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C.Nachprüfungsgegenstand: Vergabe öffentlicher Aufträge
ОглавлениеI.Öffentliche Aufträge und Konzessionen i. S. v. § 155 GWB
10Gemäß § 155 GWB unterliegt die „Vergabe öffentlicher Aufträge und von Konzessionen“ der kartellvergaberechtlichen Nachprüfung. Obschon die Vorschrift die betreffenden Vergabevorgänge nach ihrem Wortlaut ohne Einschränkungen in Bezug zu nehmen scheint, steht der Zugang zu der kartellvergaberechtlichen Nachprüfung i. S. v. § 155 GWB nur für diejenigen Vergabekonstellationen zur Verfügung, für die der Anwendungsbereich des Vierten Teils des GWB eröffnet ist. „Öffentliche Aufträge“ bzw. „Konzessionen“ i. S. v. § 155 GWB sind demnach allein Aufträge nach Maßgabe der §§ 97 ff. GWB, also entgeltliche Verträge i. S. d. §§ 102–103 bzw. Konzessionen nach § 104, deren Wert die nach § 106 maßgeblichen Anwendungsschwellen objektiv52 erreicht oder übersteigt und die keiner der allgemeinen oder besonderen Ausnahmetatbestände der §§ 107–109, 116–117, 137–140, 145, 149–150 GWB unterfallen.53
11Rechtsschutzsuchenden in Vergabeverfahren unterhalb der Schwellenwerte bleibt demnach neben der Berufung auf die materiell-rechtlichen Bestimmungen der §§ 97 ff. GWB (einschließlich des Anspruchs aus § 97 Abs. 6 GWB) auch das zu deren effektiver Durchsetzung installierte Nachprüfungsregime der §§ 155 ff. GWB verschlossen, da gem. § 106 Abs. 1 GWB der gesamte Vierte Teil des GWB grundsätzlich (vgl. aber § 114 Abs. 2 Satz 3 GWB) nur für Vergabeverfahren oberhalb der Schwellenwerte gem. § 106 Abs. 2 GWB i. V. m. den dort jeweils dynamisch in Bezug genommenen Bezugsrechtsakten verfügbar ist.54 Die Versagung des Zugangs zum kartellvergaberechtlichen Primärrechtsschutzverfahren unterhalb der unionsrechtlichen Schwellenwerte ist nach der Entscheidung des BVerfG vom 13.6.200655 mit dem für maßgeblich befundenen allgemeinen Justizgewährungsanspruch und dem Gleichheitsgrundsatz gem. Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar und daher von Verfassungs wegen nicht zu beanstanden. Angesichts der vom Gesetzgeber bei der Einführung der §§ 155 ff. GWB bewusst angelegten56 Zweiteilung des Vergabe(prozess-)rechts kommt auch eine analoge Anwendung der §§ 155 ff. GWB nicht in Betracht, fehlt es doch angesichts des wiederholt aktualisierten gesetzgeberischen Willens57 ersichtlich weiterhin an einer planwidrigen Regelungslücke, die im Wege der Analogie geschlossen werden könnte.58
12Einer inhaltlichen Nachprüfung im Wege des speziellen Kartellvergaberechtsschutzes sind darüber hinaus auch solche Vergabeverfahren entzogen, die gem. §§ 107–109, 116–117, 137–140, 145, 149–150 GWB aufgrund bestimmter Charakteristika und ungeachtet ihres wirtschaftlichen Volumens vom Anwendungsbereich des Kartellvergaberechts ausgenommen sind59 oder Vorgänge außerhalb des sachlichen Anwendungsbereichs der §§ 102–104 GWB zum Gegenstand haben. Dies gilt etwa für Aufträge und Konzessionen, deren Vergabe dem Anwendungsbereich des (restriktiv auszulegenden60) Art. 346 Abs. 1 lit. b AEUV unterliegt (§ 107 Abs. 2 Nr. 2 GWB61) oder für sicherheitsrelevante Beschaffungsvorgänge nach Maßgabe des § 117 Nr. 1–3 GWB62. Bereits aus dem objektiv gefassten Normtext des § 106 Abs. 1 GWB („gilt“) ebenso