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Geschichte des Ersten Weltkriegs Vorkriegszeit

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Als die Rekruten des Ersten Weltkriegs in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts geboren werden, liegt der letzte Krieg Deutschlands mit einer europäischen Macht schon eine Generation zurück. Der deutsch-französische Krieg von 1870/71 bricht im Juli 1870 aus. Am 2. September 1870, am Ende einer klassischen Entscheidungsschlacht, kapituliert die Armee Napoleons III. mit 100000 Soldaten bei Sedan. Frankreich, nun Republik, führt in den Folgemonaten bis zum Waffenstillstand am 18. Januar 1871 einen Volkskrieg. Bewaffnete französische Zivilisten, Franktireurs – im heutigen Sprachgebrauch also Partisanen oder Guerillas – bestimmen in dieser Phase den Krieg. Wie im amerikanischen Bürgerkrieg kommt es in Abschnitten der Front zum Stellungskrieg. Der Sieg bringt Deutschland neben dem Gewinn Elsass-Lothringens und einem tiefen deutsch-französischen Gegensatz die Gründung des Deutschen Reiches.

Die Reichsgründung legt den Grundstein für eine rasante und grundlegende Veränderung Deutschlands. Mit der Gründerzeit einher geht eine Industrialisierung, die ihresgleichen sucht. War 1867 noch gut die Hälfte der Beschäftigten in der Landwirtschaft, den Forsten und der Fischerei tätig, ist dies 1913 nur noch etwa ein Drittel. Damit ist die von großen Krisen erschütterte Landwirtschaft zwar noch ein Hauptpfeiler der Wirtschaft, die Proportionen aber haben sich verschoben. Die Kohle-, Eisen- und Stahlindustrie boomt ebenso wie die Metallverarbeitung, darunter insbesondere der Schiffbau. Wachstumsbranchen der Folgejahre sind die chemische Industrie sowie die Elektroindustrie. Auch der Dienstleistungssektor mit dem Verkehrswesen, dem Handel und z.B. den Banken und Versicherungen legt kräftig zu. »Ältere« Industriezweige wie die Textilindustrie hinken dieser Entwicklung hinterher. Mit dem Veränderungsprozess der Wirtschaft geht eine rapide Verstädterung einher. Das wirtschaftliche Wachstum fördert zudem neben zahlreichen anderen zeitspezifischen Faktoren einen beträchtlichen Bevölkerungsanstieg von 39,8 Millionen im Jahr 1866 auf 67,8 Millionen in den erweiterten Grenzen des Deutschen Reiches von 1914. Die Verwaltung passt sich diesen Veränderungen an. Die Ordnungsfunktionen, die der Staat nun übernimmt, nehmen erheblich zu. Eine vielfältige Wirtschafts- und bald auch Sozialverwaltung mit zahlreichen Sonderbehörden entsteht.

Das Bürgertum geht gestärkt aus dieser Zeit hervor. Der Bürger bestimmt nun nicht nur das Wirtschaftsleben, sondern auch den städtischen Alltag und die Kultur. Die politische Macht liegt aber immer noch beim Adel. Behördenchefs wie beispielsweise Landräte, Regierungs- und Polizeipräsidenten und natürlich Minister werden nach wie vor vornehmlich mit Adligen besetzt. Zudem stellen sie mehrheitlich das Offizierkorps. An dieser wie auch an anderen Stellen der Gesellschaft des Kaiserreichs wird somit tagtäglich ein erhebliches Maß an Differenzierung spürbar, am deutlichsten erkennbar am Dreiklassenwahlrecht Preußens – immerhin 60 Prozent der Bevölkerung des Reiches –, das, anders als das allgemeine und gleiche Wahlrecht zum Reichstag, nicht geheim ist und das Gewicht der Stimme insbesondere von der Steuerleistung abhängig macht. Frauen sind in jeder dieser Wahlordnungen von der Wahlbeteiligung ausgeschlossen.

Trotz aller gesellschaftlichen Änderungen bleibt das Militär sozial privilegiert. Die Siege gegen Dänemark 1864, gegen Österreich 1866 und insbesondere der Krieg 1870/71 haben dem Militär – dominiert vom preußischen Militär – in ganz Deutschland zu einer ungefährdeten Stellung an der Spitze der Gesellschaftspyramide verholfen. Alle deutschen Männer vom 17. bis zum 45. Lebensjahr sind wehrpflichtig. Der Einberufungsbescheid erreicht den Wehrfähigen in Friedenszeiten während des 20. Lebensjahres. Die Dienstzeit dauert für die Infanterie zwei, für die Kavallerie drei Jahre. Darauf folgt eine vier- bzw. fünfjährige Zugehörigkeit zur Reserve, in der der Reservist mit seiner Einheit verbunden bleibt. Anschließend gehört er elf Jahre der Landwehr und sieben Jahre dem Landsturm an. Reserveoffiziere genießen hohes Ansehen, das für ihre gesamte Lebensführung und soziale Stellung von großer Bedeutung ist. Markant ist die Verzahnung von schulischem Abschluss und militärischer Karriere. Der gymnasiale Abschluss des »Einjährigen«, vergleichbar heute am ehesten der mittleren Reife, ist Grundvoraussetzung dafür, einmal Reserveoffizier zu werden. Daneben beschert das Einjährige einen verkürzten Militärdienst von nur einem Jahr. Keine Begebenheit belegt das hohe Ansehen des Offiziers und des Militärischen besser als die wahre Begebenheit des »Hauptmanns von Köpenick«. Mannschaftsgrade erwerben nach mehrjährigem Militärdienst das Recht auf eine Übernahme in den Staatsdienst, insbesondere bei der Polizei oder beispielsweise der Eisenbahnverwaltung. Militärische Kategorien wie Gehorsam und Pflichtbewusstsein finden so vermehrten Eingang in die Gesellschaft und untermauern den Obrigkeitsgedanken.

