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Zeugnisse
ОглавлениеHans Seidelmann, geb. 1898:
Mein Vater war Reserveoffizier, selbstverständlich ganz vaterlandstreu eingestellt. Ich bin in Schlesien aufgewachsen und lebte als Kind in dem wundervollen und sehr bekannten Bad Kudowa. Es war ein ganz kleiner Ort mit wenigen Einwohnern, in dem nur im Sommer Hochbetrieb herrschte. Im Winter war es ein verschlafenes, verträumtes, entzückend in den Bergen gelegenes Örtchen. Da konzentrierte sich das Familienleben in erster Linie auf die Kunst. Ich kann mich nicht erinnern, dass ich einen Abend in meinem Elternhaus erlebt habe, an dem nicht nach dem Abendessen meine Mutter, eine glänzende Pianistin, und mein Vater, ein begeisterter, hervorragender Sänger, Stücke von Schubert oder anderen Komponisten gespielt haben. Dies sind Erinnerungen, an denen ich noch heute in tiefer Verehrung hänge. Meine Eltern stellten einen Mittelpunkt in Bad Kudowa dar. Es gab dort vorwiegend Ärzte, das andere waren die Hausvermieter, die den ganzen Winter nichts zu tun hatten und sich fürchterlich langweilten.
Der Haltung in meinem Elternhaus entsprach es, dass mein Vater aus innerer Begeisterung in vielen Institutionen führend war. Wenn etwas los war, spielte er eine bestimmende Rolle. Wir wollen gar nicht vom 27. Januar, Kaisers Geburtstag, sprechen. Zuerst erschien der Kriegerverein mit Fahnen. Jeder, der noch eine Uniform tragen durfte, marschierte darin durch den Ort. Dann wurden Festreden gehalten. Mein Vater war immer unter den Rednern. Abends fand ein Ball oder sonst eine gesellschaftliche Veranstaltung statt, wo der Gesangsverein sang und wo auch mein Vater singen musste. In Glatz, unserer Kreisstadt, lag das Regiment 38, und die 38er hatten eine sehr gute Kapelle, die oft im Sommer in Kudowa engagiert wurde. Einmal hat meine Vater an Kaisers Geburtstag mit dieser Kapelle den Prolog des Bajazzo von Leoncavallo gesungen.
Mein Vater wollte gern, dass ich, wenn ich das Einjährige hätte, bei den Husaren dienen sollte. Als ich mit sechs Jahren in die Schule kam, stellte man fest, dass ich ein ganz schlechtes Auge hatte. Meine Mutter fuhr mit mir nach Glatz zum Augenarzt, der gleichzeitig auch die Untersuchungen fürs Militär vornahm. Er sagte meiner Mutter: »Mit einem müssen Sie sich abfinden, zum Militär kommt er nie.« Ich sage ganz ehrlich, ich war nicht unbedingt traurig darüber, denn ich bin kein Sportsmensch gewesen. Als wir dann aber nach Kudowa zurückkamen und das erzählten, war mein Vater tief unglücklich, weil ich nicht des Kaisers Rock tragen würde.
Da es in Kudowa keine höherere Schule gab, musste ich mit zehn Jahren aus dem Elternhaus weg. Das war fürchterlich für mich. Ich kam nach Brieg, wo ich mit einigen anderen Schülern in einer Pension wohnte. Wir hatten in Brieg einen sehr, sehr guten Deutschlehrer, den alten Professor Prillwitz, der uns Jungen viel erzählte von der Flucht der Königin Luise nach Breslau, vom Breslauer Schloss, in dem König Friedrich Wilhelm III. den Aufruf »An mein Volk« unterschrieb und in dem er auch das Eiserne Kreuz gestiftet hatte.
Dann wurde draußen in Breslau-Scheitnig die Jahrhunderthalle gebaut. Die unglaubliche Bedeutung dieser Halle, die größte freitragende Halle bis zum Zweiten Weltkrieg, haben wir Jungen gar nicht erfasst. Einmal durfte ich für einen Sonntag – dazu benötigte man natürlich die Genehmigung des Klassenlehrers – den Ort verlassen und die 40 Kilometer nach Breslau mit dem Zug fahren, eine Stunde D-Zug. Mein Vater kam von Kudowa und wir trafen uns. Er führte mich auf die Jahrhundertausstellung. Da hatte man vorher schon viel drüber gehört, aber komischerweise meist von dem angegliederten Vergnügungspark mit den lustigen Rohrböden und all diesem Unsinn. In der historischen Halle waren Uniformen, der Fluchtwagen der Königin Luise und andere Dinge zu bestaunen. Das hat mich ganz unglaublich begeistert.
Vor dem Krieg waren auch die Auseinandersetzungen Österreichs mit den Türken, zu denen sich einige freiwillig meldeten. Da wir unmöglich Soldaten werden konnten, haben wir Jungen aus der Pension uns überlegt, ob wir uns nicht als Krankenträger melden sollten. Wir hätten aber nie eine Trage schleppen können, weil wir dafür zu jung waren. Bis zum Ersten Weltkrieg gehörte es einfach dazu, dass der männliche Teil einer Familie gedient hatte. Er wurde dann meistens als Unteroffizier entlassen. Hatte man dann die erste Übung hinter sich, ging man als Feldwebel ab. Wenn möglich sollte man natürlich Leutnant sein. In einem kleinen Ort wie Kudowa kannte natürlich jeder jeden. Wenn da im Frühjahr bei der Musterung einer zurückgestellt worden war, tanzte auf der nächsten Kirmes kein Mädel mit ihm. So war es damals. Da war die Vaterlandsliebe und die damit zusammenhängende Königs- und Kaisertreue in der ganzen Bevölkerung. Wenn sie dann eingezogen wurden und kamen das erste Mal auf Urlaub und hatten ihre zweite Garnitur an, da freute sich eben alles und es wurde an die Fenster gerannt.
Hermann Kottmeier, geb. 1897:
In Wilhelmshaven erschien jedes Jahr zwei- bis dreimal Seine Majestät Kaiser Wilhelm II., dann nämlich, wenn auf der Werft ein Schiff vom Stapel gelassen wurde oder sonst irgendein großes militärisches Ereignis stattfand. Wir Schüler standen dann Parade, alle vier Schritt ein Soldat und dazwischen zwei Schüler. Wenn die Kutsche an uns vorüberfuhr, schwenkten wir unsere Mützen und riefen »Hurra!«. Das haben wir gerne gemacht, das war festlich. Und die meisten von uns haben gedacht, der Lakai auf dem Kutschbock mit dem wehenden Federbusch, das müsste der Kaiser sein. Seine Majestät hingegen hatte die blaue Admiralsuniform an, und solche Uniformen kannten wir, die waren nichts Besonderes. Die politische Stimmung war ziemlich einheitlich. Es war der Standesstaat, sehr gestaffelt. Der mittlere Beamte, der höhere Beamte, der Akademiker, der Offizier vor allen Dingen, das waren wichtige Stufen. Ich war Tertianer, als mein Vater nach Hildesheim versetzt wurde. Es war eine sehr zivile Stadt, dort gab es keine kaiserliche Marine, allerdings das Infanterie-Regiment 79. Abends blies von der Kaserne her der Hornist »Die Soldaten müssen zu Bette gehn und dürfen nicht bei den Mädchen stehn, trara«. Das klang dann über die Stadt, und wir freuten uns. Die Soldaten gehörten dazu.
