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1. Der Standpunkt der herrschenden Meinung
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Auf der Grundlage des materiellen Verständnisses bereitet es erhebliche Schwierigkeiten, die für die Abgrenzung relevanten Kriterien zu benennen. Die hM sieht die Streitigkeiten verfassungsrechtlicher Art durch zwei Merkmale gekennzeichnet: Sie sollen Streitigkeiten zwischen unmittelbar am Verfassungsleben Beteiligten betreffen und sich dabei auf Rechte und Pflichten beziehen, die unmittelbar in der Verfassung geregelt sind (sog. doppelte Verfassungsunmittelbarkeit)[45]. Als Beispiele für verfassungsrechtliche Streitigkeiten werden insbesondere alle Organstreitigkeiten iSd Art. 93 Abs. 1 Nr 1 GG sowie die Streitigkeiten zwischen Bund und Ländern und zwischen verschiedenen Ländern (s. Art. 93 Abs. 1 Nr 3 u. 4 GG) genannt[46]. Streitigkeiten zwischen Bürger und Staat sollen demgegenüber grundsätzlich keine Streitigkeiten verfassungsrechtlicher Art sein.
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Die Theorie der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit würde bei konsequenter Anwendung im Wesentlichen nur in all den Fällen den Verwaltungsrechtsweg ausschließen, bei welchen ohnehin schon eine verfassungsgerichtliche Kompetenz besteht. Sie machte damit ähnlich wie die formelle Theorie (Rn 141) das Tatbestandsmerkmal „nichtverfassungsrechtlicher Art“ überflüssig. Insbesondere dort, wo es um Streitigkeiten zwischen obersten Staatsorganen bzw sonstigen Beteiligten um ihren verfassungsrechtlichen Status geht, ist nämlich bereits durch das Grundgesetz zwingend die Kompetenz der Verfassungsgerichte vorgesehen (s. Art. 93 Abs. 1 Nr 1 u. 3 GG). Bezeichnenderweise muss denn auch die Theorie der doppelten Verfassungsunmittelbarkeit tlw auf das Kriterium der „doppelten“ Verfassungsunmittelbarkeit verzichten und in bestimmten Fällen, in denen ein Bürger an einer öffentlich-rechtlichen Streitigkeit beteiligt ist (und damit nach ihrer Begriffsbestimmung keine Streitigkeit verfassungsrechtlicher Art vorliegen dürfte), eine verfassungsrechtliche Streitigkeit annehmen. Das zeigt sich etwa, wenn der Bürger gegen die Auflösung des Bundestags[47] oder unmittelbar auf Feststellung der Nichtigkeit eines formellen Gesetzes klagt. Nicht befriedigend zu erklären vermag die hM auch, weshalb sie den Anspruch eines Bürgers auf Durchführung einer Volksbefragung[48] ebenso wie bestimmte von einem Bürger eingeleitete Wahlrechtsstreitigkeiten[49] als verfassungsrechtliche Streitigkeiten bewertet (ausführliche Kritik an der hM bei Kopp/Schenke-Ruthig, § 40, Rn 32a).
§ 3 Die Zulässigkeit des Verwaltungsrechtswegs (§ 40 VwGO) › IV. Das Vorliegen einer nichtverfassungsrechtlichen Streitigkeit › 2. Verfassungsrechtliche Streitigkeiten als den Verfassungsgerichten vorbehaltene Streitigkeiten