Diese Fassade eines zwar differenzierten, aber doch auf einige Grundwerte ausgerichteten Gesellschaftsgebildes ist allerdings nicht ohne Risse. Da gibt es beispielsweise in Preußen auf dem Boden des alten Königreichs Hannover, das 1866 zu existieren aufgehört hatte, weiterhin die idealisierende Verehrung der Welfen, gleichbedeutend mit der Ablehnung Preußens und der Hohenzollern. Von ungleich größerer Bedeutung ist in diesem Zusammenhang jedoch das Aufkommen der Arbeiterbewegung und der Sozialdemokratie. 1882 beläuft sich der Anteil der gewerblich tätigen lohnabhängigen Arbeiter noch auf 23,7 Prozent der Erwerbstätigen. 1907 sind es dann bereits 33,5 Prozent. Große soziale Spannungen gehen mit dieser Entwicklung einher. Das Sozialistengesetz, die Sozialgesetzgebung stehen für eine Vielzahl von Themen in den Anfängen der Arbeiterbewegung, die am Vorabend des Ersten Weltkriegs eine SPD an ihrer Spitze weiß, die mit 34,8 Prozent der Stimmen mit nennenswertem Vorsprung vor dem Zentrum stärkste Partei des Reichstages ist.

Selbst in bürgerlichen Familien rumort es. Aus zarten Anfängen 1896 in Berlin-Steglitz entsteht die Wandervogel-Bewegung. Sie versucht, den Einzelnen aus den bürgerlichen Lebensformen, der Geborgenheit der Stadt, der Welt der Väter und der Enge der Schulen zu lösen. Der Gang in die Natur, das gemeinsame Wandern und Singen, die erträumte Heimatlosigkeit, ja in Anklängen Züge eines Vagabundierens stellen eine Form der Rebellion gegen die Erwachsenenwelt dar, mit der eingangs des Jahrhunderts viele Jugendliche in Berührung kommen. Zunächst nur aus Jungengemeinschaften bestehend, schließen sich bald auch Mädchen dieser Bewegung an. Höhepunkt ist 1913 der Freideutsche Jugendtag auf dem Hohen Meißner bei Kassel, ein Gegenfest zu den landesweiten Hundertjahrfeiern der Völkerschlacht bei Leipzig und dem 25-jährigen Regierungsjubiläum Wilhelms II. Zu dem eher aus bürgerlichen Ursprüngen erwachsenen Wandervogel gesellen sich kirchliche Jugendvereinigungen und Gruppierungen der Arbeiterjugend. Am Vorabend des Ersten Weltkriegs befinden sich weite Teile der deutschen Jugend im Aufbruch.

Das Deutsche Reich unter Bismarck bis 1890 hatte die außenpolitische Stellung, die es nach dem Sieg über Frankreich erworben hatte, festigen und ausbauen können. Die bismarcksche Linie der Außenpolitik geht unter seinen Nachfolgern verloren. Deutschlands allzu lautes Streben nach einer kräftigen Beteiligung an der Weltmacht – Mittel hierzu sollte insbesondere eine starke Flotte sein – ruft seine Hauptkontrahenten mit England an der Spitze auf den Plan und führt Mächte zusammen, die bislang selbst mit Gegensätzen zu kämpfen hatten. 1907 wird der Grundstein für eine Triple-Entente zwischen Frankreich, Russland und England gelegt, die sich in den kommenden Jahren bewähren soll. Anlässe hierfür gibt es genug: vielfältige Krisenherde in Afrika, insbesondere aber auf dem Balkan. Dort geraten auf dem Boden des zerfallenden Osmanischen Reiches zunehmend Staaten wie Serbien, Bulgarien, Montenegro und Griechenland, ferner die Großmächte Österreich-Ungarn und Russland aneinander.

Eingangs des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts ist Deutschland völlig isoliert, sieht man von dem Dreibund mit Österreich und Italien ab, der wegen seiner Nähe zu den Problemen auf dem Balkan Unheil verheißt. Die Schuld für diese Auskreisung sucht man nicht bei sich, sondern interpretiert sie wehleidig als gegnerische Einkreisung. In den militärischen Planungsstäben hatte man aber schon weit eher auf die Risiken eines Zweifrontenkrieges reagiert. Auf Graf Alfred von Schlieffen, Chef des deutschen Generalstabs von 1891 bis 1905, geht der folgende Kriegsplan zurück: im Hinblick auf die schwerfällige russische Kriegsmaschinerie eine rasche Entscheidung im Westen, dabei Umgehung der französischen Festungslinie im Osten und Nordosten des Landes durch einen Schwenk hauptsächlich durch das neutrale Belgien und Umfassung des französischen Heeres. Im Osten, dem sich erst nach dem Sieg über Frankreich zugewandt werden soll, und in Elsass-Lothringen werden zunächst nur relativ schwache Truppenkontingente eingesetzt. Entscheidend ist beim Schlieffen-Plan die Stärke des rechten Flügels, dem nach knapp vier Wochen die schwierige Aufgabe zukommt, Paris zu umfassen. »Macht mir den rechten Flügel stark«, beschwor von Schlieffen am 4. Januar 1913 auf seinem Sterbebett den Generalstab.

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