Ernst Kock, geb. 1896:
Es kam das Jahr 1904. 1904 war in unserer Gegend das offizielle Kaisermanöver. Mühlen-Eichsen, das ist der Knotenpunkt zwischen Schwerin, Grevesmühlen, Wismar und Gadebusch. Der Gegner des Kaisers war der General von Bock und Polach. Auf einmal hieß es: »Der Kaiser kommt zum Biwak.« Auf dem Gutsgelände wurde ein großes Zelt errichtet, was ein paar Tage dauerte. Wir Jungens waren natürlich die ganze Zeit dabei. Immer wieder erschienen neue Soldaten und Einheiten in ihren bunten Uniformen, die graue Uniform kannte man seinerzeit ja noch nicht. Am Ende des Gutes war eine große Buchenhecke. Der Kaiser zog in das Zelt ein. An der Seite der Hecke stand alle Meter ein Soldat als Posten. Aber dazwischen gelang es uns, unseren Kopf durch die Hecke zu stecken, und ich hatte in einem Moment das Glück, den weiten Mantel des Kaisers direkt anfassen zu können.
Kaiser Wilhelm durfte ja nun das Kaisermanöver nicht verlieren. Diesmal war es aber so, dass der General von Bock und Polach die Truppen des Kaisers eingekreist hatte. Ursprünglich sollte Prinz Heinrich, der Bruder des Kaisers, mit der Ostseeflotte eingreifen, aber das hat nicht so geklappt, oder die haben sich missverstanden. Jedenfalls wurde festgestellt, dass der Kaiser die Schlacht verloren hatte. In den Zeitungen wurde überall davon berichtet, und der General hat wahrscheinlich auch mit seinem Sieg ein bisschen renommiert. Schließlich kam dann so eine politische Angelegenheit und der General von Bock und Polach musste seinen Hut nehmen. Es dauerte aber noch lange, bis in der Bevölkerung das Kaisermanöver und die Niederlage des Kaisers in Vergessenheit gerieten.
Eduard Zielke, geb. 1895:
Ich wurde am 15. November 1895 in Danzig geboren. In Danzig wohnte der Kronprinz. Ich habe ihn öfters im Jagdwagen gesehen. Er war der Chef des 1. Regiments. Der Kronprinz hatte auf dem Lang-Markt am Grünen Turm sein Stammlokal. Zurück fuhr er mit dem Pferdewagen durch die Lang-Gasse, die Hauptstraße, da war das große Juweliergeschäft »Bros, Stumpf und Sohn«. Dort stand er immer und sah sich die Schaufenster an. Einmal, als die Universität eingeweiht wurde, besuchte der Kaiser mit seiner Frau Auguste Viktoria Danzig. Ich war zufällig in der Stadt, da kamen sie im offenen Fuhrwerk an und haben das Lokal besucht, wo der Kronprinz abends immer sein Bierchen getrunken hat. Ich habe sie von ganz nahe gesehen und mich gefreut, dass ich dieses Glück hatte. Auch Prinz Louis Ferdinand habe ich gesehen, als er drei Jahre alt war. Ich bin einmal an der Villa des Kronprinzen vorbeigegangen und er spielte im Garten.
Otto Porath, geb. 1893:
Ich muss zurückgehen auf ein Erlebnis, das ich mit zehn Jahren hatte und das für mein späteres Leben bestimmend war. Im Jahre 1903 hörten wir im Schulunterricht vormittags, so um halb neun, plötzlich ein furchtbares Gewehrgeknatter. Die Schule lag direkt an der Straße nach Wangerin. Wir rannten alle raus, der Lehrer mit uns. 300 Meter entfernt von unserer Schule war ein Manöver in vollem Gange. Ich sah das erste Mal in meinem Leben, wie Soldaten einen Graben aushoben und wie die Kavallerie Attacken ritt. Wir haben uns das angesehen, dann sagte der Lehrer: »Nun zurück, marsch, marsch!« Kaum saßen wir wieder in der Schule, kam eine Batterie Artillerie vorbeigefahren, mit je sechs Pferden bespannt. Die Schule war dann zu Ende, und ich bin mit einigen Kameraden mitgelaufen, 15 Kilometer, bis die Artillerie in Stellung fuhr und den Gegner beschoss. Wir hatten nach dieser Strecke einen furchtbaren Hunger und Durst und hatten unterwegs unreife Pflaumen in den Gärten abgerissen, damit wir etwas essen konnten. Das war ein großes Erlebnis. Mein Vater war Besitzer eines Gasthofes. Nun kamen Soldaten dorthin und unterhielten sich mit ihm. Diese Gespräche habe ich belauscht und dabei mancherlei aufgeschnappt.
Willi Marquardt, geb. 1898:
Mein Vater hatte Anfang der neunziger Jahre im 1. Garde-Regiment in Potsdam gedient und war ein begeisterter Soldat. Er hat später oft davon erzählt. Damals dauerte die Dienstzeit noch drei Jahre. Es gab zu seiner Zeit ja noch keine Kriege, sondern sie waren alle reine Paradesoldaten. Die meisten von ihnen stammten vom Lande, und dass sie nun in eine Stadt wie Potsdam kamen, war etwas ganz Besonderes für sie. Mein Vater war Landwirt. In unserem Hof hatte er sein Bild als Soldat hängen. Das begeisterte uns schon als Kinder. Wenn Weihnachten war, fuhren alle Bauern aus den Dörfern in die Stadt, wo wir viele Soldaten auf Urlaub sahen. Da kam der Ulan in seiner Uniform, der Husar, das Garde-Korps mit dem Adler auf dem Helm, alle Arten von Soldaten. Das war für uns Kinder natürlich ganz interessant.
R. M., geb. 1898:
Mein Großvater väterlicherseits besaß in der Gegend von Stolp eine Mühle. Er hatte zweimal geheiratet, und aus beiden Ehen gab es insgesamt zwölf Kinder. Eines davon war mein Vater. Er ist zunächst im väterlichen Gewese, Mühle mit Tierhaltung, aufgewachsen, bis er Soldat wurde, und zwar Pionier. Weil er nun die Sache recht gut machte, ist er 15 Jahre Soldat geblieben, zuletzt als Feldwebel, Mutter der Kompanie, wie es damals hieß. Es war eine Kapitulation in Richtung auf den sogenannten Zivilversorgungsschein. Nachher ist er eben preußischer Beamter geworden. Die jungen Beamten wurden von Versetzungen betroffen, und so sind meine Eltern innerhalb der deutschen Grenzen 15 Mal umgezogen. Meine Mutter erzählte, dass sie in Rawitz in Posen noch nicht einmal die Gardinen aufgesteckt hatte, als eine neue Versetzung nach Trier kam.
