillerieeinwirkung müssen frontnahe und schusssichere Bunker für die erste Behandlung geschaffen werden. Im zweiten oder dritten Graben des Kompanieabschnitts wird etwa fünf Meter unter der Erde ein artilleriesicherer Sanitätsunterstand eingerichtet, in dem durch den Sanitätsunteroffizier der Kompanie Erste Hilfe geleistet wird. 500 Meter weiter im Hinterland befindet sich der Bataillonsunterstand und zwei bis drei Kilometer zurück der Regimentsunterstand für bis zu 100 Verwundete. Hier bedient man sich schon des Personals der gesonderten Sanitätskompanie der Division, die zudem für den Abtransport zum Hauptverbandsplatz verantwortlich ist. Die Hauptverbandsplätze der Infanteriedivisionen liegen zehn oder mehr Kilometer hinter der Front in noch unbeschädigten zivilen Unterkünften, in Baracken oder je nach Frontabschnitt auch in Bunkersystemen. Nicht weit dahinter befindet sich das erste Feldlazarett, untergebracht in einer Kirche, Schule oder ähnlichen Gebäuden. Zum Gesamtsystem der medizinischen Verwundetenbetreuung gehören schließlich die Kriegslazarette und die Reservelazarette in der Heimat, die selbst in Fabriken oder Privatvillen Platz finden. Sowohl beim Feldheer als auch in der Heimat gibt es 1918 etwa je eine halbe Million Lazarettbetten. Das gesamte Versorgungssystem funktioniert nur durch den Einsatz eines ausgeklügelten Transportwesens, an das bei größeren Angriffen noch weit höhere Anforderungen gestellt werden.
Im Heer sind im Ersten Weltkrieg 25000 Ärzte eingesetzt, davon ein Viertel in der Heimat. Die großen Verluste führen zu unkonventionellen Maßnahmen. Seit 1916 werden Mediziner mit wenigstens zwei klinischen Semestern zu Feldunterärzten ernannt. Neben dem militärischen Sanitätsdienst leistet auch die »Freiwillige Krankenpflege« Großes. 202000 Menschen nehmen hieran teil, christliche Ritterorden, die Vereinsorganisationen des Roten Kreuzes, Freiwillige aus dem In- und sogar dem neutralen Ausland. 66000 hiervon sind im Kriegsgebiet tätig, unter ihnen 19000 Frauen. Gemeinsam kämpfen sie gegen das Elend in den Lazaretten an. Etwa 300000 Soldaten sterben in ärztlicher Behandlung. Beinahe drei Viertel aller Operationen, die in den Lazaretten durchgeführt werden, sind Amputationen. Die Sterblichkeitsrate bei Amputationen, im Krieg 1870/71 noch 54,5 Prozent, kann deutlich gesenkt werden. Trotzdem sterben bei Oberschenkelschussbrüchen noch 23,3 Prozent der Verwundeten. Die Überlebenden haben sich von nun an auf ein Leben mit all seinen verwundungsbedingten Einschränkungen einzustellen.
Die Lazarette befinden sich im Hinterland der Front. Dieses ist im Übrigen auch das Gebiet der klassischen Etappe, die, so der Wortlaut der Kriegsetappenordnung vom 12. März 1914, »der Heeresversorgung durch Zuführung von Streitkräften und Heeresbedürfnissen, durch Ausnutzung der Hilfsmittel und Vorräte des Kriegsschauplatzes und durch Übernahme und Ableitung von allem, was das Feldheer in seiner Verwendungsfähigkeit behindern kann«, dient. Das gesamte Etappengebiet gliedert sich gegen Kriegsende in 354 Etappen-Kommandanturen mit vielfältigen Aufgaben. Durchführung des Nachschubs an Truppen und Munition mit zahlreichen Lagern und Depots, Aufnahme der Kriegsgefangenen, Spionageabwehr, Kassenverwaltung, Feldpostwesen, um nur einige der markantesten Aufgaben hervorzuheben. Den Etappenoffizieren stehen zunächst Landwehreinheiten zur Verfügung, die jedoch schon bald an der Front eingesetzt werden müssen und durch Landsturmformationen ersetzt werden.
Bei alledem darf man nicht vergessen, dass sich das Etappenleben im engeren Sinne nur auf feindlichem Boden abspielt, das heißt, es gibt zahlreiche kriegsnotwendige Schnittstellen mit der lokalen Verwaltung und Bevölkerung. Die Etappenverwaltung kontrolliert die einheimischen Polizei- und Gemeindebehörden, zensiert die Presse vor Ort und überwacht die Post. Die Zivilbevölkerung wird zur Arbeit herangezogen. Das in Frankreich erforderliche Geld wird durch Zwangsauflagen den dortigen Gemeinden abgenötigt, im Osten werden Steuern erhoben. Landwirte in den besetzten Gebieten müssen Erzeugnisse der Landwirtschaft und der Viehzucht abgeben für einen Krieg gegen ihre Landsleute auf der anderen Seite. Gleiches geschieht mit Industrieerzeugnissen.