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2. Verfassungsrechtliche Streitigkeiten als den Verfassungsgerichten vorbehaltene Streitigkeiten
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Wie sich auch aus der Entstehungsgeschichte des § 40 Abs. 1 S. 1 belegen lässt (vgl BT-Drucks. 3/55 S. 30), sollte mit dem Tatbestandsmerkmal „Streitigkeit nichtverfassungsrechtlicher Art“ die Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte von der der Verfassungsgerichte abgegrenzt werden. Maßgebend für das Vorliegen einer Streitigkeit verfassungsrechtlicher Art ist damit, ob die Streitigkeit, soweit sie überhaupt justiziabel ist, auf Grund verfassungsgesetzlicher Zuständigkeitsvorschriften grundsätzlich (vorbehaltlich abweichender gesetzlicher Regelungen) den Verfassungsgerichten vorbehalten sein soll[50]. Aus diesen verfassungsgesetzlichen Bestimmungen ist nicht nur abzuleiten, dass eine verfassungsgerichtliche Zuständigkeit, die durch sie für bestimmte Streitigkeiten begründet wird, die Zuständigkeit anderer Gerichte ausschließt und entsprechende Streitigkeiten damit verfassungsrechtlicher Art iSd § 40 Abs. 1 S. 1 sind. Vielmehr kann aus ihnen in der Regel auch auf die „verfassungsrechtliche Art“ entsprechender von Privaten initiierter Verfahren geschlossen werden, selbst wenn diese nicht unmittelbar von der Kompetenznorm erfasst werden, die die Zuständigkeit eines Verfassungsgerichts begründet[51]. Solche Verfahren weisen aber von ihrem Gegenstand her enge Verwandtschaft mit den im GG ausdrücklich geregelten Streitigkeiten auf und teilen damit grundsätzlich deren Rechtscharakter.
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So folgt zB aus dem Umstand, dass sich oberste Staatsorgane (oder Teile derselben) gegen das Verhalten anderer oberster Staatsorgane nur im Wege einer vor den Verfassungsgerichten anhängig zu machenden Verfassungsorganstreitigkeit wehren können, zugleich, dass es auch anderen Personen, insbesondere Bürgern, in der Regel nicht möglich ist, dieses Organverhalten durch ein Verwaltungsgericht überprüfen zu lassen, obwohl diese Personen keine Beteiligten einer Verfassungsorganstreitigkeit sein können. Deshalb ergibt sich beispielsweise aus Art. 93 Abs. 1 Nr 1 GG iVm §§ 63 ff BVerfGG nicht nur, dass ein Abgeordneter nicht vor den Verwaltungsgerichten gegen die Auflösung des Bundestages klagen kann, sondern auch, dass dies – wie die hM konzediert (s. oben Rn 143) – einem Bürger ebenfalls nicht möglich ist. Aus entsprechenden Gründen ist auch die gegen einen Parlamentsbeschluss gerichtete Klage eines Bürgers als eine Streitigkeit verfassungsrechtlicher Art zu qualifizieren, für die der Verwaltungsrechtsweg ausgeschlossen ist[52]. Das wird hier zusätzlich durch den im konkreten Normenkontrollverfahren des Art. 100 Abs. 1 GG enthaltenen Rechtsgedanken indiziert, aus dem abzuleiten ist, dass es einem Fachgericht untersagt ist, die Rechtswidrigkeit eines Verhaltens des Parlaments ohne Einschaltung eines Verfassungsgerichts festzustellen. Wird der Bürger durch einen Organakt ausnahmsweise in seiner Rechtsstellung betroffen (etwa wenn ihm in dem Parlamentsbeschluss unlautere Geschäftspraktiken vorgeworfen werden, s. Rn 109), besteht für ihn nur die Möglichkeit eines Rechtsschutzes vor dem Bundesverfassungsgericht mittels einer Verfassungsbeschwerde[53]. In vielen Fällen (so zB bei einer Bundestagsauflösung) wird allerdings eine gegen Organakte oberster Staatsorgane erhobene Verfassungsbeschwerde unzulässig sein, weil der Beschwerdeführer durch sie rechtlich nicht betroffen ist und es deshalb an einer Verfassungsbeschwerdebefugnis fehlt.