Dr. Curt Werner, geb. 1896:
1900 wurde in Lichterfelde – Groß-Lichterfelde hieß es damals – das Kreiskrankenhaus des Kreises Teltow gebaut. Mein Vater wurde dort Verwaltungsinspektor und wir zogen von Potsdam nach Lichterfelde, wo wir eine sehr schöne Dienstwohnung mit großem Garten hatten. Dort bin ich aufgewachsen. Ich habe eine sehr gute Kindheit verlebt und hatte mit meinen Eltern immer ein gutes Verhältnis. Wenn wir spazieren gingen – wir haben viele Spaziergänge gemacht –, erklärte mir mein Vater dies und jenes, alle Arten von Blumen, Schmetterlingen, Tieren. Das habe ich damals alles schon in der Jugend von 1900 bis zum Kriege kennengelernt. Ich wurde national, konservativ erzogen. Mein Vater gehörte zur Deutschen Volkspartei. Er war im Kriegerverein der Hauptkadettenanstalt, wo ich natürlich mit hinging. Es hat mir Spaß gemacht. Ich wäre damals wirklich gerne Soldat geworden. Wenn die Kaiserparade zum Geburtstag im Januar stattfand, fuhren wir auf jeden Fall zu »Den Linden«. Ich mochte die Marschmusik und mag sie auch heute noch. Das ist eben in einem drin gewesen.
Gustav Heckmann, geb. 1898:
Mein Vater war Sparkassendirektor in Voerde am Niederrhein. Er kam in das Dorf als Steuereinnehmer und gründete dann dort eine Sparkasse. Diese hatte für ihn insoweit eine große Bedeutung, als er mit den Mitteln der Sparkasse Leuten, die er schätzte, die, wie er sich ausdrückte, »Trieb hatten« und etwas machen wollten, helfen konnte. Er hat sich auf diese Weise viele Freunde in der Gemeinde, in der ganzen Bürgermeisterei erworben. Bismarcks »Gedanken und Erinnerungen« las er. Er gehörte dem Kriegerverein an, was nicht viel bedeutete. Seine politische Richtung war die national-liberale, vertreten durch die »Rheinisch-Westfälische Zeitung«. Mein Vater hatte gedient. Meine Mutter interessierten politische Themen nicht.
Ernst Krummrey, geb. 1896:
Ich wurde in Berge, Kreis Westhavelland, in der Nähe von Nauen geboren. Es war ein christliches Elternhaus. Mein Vater war Schuhmachermeister und hat sehr darauf geachtet, dass ich mit den Schularbeiten gut zurande kam und meine Pflichten treu und brav erfüllte. Kaisers Geburtstag war ein besonderer Tag, ein schulfreier Tag. Nach der Feier in der Schule kamen wir Jungens am Nachmittag zusammen und spielten Soldaten. Es wurden zwei Gruppen, Freund und Feind, gebildet, die sich am Eichkamp trafen. Dann begann der große Kampf. Wir hatten uns aus Holz Säbel gebastelt. Zuweilen wurde auch richtig zugehauen. Wenn schon Krieg, dann musste es ein richtiger sein.
K. Ol., geb. 1896:
Die nationale Erziehung erfolgte mehr in der Schule. Ich habe das humanistische Kaiser-Wilhelm-Gymnasium in Hannover besucht. Dort wurden wir völlig in dem Sinne erzogen, dass Frankreich unser Erbfeind sei. Das war naturgegeben. Wir jungen Menschen fragten nicht lange nach, wo das herkam. Wir wussten natürlich von der napoleonischen Zeit. 1913 war die Hundertjahrfeier der Völkerschlacht in Leipzig, die entsprechend gefeiert wurde. Wir wußten von den Raubzügen Ludwigs XIV. nach Deutschland hinein, von den Zerstörungen, die die Franzosen damals auf deutschem Boden angerichtet hatten. Das waren genügend Gründe für uns, dass die Abneigung gegen Frankreich berechtigt war. Die jungen Lehrer an unserer Schule waren zum großen Teil Reserveoffiziere. Sie waren stolz, wenn sie zu einer Übung eingezogen wurden. In diesem Sinne wurden eben auch wir, bewusst oder unbewusst, beeinflusst.
Prof. Dr. Willi Wegewitz, geb. 1898:
Als Schuljunge habe ich einen erlebt, der 1870 dabeigewesen war. Das war in der Gastwirtschaft Dunker in Ahlerstedt. Er hatte Gravelotte mitgemacht und pflegte zu sagen: »Da hebt wi di Franzosen in Grut und Mut schoten.« Auf der Präparande genossen wir einen sehr genauen Geschichtsunterricht. Vom Siebenjährigen Krieg lernten wir jede einzelne Schlacht kennen, Roßbach, Leuthen usw. Auch vom Krieg 1870/71 wussten wir jedes Datum. Die Feierlichkeiten im Jubiläumsjahr 1813/1913 habe ich in Stade hautnah erlebt. Ich weiß noch, es wurde von den Seminaristen »Wallensteins Lager« aufgeführt. Das hat mich kolossal begeistert.
Hermann Kottmeier, geb. 1897:
Der 27. Januar ist für mich noch heute unvergessen. Da hielt der Direktor des Gymnasiums eine Rede und auch der Bürgermeister. Es gab große Festessen, und alles war froh und dankbar. Wer Uniform hatte, zog sie an. Die Kinder waren stolz auf den Vater, die Schüler waren stolz auf den Lehrer. Unser Direktor war klein von Figur, aber er war Hauptmann bei einem preußischen Garde-Jäger-Bataillon und hatte einen wundervollen Helm. Wir waren sehr stolz auf ihn.
G. Ro., geb. 1898:
Ich war in der Schulzeit leidenschaftlicher Anhänger der Farmer in den afrikanischen Kolonien. Wir hatten einen Lehrer, der immer so nett von Afrika erzählen konnte. Mein Bruder war Landwirtschaftslehrling – Eleve nannte man das damals – in Ostpreußen geworden. Für uns stand fest, dass, wenn wir so weit wären, er als Älterer vorausgehen sollte und den Ort, Kongo oder Lomé, das spielte gar keine Rolle, aussuchen sollte. Die Idee war, dort den Militärdienst abzuleisten, um auf diese Weise erst einmal Land und Leute kennenzulernen. Ich ging deshalb zur Landwirtschaftsschule nach Hildesheim. Obwohl ich gleich zu den Schwarzen wollte, konnte ich dort mit dem Einjährigen den richtigen Schulabschluss bekommen. Ich brauchte das Einjährige vor allem nachher für das Militär.