wie aus Formulierung der diversen Ausnahmetatbestände („ist nicht anzuwenden“, vgl. § 107 Abs. 1 GWB) folgt überdies, dass die Eröffnung des kartellvergaberechtlichen Anwendungsbereichs und damit auch der Zugang zum rechtsschutzintensiven kartellvergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren der Disposition des öffentlichen Auftraggebers entzogen sind.63 Daher vermag auch weder eine freiwillige oder rechtsirrtümlich für erforderlich gehaltene Anwendung des Kartellvergaberechts für gem. § 106 Abs. 1 GWB oder aufgrund einer Bereichsausnahme ausgenommene Vergabeverfahren noch eine entsprechende Parteivereinbarung64 den Zugang zum Nachprüfungsverfahren nach dem vierten Teil des GWB nicht zu erschließen.65
13Die im bisherigen Recht angelegte Differenzierung zwischen sog. vorrangigen und nicht-prioritären bzw. nachrangigen Dienstleistungen66 wurde im Zuge der Neufassung des Sekundärrechts durch das Richtlinienpaket zur Modernisierung des europäischen Vergaberechts nicht fortgeschrieben. Funktional an ihre Stelle sind als unionsrechtliche Sonderkategorie sog. Aufträge und Konzessionen über soziale und andere besondere Dienstleistungen nach Anh. XIV der VRL bzw. Anh. XVII KVR getreten, die in den Art. 74 ff. VRL bzw. Art. 91 ff. KVR besonderen erleichterten Beschaffungsregelungen und erhöhten Anwendungsschwellen unterstellt werden.67 Durch die Einführung eines Sonderregimes für derartige Dienstleistungen in den §§ 130, 153 GWB hat der Gesetzgeber die unionsrechtlichen Vorgaben kartellvergaberechtlich nachvollzogen und den insoweit angelegten Flexibilisierungsspielraum für öffentliche Auftraggeber im Anwendungsbereich des GWB-Vergaberechts erschlossen.68 Die vergaberechtliche Privilegierung sozialer bzw. besonderer Aufträge und Konzessionen in §§ 130, 153 GWB ändert jedoch nichts an ihrer Eigenschaft als öffentliche „Aufträge“ bzw. „Konzessionen“ i. S. d. §§ 97 Abs. 1, 103 Abs. 1 und 4, 105 Abs. 1 Nr. 2 GWB und damit auch des § 155 GWB. Folgerichtig soll nach dem Verständnis des Reformgesetzgebers auf jene Auftragskategorie der Abschnitt 1 uneingeschränkte Anwendung finden.69 Den §§ 155 ff. GWB sind Anhaltspunkte für eine rechtschutzrechtliche Sonderbehandlung von Aufträgen und Konzessionen Anh. XIV der VRL bzw. Anh. XVII KVR ebenfalls nicht zu entnehmen. Trotz des materiell ausgedünnten Anforderungsprogramms ist damit für die Vergabe von Aufträgen oder Konzessionen über soziale und sonstige besondere Dienstleistungen oberhalb der besonderen Schwellenwerte entgegen mitunter anzutreffender70 Auffassung der Rechtsweg zu den kartellvergaberechtlichen Nachprüfungsinstanzen nach §§ 155 ff. GWB ebenso eröffnet wie vormals für die sog. nicht-prioritären Dienstleistungen.71 Die Vergabe von öffentlichen Aufträgen über Personenverkehrsleistungen im Eisenbahnverkehr weist der im Zuge des Vergaberechtsmodernisierungsgesetzes 2016 neu eingeführte § 131 GWB im Anschluss an die Rechtsprechung des BGH72 dem Kartellvergaberechtsregime und damit auch der kartellvergaberechtlichen Nachprüfung nunmehr ausdrücklich zu.73
II.„Vergabe“ i. S. v. § 155 GWB
