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V. Zur zeitlichen Geltung von Straf- und Bußgeldvorschriften: Rückwirkungsverbot und Grundsatz lex mitior

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Im Hinblick auf die Vielzahl von Änderungen im Lebensmittelrecht haben § 2 StGB und § 4 OWiG, welche die zeitliche Geltung von Straf- bzw. Ordnungswidrigkeitenvorschriften bestimmen, im Lebensmittelstrafrecht besondere Bedeutung.[163] Grundsätzlich gilt zwar nach § 2 Abs. 1, 2 StGB, § 4 Abs. 1 OWiG für die Beurteilung einer Tat bzw. Handlung das Recht, das bei Beendigung der Tat bzw. Handlung geltendes Recht war. Dies schließt die Anwendung solcher Gesetze aus, die nach der Tatbegehung erlassen worden sind; es gilt das durch Art. 103 Abs. 2 GG garantierte Rückwirkungsverbot[164]. Dieser verfassungsrechtliche Grundsatz gilt jedoch nur zugunsten des Täters und schließt nachträglich Verschärfungen der Rechtslage aus.

Eine nachträgliche Milderung der Rechtslage muss dem Täter zu Gute kommen. Hierbei handelt es sich nicht um eine ins Ermessen des Gesetzgebers gestellte Entscheidung. Vielmehr ist das Milderungsgebot in Art. 49 Abs. 1 S. 3 GR-Charta garantiert. In Deutschland sieht § 2 Abs. 3 StGB bzw. § 4 Abs. 3 OWiG vor, dass bei nachträglichen Milderungen oder im Falle der Aufhebung einer Straf- bzw. Bußgeldvorschrift die mildere Rechtslage anzuwenden ist, soweit sie vor Ergehen der Entscheidung über die Tat in Kraft tritt. Es ist stets das mildere Gesetz, die lex mitior, anzuwenden (sog. Meistbegünstigungsprinzip[165]).

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Gesetzesänderungen ergeben sich im Lebensmittelstrafrecht oftmals nicht durch unmittelbare Neuregelungen der Strafvorschriften, sondern durch die Modifikation der lebensmittelrechtlichen Bezugsnormen, auf die ein Blankettstrafgesetz bzw. -bußgeldtatbestand verweist. Auch hierbei handelt es sich über die Inbezugnahme der außerstrafrechtlichen Regelung um eine Änderung des Sanktionstatbestandes, da regelmäßig auf die jeweils geltende Fassung der Bezugsnorm verwiesen wird (sog. dynamische Verweisungen; Rn. 48). Eine Änderung blankettausfüllender Normen ist eine Änderung des Strafgesetzes selbst,[166] denn der Unrechtstatbestand entsteht erst durch ein Zusammenlesen der verweisenden Straf- bzw. Bußgeldnorm mit der außerstrafrechtlichen Regelung.[167] Daher gilt das Rückwirkungsverbot insofern auch für die außerstrafrechtlichen Regelungen.[168]

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Gleiches gilt für das Milderungsgebot: Sowohl das Erfordernis des Gesetzesvorbehalts als auch der dem Milderungsgebot zugrunde liegende Gedanke, die begünstigende Rechtserkenntnis des Gesetzgebers auf noch nicht abgeschlossene Sachverhalte anzuwenden, spricht für eine uneingeschränkte Anwendung des Milderungsgebots auf blankettausfüllende Normen: Wenn das ausfüllende Gesetz aufgehoben worden ist, fehlt es zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung an einer gesetzlichen Grundlage, die eine Bestrafung zulässt. Eine Verurteilung würde gegen Art. 103 Abs. 2 GG verstoßen. Außerdem ist aufgrund der Regelung des § 2 Abs. 3 StGB bzw. § 4 Abs. 3 OWiG sowie des Art. 49 Abs. 1 S. 3 EUGRCH im Strafrecht grundsätzlich davon auszugehen, dass jede neue gesetzgeberische Entscheidung, die zur Aufhebung eines Gesetzes und einer Neuregelung führt, als Rechtsverbesserung gilt, die dem Täter zu Gute kommen muss, sofern sie sich mildernd auswirkt. Maßgeblicher Zeitpunkt für die Beurteilung ist das Inkrafttreten des neuen Gesetzes; dies gilt sowohl für das Inkrafttreten des LFGB (7.9.2005)[169] als auch – und hier nunmehr mit wachsender praktischer Bedeutung – für die Änderungsgesetze 2009 (29.6.2009), 2011 (4.8.2011), 2013 (28.5.2013), 2014 (13.12.2014) und 2017 (30.6.2017). Taten, die vor Inkrafttreten des LFGB bzw. der Änderungsgesetze begangen worden sind, sind gemäß § 2 Abs. 1 StGB bzw. § 4 Abs. 1 OWiG nach den mildesten Straf- bzw. Bußgeldbestimmungen zu beurteilen. Daher ist es erforderlich, in jedem Einzelfall unter Berücksichtigung des gesamten sachlich-rechtlichen Rechtsstandes in allen unterschiedlichen Zeitpunkten unter Einbeziehung auch der blankettausfüllenden lebensmittelrechtlichen Vorschriften zu prüfen, welche Regelung zu der mildesten straf- bzw. bußgeldrechtlichen Beurteilung führt.

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So darf etwa die Aufstufung von Ordnungswidrigkeiten zu Straftaten, die zu einer Verschärfung der Sanktionsdrohung führt, nicht berücksichtigt werden, soweit die Straftat vor Inkrafttreten des 2. ÄndG beendet war, weil dies einen Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot des Art. 103 Abs. 2 GG bedeuten würde. Die Herabstufung von Straftaten zu Ordnungswidrigkeiten greift dagegen als milderes Gesetz auch dann durch, wenn die Tat vor dem Inkrafttreten dieser dem Täter günstigen Neuerung begangen worden ist.[170]

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Maßgebend ist nach h.M. der gesamte sachlich-rechtliche Rechtszustand.[171] Welches Gesetz das mildeste ist, bestimmt sich nicht nach der abstrakten Strafdrohung, sondern in konkreter Betrachtung danach, „welche Regelung für den Einzelfall nach seinen besonderen Umständen die mildere Beurteilung zulässt“.[172] Wenn sich die Tatbegehung über eine längere Zeit erstreckt, ist auf die Beendigung des einheitlichen Geschehens abzustellen.[173] Wenn jedoch durch ein späteres Gesetz die Strafbarkeit erst begründet wird, können frühere Teilakte, auch wenn sie als Ordnungswidrigkeit mit Geldbuße bedroht waren, nicht als strafbar in die Bewertung einbezogen werden.[174]

Handbuch Wirtschaftsstrafrecht

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