H. J., geb. 1896:
In den Schulferien bin ich immer zum Exerzierplatz gegangen, dort wo heute in Hamburg der Volkspark ist, Osdorf bis Lurup. In der Ferne hörte man das Abschießen von Platzpatronen und dann kam das Signal zum Sammeln. Ich habe alles genau gesehen. Das Musikkorps wurde herausgezogen. Die Spielleute der Kompanie, jede Kompanie hatte zwei Hornisten und zwei Tamboure, stellten sich vor dem Musikkorps auf. Auf der rechten Flügelseite wurden Richtungsmänner aufgebaut. Und dann ging es los: »Still gestanden, das Gewehr über!« Dann hieß es: »Parademarsch, auf der Stelle getreten!« Wenn das Musikkorps und die Spielleute losmarschierten, musste die 1. Kompanie noch so lange auf der Stelle treten, bis die Musik einsetzte. Dann erst marschierte die 1. Kompanie los, und die 2. Kompanie musste auf der Stelle treten. Das hat mir alles sehr gut gefallen. Die 76er spielten den »Grenadiermarsch« und die 31er hatten ihren »Alexandermarsch«. An Neujahr war morgens immer ein großes Wecken. Das war Tradition. Ich bin zu den 31ern gegangen, weil es zu den 76ern an die Bundesstraße zu weit war. Die 31er spielten zunächst ihr Lied und dann kam »Freut Euch des Lebens«. Dies wiederholte sich bei Kaisers Geburtstag am 27. Januar. Am Vorabend war immer der große Zapfenstreich. Das mochte ich gern.
Ludwig Karl Diebold, geb. 1899:
In der damaligen Zeit war alles auf den Soldaten ausgerichtet. Wir hatten vier Regimenter in Germersheim. Als wir 10 Jahre alt waren, ist eines schönen Tages der Hauptmann Sigl von der 9. Kompanie des 17. Bayerischen Infanterie-Regiments gekommen und hat gefragt, ob wir an einer vormilitärischen Ausbildung teilnehmen wollten. Wir waren dann 80 Jungen. 1915 sind wir aufgelöst worden, weil keine Offiziere mehr da waren. Ich habe eine Bescheinigung ausgestellt bekommen, dass ich in dieser vormilitärischen Ausbildung zum Halbzugführer und Zugführer ausgebildet worden bin.
Heinrich Dudel, geb. 1893:
Ich wurde am 3. Oktober 1893 in Sackau, Kreis Cosel, in Schlesien geboren. Mein Vater war Landwirt, und ich war als Schuljunge auch in der Landwirtschaft tätig, bis ich dann 1909 die Unteroffiziersschule Wochlau, nördlich von Breslau, und 1910–1912 die Unteroffiziersschule Potsdam besucht habe. Ich wollte Soldat werden als Unteroffizier, um für später die Anrechte auf eine Staatsanstellung zu haben. 1912 kam ich auf eigenen Wunsch zum Kaiser Franz Garde-Grenadier-Regiment Nr. 2 nach Berlin. Ich hatte das Glück, zum überzähligen Unteroffizier befördert zu werden und bei dem Regiment angenommen zu werden, zu dem ich wollte. Ich wurde der 2. Kompanie des Hauptmanns Freiherr von Fircks zugeteilt, der dann leider im Krieg gefallen ist. In Potsdam und Berlin habe ich alle Kaiserparaden mitgemacht. Das größte Vergnügen waren die Manöver. Dann kam der Krieg.
Gustav Schöning, geb. 1894:
Ich habe mich bereits 1913 freiwillig gemeldet. Das kam so: Eines Tages stellte der Wachtmeister Koch aus Neustadt in unserem Kutschstall sein Pferd unter, ließ es fressen und hat bei uns Skat gekloppt. Wir kamen ins Gespräch: »So eine Stelle möchte ich auch haben, ein eigenes Pferd und so ein bisschen Landwehr spielen.« »Das kannst du haben. Ich melde dich gleich bei den 9. Ulanen an, beim Rittmeister Graf von Kanitz, der die 5. Schwadron leitet.« So bin ich dort eingestiegen und begann meine dreijährige Dienstzeit.
Karl Theil, geb. 1893:
Ich stamme aus Anklam, Vorpommern. Meine Vorfahren waren Windmüller. Wir hatten zwei Windmühlen, eine holländische oben gegen Lindkrug und eine uralte deutsche, die von Menschen gezogen werden musste. Doch nun kam der Elektromotor auf, und nicht mehr der Wind drehte den Mahlstein. Der Windmüller hatte nichts mehr zu tun. Die Bauern kauften sich eine kleine Schrotmühle. Ohne dass wir uns versahen, waren wir arm. Eines Tages sagte der Vater: »So geht es nicht weiter, wir verhungern ja.« So gab er die Mühlen auf. Drei meiner Onkel waren Lehrer und die sagten: »Der Junge muss Lehrer werden.« Das passte mir gut. Ich dachte: »Lehrer auf dem Dorf, da hast du vormittags Schule und nachmittags ein paar Bienen, ein paar Immen.« Ich kam mit 14 Jahren auf die Präparandenanstalt, eine staatlich preußische Lehreranstalt. Mein Vater hatte mittlerweile einen Bauernhof gekauft, den Rest eines großen Hofes, dessen guten Boden der Makler für viel Geld an den Schuster und den Schneider verkauft hatte. Der Sandboden blieb zurück, und das war unser Bauernhof. Wir waren Sandbauern, wie man früher sagte. Einer meiner Schwäger hatte Lehmboden, der vom Morgen fünf Zentner brachte. Wir hatten knapp drei Zentner. Wir haben nicht gehungert, aber nie üppig gelebt.
Als ich eines Tages auf Urlaub war, sagte mein Vater: »Junge, du musst aufhören, ich kann die Lehrerausbildung nicht mehr bezahlen.« Das war der erste Hieb in meinem Leben. Ein Jahr machte ich bei uns den Pferdeknecht und mein Vater sparte das Geld für einen Knecht. Dann sagten meine Onkel: »Nun geht er zum Militär. Wenn er sich freiwillig meldet, kann er nach einigen Jahren auch Beamter werden.« Ich meldete mich beim Feldartillerie-Regiment 38 in Stettin, wo ich auch ausgebildet wurde. Nach einem Jahr wurde ich nach Belgard in Hinterpommern versetzt. Das dortige Feldartillerie-Regiment 2 war eine berühmte Truppe. Die ganze Bedienungsmannschaft der Kanonen war mit Pferden ausgerüstet. Das war mein Fall, weil ich doch mit Pferden großgeworden bin. Nach einem Jahr – ich war mittlerweile Gefreiter – brach der Krieg aus.