14Der kartellvergaberechtlichen Nachprüfung unterliegt gem. § 155 GWB „die Vergabe“ öffentlicher Aufträge und Konzessionen. § 160 Abs. 3 i. V. m. Abs. 2 GWB, der die Zulässigkeitsanforderungen an den Nachprüfungsantrag inhaltlich näher ausformt, nimmt nach dem Willen des Gesetzgebers auch nach der Neufassung weiterhin die Nichtbeachtung, die Verletzung von oder den Verstoß gegen Vergabevorschriften „im Vergabeverfahren“ in den Blick.74 Und § 156 Abs. 2 GWB identifiziert den statthaften Kontrollgegenstand eines vergaberechtlichen Nachprüfungsverfahrens mittelbar über das Erfordernis der Geltendmachung von Rechten, die auf die Vornahme oder das Unterlassen einer Handlung „in einem“ Vergabeverfahren gerichtet sind. Ganz in diesem Sinne ist auch § 169 GWB zu verstehen, der ausweislich der amtlichen Überschrift die Aussetzung „des Vergabeverfahrens“ zum Gegenstand hat.75 Aus der gesetzgeberischen Rechtschutzkonzeption und aus der Bestimmungsautonomie des Auftraggebers76 kann daher abgeleitet werden, dass eine „Vergabe“ i. S. v. § 155 GWB erst dann vorliegt und um Primärrechtsschutz auf dem durch § 155 GWB eröffneten Weg daher erst nachgesucht werden kann, wenn ein Auftraggeber i. S. d. §§ 98–101 GWB zur Deckung seines Bedarfs in ein Verfahren eingetreten ist, das der Beschaffung beispielsweise von Dienstleistungen am Markt dient, hierauf ausgerichtet ist und mit der Vergabe des Auftrags oder der Konzession seinen Abschluss finden soll.77 Der so verstandene Begriff der Vergabe erfasst nur Vorgänge mit Bezug auf das eigentliche Vergabeverfahren, nicht jedoch außerhalb eines konkreten Vergabeverfahrens liegende Umstände78 oder abstrakte Rechtsfragen ohne Bezug zu einem solchen Beschaffungsvorgang.79 Daher kann ein Unternehmen gegen eine von einem potentiellen Auftraggeber verfahrensübergreifend verhängte Auftragssperre unabhängig von einem konkreten Vergabeverfahren nicht im Wege der §§ 155 ff. GWB vorgehen. Ein solcher genereller, verfahrensübergreifender Ausschluss ist von der Sonderzuweisung der §§ 155, 156 Abs. 2 GWB sowie dem Regelungsregime der §§ 97 ff. GWB tatbestandlich schon nicht erfasst.80 Er vermag daher außerhalb eines konkreten Vergabeverfahrens auch Rügeobliegenheit und Präklusionsfolge des § 160 Abs. 3 GWB nicht auszulösen.81 Vielmehr sind in Bezug auf verfahrensübergreifende Auftragssperren nach § 13 GVG im Grundsatz die Zivilgerichte zur Entscheidung aufgerufen;82 denn es handelt sich regelmäßig um eine zivilrechtliche Erklärung des Auftragsgebers, deren Rechtswirkung sich im Wesentlichen in der Ankündigung eines bestimmten tatsächlichen Verhaltens im Rahmen zukünftiger Auftragsvergabeverfahren erschöpft.83 Soweit der Ausschluss der Klägerin von sämtlichen Vergabeverfahren indes in der äußeren Form eines (privatrechtsgestaltenden) Verwaltungsakts erfolgt, ist der Verwaltungsrechtsweg unabhängig von der Natur des zugrunde liegenden Rechtsverhältnisses eröffnet.84 Ebenso wenig wie zur Überprüfung verfahrensübergreifender Auftragssperren ist die Vergabekammer zu der Untersuchung berufen, ob eine bereits erfolgte Auftragsvergabe nach Kündigung „fortbesteht“ und daher ein zwischenzeitlich eingeleitetes Verfahren zur anderweitigen Auftragsvergabe ausgeschlossen ist.85 Der Nachprüfungsantrag dient entsprechend der Zielrichtung der §§ 155 ff. GWB schließlich auch nicht dazu, die zivilrechtliche Wirksamkeit von vermeintlich geschlossenen Verträgen zu überprüfen.86