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Die Frage, ob eine verfassungsrechtliche Streitigkeit vorliegt, stellt sich auch in Bezug auf sogenannte prinzipale Normenkontrolle. Darunter versteht man Verfahren, bei denen die Vereinbarkeit einer Norm mit höherrangigem Recht bzw ihre Gültigkeit den Gegenstand des Verfahrens bilden. Sie unterscheiden sich damit von Normenkontrollen, bei denen – wie letztlich bei jedem gerichtlichen Verfahren – nur inzident (vorfrageweise) über die Gültigkeit von entscheidungserheblichen Normen zu befinden ist und bei denen es sich unbestrittenermaßen um keine verfassungsrechtliche Streitigkeit handelt (s. auch Rn 1147 ff). Bei von Normbetroffenen initiierten prinzipalen Normenkontrollen, die ein formelles, vom Parlament erlassenes Gesetz zum Gegenstand haben, ist im Einklang mit der heute ganz hM aus Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG abzuleiten, dass sie als verfassungsrechtliche Streitigkeit zu qualifizieren sind (vgl Rn 1159, 1168 f)[54]. Dafür spricht auch, dass ein Verwaltungsgericht, bei dem auf die Feststellung der Nichtigkeit eines formellen nachkonstitutionellen Gesetzes geklagt würde, bei von ihm bejahter Nichtigkeit das Verfahren gem. Art. 100 Abs. 1 S. 1 GG auszusetzen und das Gesetz dem zuständigen Verfassungsgericht vorzulegen hätte. Nur jenes könnte über seine Vereinbarkeit mit höherrangigem Recht und eine hieraus resultierende Nichtigkeit des Gesetzes rechtsverbindlich entscheiden. Eine verfassungsrechtliche Streitigkeit beinhaltet auch eine Klage auf Erlass eines formellen Gesetzes (Rn 1171)[55] oder auf einzelne Akte innerhalb eines Gesetzgebungsverfahrens, wie zB die Klage einer Gewerkschaft auf Zurückziehung eines Gesetzentwurfs[56]. Auch Klagen von Bürgern, die sich auf Volksbegehren oder Volksentscheide beziehen, die eine gesetzliche Regelung anstreben, sind als Streitigkeiten verfassungsrechtlicher Art zu qualifizieren[57].
Schwierig zu beantworten ist die Frage, ob auch eine prinzipale Normenkontrolle, die eine untergesetzliche Rechtsvorschrift zum Gegenstand hat, als verfassungsrechtliche Streitigkeit zu qualifizieren ist. Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, der auch untergesetzliche Rechtsvorschriften erfasst, wie auch der Umstand, dass sich die Wirkungen einer solchen Norm für den Betroffenen nicht von denen eines formellen Gesetzes unterscheiden, legen neben anderen Gründen[58] eine solche Qualifikation nahe. Von ihr ging auch noch der Gesetzgeber bei der Schaffung der VwGO aus[59]. Inzwischen gehen jedoch die hM[60] und die Rspr[61] – wohl nicht zuletzt aus praktischen Gründen (Entlastung des BVerfG)[62] – davon aus, dass prinzipale Normenkontrolle gegenüber untergesetzlichen Rechtsvorschriften keine verfassungsrechtlichen Streitigkeiten darstellen. Da sich die Praxis hieran schon seit langem orientiert und eine diesbezügliche Änderung der Rechtsprechung nicht zu erwarten ist, wird deshalb auch im Folgenden davon ausgegangen, dass durch Normbetroffene beantragte prinzipale Normenkontrollen, die sich gegen untergesetzliche Rechtsvorschriften richten, keine verfassungsrechtlichen Streitigkeiten sind. Der Rechtsschutz ist deshalb durch die Verwaltungsgerichte zu gewähren (näher Rn 1147 ff). Konsequenterweise muss dann dasselbe auch für Klagen auf Erlass untergesetzlicher Normen gelten (Rn 1170).