Hermann Kottmeier, geb. 1897:
Wir hatten einen sehr guten Geschichtslehrer, der eines Tages sagte: »Also hört mal zu, Jungens. Jetzt werde ich euch etwas sagen, das gehört nicht zum Stoff im Geschichtsunterricht. Ihr müsst aber wissen, wie im Staat Preußen ein Gesetz zustande kommt.« Und da hat er uns den ganzen juristischen Weg eines Gesetzes und die Rolle des Reichstags und der Abgeordneten bei der Abstimmung erklärt. Wir interessierten uns für Fußball, hatten Terrarien und Aquarien oder wanderten mit dem Wandervogel mit der Klampfe und Gesang. Das war unser Leben. Wir hatten Tanzstunden und waren vollkommen ausgefüllt. Aber dass es in Preußen irgendwelche Parteien gab und Sozialdemokraten aufkamen, lag für uns ganz in der Ferne.
Eines Tages kam es zu einem Vorfall: Ein Schüler, dessen Vater Lokomotivführer war, zeigte schlechte Leistungen, und der Geschichtslehrer wurde nervös und platzte schließlich heraus: »Wo kommen wir hin, wenn jeder Lokomotivführer nun schon seinen Jungen aufs Gymnasium schickt und mir meinen Unterricht aufhält.« Da sagte der Junge: »Herr Professor, das werde ich meinem Vater erzählen.« Der Vater war ein großer SPD-Mann. Es gab ein Rauschen in den Zeitungsblättern. Damals haben wir erstmals registriert, dass ein Junge aufmuckte.
Alfred Töpfer, geb. 1894:
Ich hatte einen hervorragenden Vater. Er war der Sohn eines Predigers aus Erfurt und hat mich streng erzogen. Ich habe immer Hochachtung behalten für meinen Vater. Ich bin in der Volksschule in der Osterstraße gewesen und hatte in allen Klassen ausgezeichnete Lehrer. Als Klassenerster bin ich aus der ersten Klasse in die Direkta gekommen. Dorthin kommen ja nur aus fünf, sechs Schulen je drei, vier Leute. Als ich mit der Schule fertig war, sagte mein Vater: »Ich verlange und wünsche, dass du Kaufmann wirst.« Ich habe meinem Vater erwidert, daß ich gerne Landwirt werden möchte. Meine Mutter war Bauerstochter und ich habe beinahe alle Ferien bei den Verwandten auf dem Land gearbeitet. Mein Vater sagte: »Du wirst Kaufmann, und wenn du genügend Geld verdient hast, dann kauf dir gerne einen Hof.« Das war das einzige Mal in meinem Leben, dass ich geheult habe, weil mein Vater so hart gewesen ist.
Ich wurde Lehrling in einer Hamburger Speditionsfirma. Es war eine außerordentlich harte, aber gerechte Lehrzeit mit sehr guten Lehrmeistern. Mir wurde ein Vierteljahr der Lehrzeit geschenkt. Ein halbes Jahr nach dem Ende meiner Lehrzeit habe ich gekündigt. Na ja, ich habe dann in fünf Monaten das Einjährigen-Examen nachgeholt. Von Viertel nach fünf bis abends gegen zehn Uhr konnte ich intensiv lernen. Nachdem ich bestanden hatte, bin ich in den Wandervogel eingetreten und habe als Jugendlicher dort eine großartige Zeit erlebt. Die Nestabende, die Grenzwanderungen, Böhmerwald von Dresden aus, runter an die Donau und im nächsten Jahr von Saarbrücken ins Elsass und die Vogesen. Zweimal sind wir so 30 Kilometer nach Frankreich reingelaufen.
E. P., geb. 1897:
Es wird immer erzählt, unsere Professoren hätten uns gewissermaßen auf den Krieg vorbereitet, und es wäre vom Erbfeind Frankreich gesprochen worden. Es ist nicht an dem gewesen. Kein Mensch in Osnabrück hat an einen Krieg gedacht. Ich war in der Fußball-Schülermannschaft des Realgymnasiums. Vor allen Dingen war ich mit Begeisterung im Wandervogel. Wir haben im Wandervogel nicht auf den Krieg hingearbeitet, wir haben uns die Welt angeschaut, sind gewandert noch und noch und haben fröhliche Lieder gesungen.
Gerhard Bahrmann, geb. 1896:
Mein Vater war auch Pfarrer. Er war konservativ, deutsch-national bis in die Knochen, und so bin ich auch erzogen worden. Ich weiß beispielweise, dass mein Vater einmal bei dem früheren Historiker Treitschke Vorlesungen gehört hat, und der hat ihm das Nationale sozusagen bis ins Blut eingeprägt. Ich bin aus eigenem Antrieb ohne irgendwelche Anregungen der Eltern Wandervogel geworden. Heute muss ich sagen, ich suchte Gemeinschaft, Geborgenheit, Verständnis und dies fand ich bei meinen Schulkameraden nicht. Beim Wandervogel bin ich eigentlich erstmals freiheitlich erzogen worden.
C. T., geb. 1898:
Ich bin 1898 hier in diesem Haus in Francop geboren worden. Wir waren zehn Geschwister, im ganzen sogar zwölf, aber zwei sind gleich als Kinder gestorben. Ich war der Jüngste von allen und hatte sieben Brüder. Mein Vater war, wie ich später auch, Landwirt. Er wollte nichts mit Preußen zu tun haben, er war Hannoveraner, die Preußen mochte er nicht. Er war kein Soldat gewesen, sondern ist schon mit 19 Jahren, als seine Eltern starben, Bauer geworden. Er hat ganz wenig über Soldaten gesprochen, vom Kommiss wollte er gar nichts wissen. Ich war eher dafür, denn all meine Brüder bis auf den zweitjüngsten – der älteste war 20 Jahre älter als ich – waren vor dem Krieg aktiv gewesen. Ich meinerseits wollte nicht verweigern, wie dies heute üblich ist. Wenn Kaisers Geburtstag in der Schule gefeiert wurde, hieß es bei uns in der Familie: »Da gehst du nicht hin. Der soll seinen Geburtstag alleine feiern.«
Julius Kreckler, geb. 1896:
Meine Eltern sind sehr früh gestorben, und so kam ich 1905 ins Waisenhaus in der Averhoffstraße auf der Uhlenhorst in Hamburg. Dort sind wir natürlich sehr vaterländisch erzogen worden. Die Erzieher waren alles Handwerker. Das waren ausgezeichnete Menschen. Das Essen im Waisenhaus war an und für sich sehr schlecht. Ich muss den Hamburger Senat dafür verantwortlich machen, dass wir morgens und abends trocken Brot bekamen. Das änderte sich, als unsere Erzieher im Krieg nach der Brotkarte soundso viel Fett kriegten, das sie zum Teil an uns abgaben. Da erst konnten wir Margarine aufs Brot schmieren. Bei jeder Staatsfeier, Kaisers Geburtstag als Beispiel, gab es im Waisenhaus aber »Großen Hans«, das ist ein Mittagessen ähnlich dem englischen Plumpudding.
