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Vierundzwanzigster Januar

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„Nanu, was ist denn hier passiert?“ Dies fragte sich Herbert, als er am Morgen in den Garten ging. Alles sah ganz anders aus als gestern.

Am gestrigen Tag baute Herbert einen Schneemann. Nicht für sich. Nicht alleine. Herbert war Mitte dreißig. Er selber würde kaum auf die Idee kommen. Herbert lebte nicht alleine. Herbert lebte nicht bei seiner Mutter. Dort zog er schon vor Jahren aus. Herbert zog mit seiner damaligen Freundin zusammen. Heute ist sie nicht nur seine Freundin. Heute ist sie seine Frau. Vor etwas mehr als zehn Jahren war Hochzeit.

Herbert und seine Frau sind schon eine halbe Ewigkeit zusammen. Schon als Jugendliche haben sie sich kennengelernt. Schon seit der siebenten Klasse sind sie ein Paar. Es gab zwar immer wieder einmal Krisen, doch die gab es wohl überall. Welche Beziehung läuft schon perfekt? Bei welcher Beziehung tritt nie ein Fehler auf? Es kriselt immer einmal.

Vor allem dann, wenn die Familie sich vergrößert. Wenn Nachwuchs kommt. Dann kann die Zeit anstrengend sein. Wo ist meine Schokolade? Warum haben wir keine sauren Gurken mehr? Ich brauche Schokolade und Gurken! Ja, es ist schon zweiundzwanzig Uhr, na und? Irgendein Supermarkt wird doch noch offen haben. Irgendwo auf dieser Welt.

Die Zeit wird besser, wenn der Nachwuchs endlich da ist. Dann dreht sich nicht mehr alles um Mama. Dann steht der Nachwuchs im Mittelpunkt. Windeln wechseln. Flasche geben. Morgens, mittags, abends und auch in der Nacht.

Der Nachwuchs wird älter. Der Nachwuchs wird größer. Windeln müssen nicht mehr gewechselt werden. Die Flasche verschwindet. Der Nachwuchs kann sich selbstständig ernähren. Sofern genug Nahrung zu Hause ist.

Doch auch wenn der Nachwuchs größer und älter wird, die Eltern müssen sich noch immer um den Nachwuchs kümmern. Im Frühling. Im Sommer. Im Herbst und im Winter.

Jetzt war Winter. Jetzt wollte der Nachwuchs im Schnee beschäftigt werden. Alleine Schlittenfahren war kaum möglich. Irgendjemand musste den Schlitten ziehen. Wozu gab es Mama? Wozu gab es Papa? Bergrunter konnte der Nachwuchs alleine. Bergauf war dies nicht möglich. Auf ebenem Gelände erst recht nicht. Mama und Papa mussten ziehen. Notfalls auch zu zweit.

Nicht nur Schlittenfahren war angesagt. Wenn genug Schnee lag, konnte ein Schneemann gebaut werden. Einer? Oft waren es mehr. Oft wurde eine ganze Schneemannfamilie gebaut. Mit Mama. Mit Papa. Mit Kind. Jedes Familienmitglied bekam seinen Schneemann. Jeder war für seinen oder ihren Schneemann zuständig.

Jedes Familienmitglied nahm sich Schnee. Formte diesen in der Hand zu einem Schneeball. Der Schneeball diente als Grundlage für die erste Schneemannkugel. Dann ging es quer über die Wiese. Der Schneeball wurde zu einer großen Kugel gerollt. Nach der ersten folgte die zweite. Dann wurde noch eine dritte für den Schneemannkopf gerollt. Am Ende kam die zweite Schneekugel auf die erste. Der Kopf auf die zweite Schneemannkugel. Dann noch ein bisschen Schmuck und der Schneemann war fertig.

Lange sollte der Schneemann nicht stehen. Es wurde milder. Die Temperatur stieg. Der Schnee schmolz. Auch der Schneemann musste daran glauben. Er wurde in der Nacht kleiner und kleiner. Am Morgen war er nur noch Matsch. Schneematsch im Garten hinter dem Haus von Herbert.

Erzählen-AG: 366 Geschichten

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