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B.Die Vergabekammern im System des kartell­vergabe­recht­lichen Primärrechtsschutzes

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3Das kontradiktorisch angelegte Verfahren vor der Vergabekammer zielt nicht auf die nachträgliche Überprüfung eines bereits irreversibel abgeschlossenen Vergabeverfahrens (Sekundärrechtsschutz), sondern eröffnet Rechtsschutzsuchenden die Möglichkeit präventiver Intervention in einem noch laufenden Vergabeverfahren mit dem Ziel, den Rechtsfehler vor der Zuschlagserteilung zu korrigieren und damit die Aussicht auf Zuschlagserteilung zu wahren (Primärrechtsschutz).11 Für diesen Primärrechtsschutz wird mit den §§ 155, 156 Abs. 2 GWB ein eigenständiger ausschließlicher Rechtsweg begründet12 mit der Folge, dass rechtsschutzsuchenden Bewerbern und Bietern sowohl der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten13 als auch der Rechtsweg zu den Zivilgerichten (vgl. für Sekundäransprüche aber § 156 Abs. 3 GWB) verschlossen ist. Die exklusive Rechtswegzuweisung beansprucht nach der zwischenzeitlichen gesetzgeberischen Klarstellung in § 51 Abs. 3 SGG14 Geltung auch für Streitigkeiten im Zusammenhang mit Rechtsbeziehungen zwischen Krankenkassen und den Leistungserbringern nach § 69 (Abs. 3) SGB V.

4Das Verfahren vor der Vergabekammer als Eingangsinstanz ist dem (verwaltungs-)gerichtlichen Verfahren angenähert bzw. gerichtsähnlich ausgestaltet, wie sich insbesondere aus der kontradiktorischen Konzeption (§ 162 GWB), der Geltung des Amtsermittlungsgrundsatzes (§ 163 Abs. 1 Satz 1 GWB), der sachlichen und persönlichen Unabhängigkeit des Spruchkörpers (§ 157 Abs. 1, 4 Satz 2 GWB) und der Entscheidung aufgrund mündlicher Verhandlung (§ 166 Abs. 1 Satz 1 GWB) erschließt. Die Vergabekammern sind an die gestellten Anträge nicht gebunden und können auch unabhängig davon auf die Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens einwirken (§ 168 Abs. 1 Satz 2 GWB). Die von der Vergabekammer erlassenen Beschlüsse entsprechen funktional gerichtlichen Entscheidungen und sind daher wie diese vor einem Rechtsmittelgericht (§ 171 Abs. 3 GWB) anzufechten.15 Trifft die Vergabekammer eine streitbeendende Entscheidung, so geht hiermit eine vorbehaltlich einer sofortigen Beschwerde abschließende Klärung des streitgegenständlichen Rechtsverhältnisses einher. Die Entscheidungen der Vergabekammer entfalten Bindungswirkung auch für spätere Schadensersatzprozesse vor den ordentlichen Gerichten (§ 179 Abs. 1 GWB). Mit der gerichtsähnlichen Ausgestaltung des Nachprüfungsverfahrens nach den §§ 155 ff. GWB hat der Kartellvergabegesetzgeber das Konzept der „gerichtsäquivalent“ bzw. „gerichtsähnlich“16 verfassten Vergabeüberwachungsausschüsse (§ 57c HGrG a. F.17) im System der vormaligen „haushaltsrechtlichen Lösung“ im Wesentlichen fortgeschrieben. Durch die weitgehende Formalisierung des Vergabekammerverfahrens, aber auch mit den in § 157 Abs. 2 GWB formulierten Anforderungen an die juristische Qualifikation und den vergabepraktischen Sachverstand der als Tatsachen- und Rechtsinstanz ausgestalteten Vergabekammern soll eine Streitbeilegung möglichst bereits in erster Instanz gewährleistet werden.18