1911 kam ich in die Buchdruckerlehre nach Westerland auf Sylt. In dieser Zeit fand 1912 der Balkankrieg statt. Im Kino habe ich Aufnahmen von den Schlachtfeldern gesehen, da kamen mir schon einige Bedenken. In der Schule, im Waisenhaus, hatte es Bilder gegeben, wonach früher der Große Kurfürst mit dem Degen in der Hand gekämpft hatte. Das war aber nun nicht mehr so. Es lagen Tote und verbogene Gewehre und Seitengewehre auf dem Schlachtfeld.
Wilhelm Garmsen, geb. 1896:
Obwohl mein Vater bereits 1911 gestorben ist, spielt er in meinem Leben eine ganz große Rolle. Es entwickelte sich so, dass mein erster Lehrer seinen Sohn und mich für den Lehrerberuf ausersehen hatte. Bei seinem Sohn war das kein Problem, aber meine Eltern hatten lediglich eine kleine Landstelle. Die Präparandenanstalt befand sich in Tondern, das Seminar dauerte drei Jahre. Ich hätte also drei Jahre täglich von Humptrupsfeld nach Süderlügum gehen und dann mit dem Zug nach Tondern fahren müssen. Zusätzlich zu dem Fahrgeld wären an der Schule auch noch die Bücher zu bezahlen gewesen. Bei kleinen Bauern ist das Geld immer knapp, aber der Lehrer ließ keine Ruhe. Er besuchte meine Eltern und bekniete sie, bis sie zustimmten. Als mein Vater dann so früh starb, konnte ich den Lehrerberuf nicht mehr ergreifen. Als ältester Sohn musste ich den kleinen Hof weiterführen. Fast kann man von Vorsehung sprechen. Die Präparanden und Seminaristen meldeten sich nämlich 1914 freiwillig in den Krieg, und der größte Teil dieser jungen Leute ist dann in Flandern gefallen.
Hans Reimers, geb. 1899:
Ich bin eigentlich von jung auf sehr auf mich angewiesen gewesen. Mein Vater hatte ursprünglich einen Hof, verkaufte ihn und wurde Förster bei Itzehoe. Er ist 1907 gestorben, da war ich acht Jahre alt. 1915 fuhr meine Mutter mit einer Freundin auf einem zweispännigen Wagen. Der Mann auf dem Kutschbock fuhr sehr flott, und die Pferde gingen durch. Sie wurde mit ihrer Freundin aus dem Wagen geschleudert. Die Freundin hatte gar nichts, keine Beule. Meine Mutter ist sofort tot gewesen. Ihr Kopf schlug auf einen Kilometerstein auf, die es damals noch gab. Ich musste nach Hamburg fahren und meinem jüngeren Bruder, der hier Gärtner war, sagen: »Mutter ist auch tot.« Wir Kinder wurden dann von meiner Tante aufgenommen.
Ich bin damals viel gewandert mit Rucksack und Tornister. Die freiwilligen Soldaten, die Einjährigen, mussten seinerzeit ihre Uniform und alles Zubehör selbst kaufen und anschließend abgeben. Händler verkauften es dann weiter. Ich hatte also einen Tornister wie ein Soldat, einen Brotbeutel und eine Feldflasche. Wir haben Wanderungen gemacht, wobei wir in Wolldecken beim Bauern übernachteten. Ich bin auf diese Weise im Harz und in Bayern gewesen. Gefällte Bäume wurden damals ja nicht wie heute auf Lastwagen verladen, sondern sie wurden hintereinandergebunden und geflößt. Die Flößer wohnten darauf, denn es dauerte lange, ehe die Bäume mit der Strömung am Ziel ankamen. Auf meiner letzten Wanderung haben wir vier Tage mitgeflößt.
M. D., geb. 1899:
Mein Vater war Modelltischler, sein Vater wiederum Schneidermeister aus Schwedt, und meine Mutter war eine Bauerstochter. Diese Kreise hielten damals treu zum Kaiser und haben dementsprechend auch ihre Kinder erzogen. Die Schule stand ebenfalls unter dem Einfluss dieses Systems. Und wenn es eigentlich nichts anderes gibt, dann nimmt man es eben als gegeben an. Von Jahr zu Jahr habe ich mich aber immer mehr dafür interessiert, was werden wird, wenn Krieg ist, denn danach sah es damals – »Deutschland, Deutschland über alles« – schon aus. Mir wurde bewusst, dass man dann mitmachen müsse. Dies gefiel mir von Anfang an nicht und ich habe etwas anderes gesucht. Ich suchte Gerechtigkeit, und die gab es in dieser Zeit nicht. Obwohl man sagt »die schöne alte Zeit«, war sie in Wirklichkeit nicht schön. Zehn Stunden Arbeit, und die Eltern hatten wenig Zeit für ihre Kinder.
Ernst Kock, geb. 1896:
1904 war in Mühlen-Eichsen eine politische Sache von großer Bedeutung. Es wurde gewählt. Nun war 1902 die Wassermühle umgebaut worden, und aus diesem Anlass kamen zum ersten Mal Sozis, die wir bisher auf dem Lande gar nicht gekannt hatten. Es handelte sich um Maurer und Zimmerleute, Letztere mit ihrem roten Schlips, ihrem Anzug mit weißen Perlmuttknöpfen. Vor der Wahl sprach der Inspektor meinen Vater an: »Hör mal zu, Friedrich, jetzt kommt ja die Wahl. Wenn es da keine Sozis in unserem Bezirk gibt, werden zwei Kühe geschlachtet und es gibt Bier, und das Fleisch wird aufgeteilt, dass jeder Tagelöhner soundso viel erhält.« Die Wahl kam, und es gab einen Sozi. Das war ja nun ganz schlimm. Mein Vater war immer sehr sozial eingestellt und ließ losen, wenn er die Arbeit verteilte. Im Dorf sprach sich herum, dass es einen Sozi gegeben habe. Der Inspektor sagte zu meinem Vater: »Ja, wer das wohl gewesen ist?« – Mein Vater hat geantwortet: »Weiß der Teufel!« Der Inspektor machte Propaganda, dass nun die Kühe nicht geschlachtet werden konnten. Er machte Andeutungen: »Wer so ein bisschen revolutionär wirkt und alles am besten weiß, das ist Friedrich Kock. Wenn der das nicht mal gewesen ist.« Sofort ging dieses Gerücht im Dorf herum. Eines Tages traf mein Vater Herrn von Leers, mit dem er die ersten Jahre auf dem Dorf zur Schule gegangen ist und der ihn immer geduzt hat. »Ja, Friedrich, das habe ich von dir nicht gedacht, dass du den Sozi wählst.« Daraufhin wurde mein Vater wütend und sagte: »Herr von Leers, mein Großvater hat hier gearbeitet, mein Vater hat hier gearbeitet und auch ich habe hier gearbeitet. Aber jetzt ist damit Schluss. Oktober trete ich ab.« In den nächsten Tagen kam jeder, der so ein bisschen was darstellte, zu uns und wollte meinen Vater umstimmen. Meine Eltern aber zogen nach Lübeck. Um dort überhaupt einreisen zu dürfen, mussten sie drei Bürgen stellen. Da aber verschiedene Brüder meines Vaters und Schwestern und Tanten schon in Lübeck waren, war das nicht so schlimm. Mein Vater wurde gleich in einer Brauerei als Stallmeister eingestellt.
