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Jugend
Оглавление»Ich wurde am 20. April 1895 als fünftes Kind des Hauptzollassistenten Heinrich Hayen hier in Oldenburg geboren, besuchte die Gertrudenschule, und nach Konfirmation und Schulschluss begann ich eine Lehre als Feinmechaniker. Nach zweieinhalb Jahren habe ich diese Lehre beendet. Das war Anfang 1914. Dann kam der Krieg.« Dies ist der Auftakt meines Gesprächs mit Otto Hayen. Mehr als so einen knappen Steckbrief seiner Jugendjahre lasse ich in dem Interview nicht zu. Meine Ungeduld, etwas über Verdun zu hören, ist einfach zu groß.
Mit meiner Entscheidung im Frühjahr 1991, aus den Interviews ein Buch zu machen, gehe ich dazu über, die Interviews umfassender anzulegen. Nun beziehe ich auch Fragen zur Kindheit ein. Bald schon fällt mir auf, dass die meisten meiner Gegenüber hierüber gerne Auskunft geben. Ihre Kindheit ist ihnen gerade im Alter sehr nah. Dies ist umso bemerkenswerter, als die Gegenwart für sie nicht immer so klar zu sein scheint. Ein Celler Gesprächspartner kann mir nicht beantworten, wer der Herr in den Siebzigern auf einem Foto in seinem Bücherregal ist. Erst sein Pfleger teilt mir mit, dass es sich um seinen jüngst verstorbenen Sohn handelt. An seine Eltern aber erinnert er sich in der Abgeschiedenheit des Altenheims gut. Ich frage mich, ob es meiner Generation später einmal genauso gehen wird oder ob dies ein Zeichen für einst stärkere Familienbande ist.
Im Frühjahr 1991 treffe ich Hans Seidelmann, den ich an drei Wochenenden in Folge besuchen und zu dem ich bis ins Jahr 1998 in Kontakt stehen werde. Er sagt von sich, als junger Mensch ein Muttersöhnchen gewesen zu sein. Dazu passt seine besonders ausgeprägte Neigung, detailliert über seine Kindheit in dem kleinen Kurort Bad Kudowa zu sprechen. Es lässt sich kein friedlicheres Bild von einer Kindheit zeichnen, der einzige Sohn in einem musischen Elternhaus, die feste Gemeinschaft in diesem beschaulichen Badeort in den schlesischen Bergen. Vor dem Hintergrund der schrecklichen Ereignisse des Ersten Weltkrieges hebt sich seine Kindheit im Frieden deutlich ab. Jetzt beginne ich, mich wirklich für die biografischen Anfänge meiner Gesprächspartner zu interessieren, einerlei ob sie aus Arbeitervierteln oder aus Bürgerhäusern stammen. Hier sind meine Gegenüber für ihr späteres Leben geprägt worden. Ihr Leben hat nicht erst mit dem Kriegsausbruch begonnen. Ich erfahre eine ganze Menge über die deutsche Gesellschaft der Vorkriegszeit am Anfang des vorigen Jahrhunderts. Stück für Stück entsteht ein Gemälde der damaligen Zeit. Das Bild ist alles andere als einheitlich. Auf der einen Seite die bewusste Einengung auf althergebrachte Werte und Einrichtungen wie das Militär oder ein auf nationale Erziehung bedachtes Schulwesen. Gleichzeitig befindet sich Deutschland im Umbruch. Die Arbeiterbewegung steht längst nicht mehr in ihren Anfängen. Viele Jugendliche suchen ihren eigenen Weg. Die Technik hält in weiten Teilen des Alltags Einzug. Die ersten Pkws fahren durch die Straßen. Die Frühwerke der Luftfahrt werden bestaunt. Es entsteht eine Dynamik, die berauscht. Am Ende dieser Euphorie steht der Ausbruch des Ersten Weltkrieges.