5Ungeachtet ihrer in materieller Hinsicht rechtsprechenden Tätigkeit sind die Vergabekammern als Verwaltungsspruchkörper bzw. -organe19 in die Innenverwaltung der Länder eingegliedert; ihre Entscheidungen ergehen in der verwaltungsrechtlichen Handlungsform des Verwaltungsakts (§ 168 Abs. 3 Satz 1 GWB).20 Das Verfahren vor der Vergabekammer ist vor diesem Hintergrund trotz seiner justizförmigen Ausgestaltung als Verwaltungsverfahren i. S. v. § 9 VwVfG zu qualifizieren;21 daher unterliegt ein Beschluss der Vergabekammer im Grundsatz dem verwaltungsaktspezifischen Rechtmäßigkeits-, Bestandskraft- und Fehlerfolgenregime einschließlich der Nichtigkeitsfolge des § 44 VwVfG bei schwerwiegend fehlerhaften Entscheidungen.22

6Dem Rückgriff auf den verwaltungsrechtlichen Handlungsformenschatz zum Trotz hat der EuGH die nach deutschem Recht gebildeten Vergabekammern in jüngerer Zeit wiederholt als grundsätzlich vorlageberechtigte Gerichte i. S. v. Art. 267 Abs. 2 AEUV qualifiziert.23 Gestützt hat der Gerichtshof diese Zuordnung in Übereinstimmung mit einer zuvor schon vertretenen Sichtweise24 und im Gegensatz zur Positionierung namentlich des OLG München25 auf den Regelungsgehalt der §§ 156 und 157 GWB und auf die Erwägung, dass die Vergabekammern nach den §§ 155 ff. GWB mit einer ausschließlichen Zuständigkeit für die erstinstanzliche Entscheidung über Rechtsstreitigkeiten zwischen Wirtschaftsteilnehmern und öffentlichen Auftraggebern dauerhaft ausgestattet sind.26 Einer Aussetzung und Vorlage nach Art. 267 Abs. 2 AEUV schon durch die Vergabekammer stehen dabei weder der allgemeine Beschleunigungsgrundsatz (§ 167 GWB) als solcher27 oder die gesetzlich normierte, aber sanktionslos verlängerbare Fünf-Wochen-Frist (§ 167 Abs. 1 Satz 1 GWB)28 noch die grundsätzliche Zuständigkeitszuweisung des § 171 GWB entgegen, wird letztere doch gerade erst durch eine instanzabschließende Sachentscheidung der Kammer nach § 168 GWB aktiviert.29 Daher unterliegt auch weder der Aussetzungsbeschluss als solcher noch der Vorlagebeschluss der Überprüfung durch den Vergabesenat.30

7Ungeachtet ihrer unionsrechtlichen Qualifikation kann der Vergabekammer Gerichtsqualität i. S. d. Art. 92, 100 Abs. 1 GG nicht zuletzt angesichts des in der Handlungsformenzuweisung (§ 168 Abs. 3 Satz 1 GWB) dokumentierten Verständnisses des Kartellvergabegesetzgebers31 indes nicht attestiert werden.32 Der Gesetzgeber hat die Vergabekammern wie schon die Vergabeüberwachungsausschüsse nach § 57c HGrG a. F.33 trotz ihrer gerichtsähnlichen Konzeption vielmehr formal als Teil der Exekutive ausgestaltet und diese dort auch angesiedelt.34 Mangels nationalrechtlicher Gerichtseigenschaft und planwidriger Regelungslücke35 kommt daher bei Nichteröffnung des Kartellvergaberechtswegs eine amtswegige Verweisung in (entsprechender) Anwendung des § 17a Abs. 2 GVG an die zuständige Gerichtsbarkeit36 ebenso wenig in Betracht37 wie umgekehrt eine gerichtliche Verweisung an die Vergabekammer durch ein angerufenes, aber unzuständiges Gericht.38 Einer gerichtlichen Verweisung unmittelbar an den örtlich zuständigen Vergabesenat (§ 171 Abs. 3 GWB) sollten nach bislang vorherrschender Auffassung der vergaberechtliche Beschleunigungsgrundsatz und insbesondere die an den Eingang des Nachprüfungsantrags bei der Vergabekammer als Eingangsinstanz anknüpfenden Fristen (§ 167 Abs. 1 GWB) entgegen stehen.39 Demgegenüber hat das BSG eine solche Verweisung mit Beschluss vom 3. März 2019 unter Hinweis auf die Rechtschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) und die Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 Abs. 1 GG) für geboten erachtet und den Rechtsstreit von Amts wegen unmittelbar an den Vergabesenat verwiesen.40 Da der Vergabesenat indes auf die Funktion des Beschwerdegerichts gegen eine Entscheidung der Vergabekammer beschränkt ist (§ 171 Abs. 1 und 3 GWB) und für den Rechtsstreit bis zum Eingang einer sofortigen Beschwerde funktionell unzuständig bleibt (§ 156 Abs. 1 GWB), wird er den Rechtsstreit in einer solchen Konstellation jedenfalls analog § 281 ZPO an die zuständige Vergabekammer zu verweisen haben.41