Fritz Siemers, geb. 1897:
Mein Vater war auch Soldat gewesen. Später war er geprüfter Lokomotivheizer. Er war eigentlich sozial eingestellt, Sozi, wollen wir mal sagen, aber er durfte das nicht erkennen lassen. Wenn einer das erfahren hätte, wäre er sofort rausgeflogen, dann wäre Feierabend gewesen. Damals war alles militärisch und national eingestellt. Bei Antritt der Lehre – ich habe Zimmermann gelernt – ging es los: »Wo hast du gedient?« oder »Warst du Soldat?« Hatte einer nicht gedient, hieß es gleich: »Was dem wohl fehlt? Ein Kerl wie ein Eichbaum und ist nicht Soldat gewesen?«
S. N., geb. 1898:
Mein Vater war das elfte Kind eines Zimmermanns aus Hannover. Die Kinder wurden alle mit 14 Jahren mit einem Bündel Kleidung aus dem Haus gejagt und mussten sich ihren Unterhalt von diesem Tag an selbst erarbeiten. Mein Vater suchte sich eine Stelle als Lithograph. Er war von Anfang an Sozialdemokrat. 1906 hatte er Besuch von der Kriminalpolizei, weil er mit den Russen korrespondiert hatte. Mein Vater hat uns zum Beispiel verboten, in Kassel zehn Pfennig für eine Marineausstellung auszugeben. »Das sind alles Mörder, die andere Menschen, die ihnen nichts getan haben, töten.« Als ich einmal gesungen habe »Der Kaiser ist ein lieber Mann, der wohnet in Berlin«, habe ich von meinem Vater den Hintern vollgekriegt. Er war gegen den Kaiser. »Die nehmen uns das Geld weg. Die bestehlen uns, die brauchen wir nicht.« Wir haben dafür Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht gekannt. Die verehrten wir. Richtige Versammlungen gab es damals nicht. Wenn vier Mann zusammenstanden, kam schon die Polizei. Wir Jugendlichen haben uns immer, bis ich zu den Soldaten eingezogen wurde, im Jugendbund der SPD getroffen. Dort haben wir uns in politischer Diskussion geübt.
Kurt Schröder, geb. 1897:
Ich bin sozialdemokratisch erzogen, möchte beinahe sagen, sozialdemokratisch dressiert worden. Mein Vater war von Beruf Eisendreher. Er ist 1870 geboren worden. Es war damals eine Zeit, in der man nicht nach einer abgeschlossenen Lehre fragte. Wenn ich sage, er war Eisendreher, dann hat er sich diese Tätigkeit selbst angeeignet. Das Fortkommen spielte eine große Rolle. Ich weiß noch genau, 1906 war die rote Revolution in Russland. Es wurde bei uns in der Wohnung mit vier oder fünf Mann Karten gespielt. Die Pfennige, die gewonnen wurden, wurden vom Gewinner nach Russland geschickt. Dann ging plötzlich die Tür auf zu unserem Schlafzimmer und mein Vater, der ein Diktator, ein Tyrann war, schrie: »Nun singt mal den Sozialistenmarsch. Ich hab Besuch, der will das hören.« Und da musste ich den Sozialistenmarsch, den ich heute noch singen könnte, vorsingen. Meine Mutter – sie war Dienstmädchen in der Königstraße bei einem Baurat Cäsar gewesen – erzählte einmal, dass sie den Kaffee reinbringen musste, als eine Gesellschaft war. Die Damen saßen zusammen und diskutierten über die neue Zeit, über die Sozialdemokraten. Plötzlich sagte eine: »Wir haben Leute bei uns gehabt, die haben unsere Teppiche geklopft. Das waren zwei Sozialdemokraten. Und was meinen Sie, die haben uns nicht beklaut.«
1912 – ich war schon in der Lehre – habe ich abends im Altonaer Stadttheater als Statist gearbeitet. Eines Tages lauerte mir mein Vater um 12 Uhr nachts nach Beendigung der Vorstellung auf und hat mich auf der Königstraße beinahe verhauen. Er sagte: »Werd du erst mal Sozialdemokrat und mach nicht diesen Larifari hier. Jetzt weiß ich endlich, wo du abends immer bist.« Ich hatte furchtbare Angst und bin nie wieder zur Statisterie gegangen. So hat er mich zum Sozialdemokraten dressiert. Es gab damals schon Demonstrationszüge, und zwar für den Acht-Stunden-Tag. Die Leute wollten nicht mehr zwölf oder mehr Stunden arbeiten. Auf der Straße wurde der Sozialistenmarsch gesungen, und dann kam die Polizei und trieb die Leute auseinander. Die Menschen hatten Angst, zwar nicht wie später bei Hitler. Man hatte aber Angst, Deutschland verlassen zu müssen. Man mochte den Kaiser und vor allen Dingen Bismarck nicht, der das Sozialistengesetz eingeführt hatte. Die Menschen kamen daher meist nur in den Wohnungen zusammen. Ich bin in Altona in der »Kleinen Freiheit« und zudem noch im Hinterhof geboren worden. In der ganz kleinen Küche meiner Eltern saßen immer einige Personen, die sich über Sozialismus und was sie machen könnten, unterhielten. Das ging ganz gut, denn da kam keine Polizei. Aber sie hatten auch ein Vereinslokal, das war meistens eine Kneipe, in deren Hinterzimmer sie tagten. Da kamen natürlich mehr Leute zusammen, 30 oder 40 Personen. Es wurde über August Bebel gesprochen, den die Leute damals noch gar nicht recht kannten, den sie aber wählen wollten. Und dann plötzlich ging die Tür auf, es wurde »Polizei!« gerufen, da haben sie »Morgenrot, Morgenrot, leuchtest mir zum frühen Tod. Hurra, hurra, Deutschland hoch, hurra« gesungen. Dann ging die Polizei wieder weg.