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Nicht nur aus den Regelungen über die Verfassungsorganstreitigkeiten und Normenkontrollen, sondern auch aus anderen Kompetenzregelungen, die die Zuständigkeit von Verfassungsgerichten begründen, kann auf die verfassungsrechtliche Art vom Bürger initiierter gerichtlicher Streitigkeiten geschlossen werden[63]. So lässt sich aus Art. 93 Abs. 1 Nr 3 GG folgern, dass eine Klage, mit welcher ein Bürger eine auf Art. 85 Abs. 3 GG gestützte Weisung des Bundes an ein Land begehrt (s. auch Kopp/Schenke-W. Schenke, § 50, Rn 3 mwN), eine Streitigkeit verfassungsrechtlicher Art zum Gegenstand hat[64]. Als verfassungsrechtlich sind auch Streitigkeiten anzusehen, mit welchen eine Parlamentswahl als ein Gesamtakt angegriffen wird[65]. Insbesondere solche Streitigkeiten, mit denen ein Bürger die Feststellung der Ungültigkeit einer Bundestags- oder Landtagswahl und damit der Sache nach eine Wahlprüfung begehrt, gehören nach den einschlägigen gesetzlichen Regelungen (vgl zB Art. 41 Abs. 2 GG iVm § 48 BVerfGG) prinzipiell vor die Verfassungsgerichte. Gleiches gilt für den Rechtsschutz gegen Verletzungen des passiven Wahlrechts (Schenke, NJW 2020, 122). Anderes hat aber für Streitigkeiten zu gelten, bei welchen sich der Bürger nicht gegen die Gültigkeit der Wahl wendet, sondern sich gegen die drohende Verletzung seines aktiven Wahlrechts durch Nichteintragung in die für eine Parlamentswahl aufgestellte Wählerliste zur Wehr setzt (s. Schenke, NJW 2020, 120, 125 und Rn 1118). Hier lässt sich auch Normierungen wie § 49 BundeswahlG (BWG) nicht entnehmen, dass ein gerichtlicher Rechtsschutz bei solchen Wahlrechtsverletzungen generell auszuscheiden hat (sehr str)[66]. Der diesbezüglich lange bestehende Streit ist inzwischen allerdings insoweit tlw entschärft, als das BVerfG im Rahmen einer Beschwerde eines Wahlberechtigten, die sich gegen die Wahlprüfung des Bundestags richtet, nunmehr gem. § 48 Abs. 2 BVerfGG auch eine Verletzung des aktiven Wahlrechts festzustellen hat, selbst wenn sie nicht zur Ungültigkeit der Wahl geführt hat. Bedenken wegen Art. 19 Abs. 4 GG bestehen aber noch insoweit, als man einen präventiven gerichtlichen Rechtsschutz eines aktiv Wahlberechtigten mittels einer einstweiligen Anordnung gem. § 123 wegen § 49 BWahlG generell ausschließen will (s. zur hier bestehenden Notwendigkeit eines vorläufigen gerichtlichen Rechtsschutzes näher Schenke, NJW 2020, 122, 125 ff mwN). Das spricht bei drohenden evidenten Verletzungen des aktiven Wahlrechts für den Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der der Anspruch des Bürgers auf Eintragung in das für eine Bundestagswahl angelegte Wählerverzeichnis gesichert wird (s. Rn 1118). Der hier im Hauptsacheverfahren statthafte Rechtsschutz durch eine Verpflichtungsklage käme nämlich idR zu spät. Zumindest muss aber die Möglichkeit bestehen, im Wege einer Feststellungsklage das Recht, bei zukünftigen Bundestagswahlen zu wählen, feststellen zu lassen. Für eine Gruppe, die von der Bundestagswahl wegen Nichtanerkennung als Partei ausgeschlossen wird, regeln die nunmehr eingeführten §§ 96a–96c BVerfGG einen präventiven Rechtsschutz mittels einer Nichtzulassungsbeschwerde.
§ 3 Die Zulässigkeit des Verwaltungsrechtswegs (§ 40 VwGO) › V. Das Fehlen einer Sonderzuweisung an ein anderes Gericht