8Die im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens zum Vergaberechtsmodernisierungsgesetz 2016 von Seiten des Bundesrats42 vorgeschlagene Erstreckung des amtshaftungsrechtlichen Spruchrichterprivilegs in § 839 Abs. 2 BGB43 auf die Mitglieder der Vergabekammern hat in der endgültigen Fassung des Vergaberechtsmodernisierungsgesetzes keine Berücksichtigung erfahren. Der mit dem Schutz der Rechtskraft, der Sicherung der Unabhängigkeit der Kammermitglieder und der Vermeidung von Haftungsrisiken44 (auch aus der Perspektive ehrenamtlicher Kammermittglieder45) begründeten Änderungsinitiative hatte insbesondere die Bundesregierung die Gefolgschaft verweigert. Gestützt hat sie ihre Ablehnung ausweislich ihrer Gegenäußerung im Wesentlichen darauf, dass für eine Anwendung des dem Schutz der Rechtskraft gerichtlicher Entscheidungen dienenden Spruchrichterprivilegs im Bereich der Exekutive ein vergleichbares Schutzbedürfnis nicht bestehe, der Anspruchsausschluss gem. § 839 Abs. 3 BGB im Regelfall eine hinreichende Sicherung gewähre,46 anderenfalls Wertungswidersprüche gegenüber anderen Beamten mit haftungsrelevanten Funktionen zu gewärtigen seien und schließlich eine Anwendung des Spruchrichterprivilegs auf Vergabekammern aufgrund der Überleitung in Art. 34 Satz 1 GG ohne sachliche Rechtfertigung primär den Staat privilegieren würde.47 Angesichts der eindeutigen gesetzgeberischen Entscheidung kommt daher schon mangels Abweichung vom gesetzgeberischen Regelungsplan eine mitunter erwogene analoge Anwendung des § 839 Abs. 2 BGB auf die Spruchtätigkeit der Vergabekammern48 nicht (mehr) in Betracht.

9Aus der Einordnung des Nachprüfungsverfahrens als Verwaltungsverfahren folgt, dass die Verwaltungsverfahrensgesetze des Bundes und der Länder ergänzend anzuwenden sind, sofern das GWB in den §§ 160 ff. GWB keine hiervon abweichenden Regelungen getroffen hat (vgl. zum Ausschluss abweichenden Landesrechts § 170 GWB).49 Nur daneben50 sind zur Schließung von Regelungslücken in prozessrechtlichen Fragestellungen – jedenfalls im erstinstanzlichen Nachprüfungsverfahren – ggf. auch die Bestimmungen bzw. allgemeinen Wertungen der VwGO heranzuziehen, etwa bei der Bestimmung der Rechtshängigkeit (§§ 81, 90 VwGO), der Zulässigkeit von subjektiver Klagehäufung (§ 64 VwGO i. V. m. § 60 ZPO) und nachträglichen Parteierweiterungen (§ 91 VwGO) oder der Trennung und Verbindung von Verfahren (§ 93 VwGO).51

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