Gegenüber unserer Wohnung im Holsteinischen Hof in der Kleinen Freiheit war ein großer Tanzsaal. Er hieß Englischer Garten. Und hier, im größten Saal von Hamburg nach Sagebiel, fanden immer Anti-Kriegs-Versammlungen der Sozialdemokraten statt, geleitet besonders von Frohme und Clara Zetkin. Das war kurz vor dem Krieg. Also, man wollte den Krieg in der Arbeiterschaft nicht. Die Anti-Kriegs-Versammlungen im Englischen Garten waren überfüllt. Die standen alle, es gab keine Sitzgelegenheit mehr. Bevor der Redner ausgeredet hatte, wurde plötzlich aus der Menge gerufen: »Spitzel unter uns, Spitzel unter uns, haut sie tot, jagt sie raus.« Und dann war es wieder ganz still, als wenn einer sagen wollte: »Wer hat da gerufen?« Keiner hatte gerufen, aber es gingen immer ein paar weg. Also waren solche Versammlungen mit Spitzeln, man nannte sie Fünf-Groschen-Jungs, durchsetzt.
Johann Buck, geb. 1898:
Dann kam ein Ereignis. Der Zeppelin flog in ganz niedriger Höhe über Stade hinweg. Das begeisterte. Aber nicht so sehr wie die drei Flugzeuge, die nachher kamen. Sie landeten auf dem Exerzierplatz, der seinerzeit ein unbebauter Platz war. Wir Jugendlichen sind natürlich hin, und das war äußerst interessant. Dann sollten sie wieder weg, aber nur einer von den Dreien kam wieder hoch. Die anderen beiden versuchten es immer wieder. Die eine erreichte ein bisschen an Höhe, dann berührten die Tragflächen einen kleinen Baum und die Maschine lag da. Der Flugzeugführer war leicht verletzt und blutete. Das Flugzeug konnten wir nun besehen, bis es abmontiert und abgeholt wurde. Die Sache hat mich doch so sehr beeindruckt, dass sie mich gar nicht wieder losließ.
Ernst Kock, geb. 1896:
In meiner Schulzeit – ich war sechs bis sieben Jahre alt – wurde die Straße von Mühlen-Eichsen nach Schwerin verbreitert. Das war früher ein ganz tiefer Landweg, einspurig aus Lehm. Von den großen Wagen vom Gut hatte sich eine Spur gebildet, und wenn es gefroren hatte, war der Weg nicht befahrbar. Wir Jungens liefen dorthin und haben zugeguckt, wie die Arbeiten mit den ersten Maschinen gemacht wurden. Zu dieser Zeit sah ich auch mein erstes Motorrad. Es hatte dicke Reifen und war in einen Rahmen gehängt. Der Antrieb war ein breiter Riemen, nicht wie heute mit Ketten oder einem Keilriemen. Der Motorradfahrer war seinerzeit ja in Leder gekleidet. Und dann hatte er eine Mütze auf, aber der Schirm war aus Metall.
Prof. Dr. Willi Wegewitz, geb. 1898:
Wir waren in einer sehr nationalen Stimmung aufgewachsen, und in dieser Stimmung habe ich auch den Anfang des Ersten Weltkriegs erlebt. Ich kam häufiger von Stade, wo ich seit 1912 das Lehrerseminar besuchte, am Sonnabend auf Urlaub nach Hause. Mein Vater hielt als Förster das »Berliner Tageblatt«. Das war eigentlich die einzige Zeitung, die es bei uns im Dorf gab. Abends kamen häufig einige Bauern zu uns ins Forsthaus und mein Vater las aus der Zeitung vor. Ich war gerade zu Hause, wie die Nachricht von Sarajevo kam. Und ich weiß noch ganz genau, ich wollte anschließend einen Pflanzenstandort aufsuchen und ging über die Hollenbecker Heide. Dabei ist mir die Nachricht von Sarajevo ganz schwer durch den Kopf gegangen.
G. Ro., geb. 1898:
Die Ermordung des Kronprinzen in Sarajevo haben wir bewusst erlebt. Wenigstens in unserer Familie waren wir erschrocken darüber, dass so etwas überhaupt passieren konnte. »Was wird nun?«, sagte der Vater. »Jetzt kommt der Krieg!«
Karl Peters, geb. 1898:
Bei Kriegsanfang besuchte ich das Großherzogliche Lehrerseminar in Varel. Dort waren wir bekannt geworden mit dem Wandervogel. Wir unternahmen Fahrten, und eine diese Fahrten lag unmittelbar vor Beginn des Ersten Weltkrieges. Im Juli 1914 waren wir mit einer Gruppe von etwa 20 Seminaristen, dazu unser Klassenlehrer und einige andere junge Lehrer, in Noordwijk in Holland eingeladen. Da hatten wir auch die erste Begegnung, die schon ein bisschen hindeutete auf das, was kommen sollte. Der Krieg lag sozusagen in der Luft. Wir haben in Noordwijk gerne gesungen und die Badegäste haben uns zugehört. Das waren Holländer, Deutsche, aber es waren auch Engländer dort. Und eben die mochten uns nicht. Sie wollten das nicht hören und schlossen ostentativ die Fenster.
Alfred Töpfer, geb. 1894
Die Stimmung im Volk in den vier Wochen vom Attentat bis zum Kriegsausbruch war sehr ernst, sehr gedämpft. Im Wandervogel haben wir natürlich die politische Situation eingehend diskutiert. Aufgrund des Widerstandes der Serben sowie der Äußerungen von französischer und russischer Seite rechneten wir mit ernsten Auswirkungen. Es war eine düstere Stimmung.
Kurt Schröder, geb. 1897:
Ich ging in diesen Tagen immer wieder auf die Straße, weil Extrablätter herauskamen. Ich war ja noch ein dummer Junge, aber ich habe doch schon ein bisschen begriffen. Alle sagten: »Das gibt es ja gar nicht, die können doch nicht einfach den Thronfolger erschießen?« Diese Stimmung wurde auch von den Extrablättern geschürt: »Noch keine Mobilmachung!«, »Kurz vor der Mobilmachung«, »Der Kaiser ruft den Staatsrat zusammen«, »Krieg nicht mehr zu vermeiden« – und all so was.
M. G., geb. 1894:
Das Attentat auf den österreichischen Kronprinzen war erfolgt, und nun kamen die ersten Zeitungen heraus. Unser Kaiser hat immer noch den Zaren gebeten, er müsste doch keinen Krieg machen. Aber die Russen waren genauso doll wie unsere. Sie sind schon vor der Kriegserklärung einmarschiert. Denn der Kriegsausbruch hat sich noch einige Tage hingezogen. Berlin hat gewimmelt von Militär. Beinahe jeder zweite Mensch war Soldat, und alles war neu in Feldgrau eingekleidet. Das müssen Sie erlebt haben.