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E.Rechtsschutz bei Auftrags- und Konzessionsvergaben außerhalb des kartellvergaberechtlichen Anwendungsbereichs

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25Die Nichtanwendbarkeit des kartellvergaberechtlichen Nachprüfungsregimes auf Auftrags- und Konzessionsvergaben außerhalb des Kartellvergaberechts146 hat entgegen anderslautender Bewertungen147 indes nicht zur Folge, dass in Bezug auf die Vergabe von Aufträgen und Konzessionen unterhalb der Schwellenwerte bzw. im Anwendungsbereich der allgemeinen und besonderen Ausnahmetatbestände de lege lata überhaupt kein Primärrechtsschutz zur Verfügung stünde.148 Eine derartige Konsequenz ergibt sich angesichts der seinerzeit auf die Transformation sekundären Unionsrechts in innerstaatliches Recht beschränkten Regelungsintention des GWB-Gesetzgebers149 insbesondere nicht im Umkehrschluss aus der Bereitstellung eines spezifischen Primärrechtsschutzinstrumentariums oberhalb der Schwellenwerte.150 Auch aus § 156 Abs. 2 und 3 GWB lässt sich eine entsprechende Sperrwirkung nicht entnehmen,151 da diese systematisch selbst in den Vierten Teil des GWB eingeordnet sind und darum bei Aufträgen unterhalb der Schwellenwerte keine Anwendung finden.152 Rechtsschutz gegen nachteilige Vergabeentscheidungen unterhalb der Schwellenwerte richtet sich nach der vom Reformgesetzgeber 2009153 rezipierten Rechtsansicht des BVerfG vielmehr nach der „allgemeinen Rechtsschutzordnung“154 bzw. den „allgemeinen Rechtsschutzmöglichkeiten“155, die – wie bereits der originäre Kartellvergaberechtsgesetzgeber156 erkannt hatte – im Wege eines gerichtlichen (Eil-)Rechtsschutzverfahrens realisierbare vorbeugende Unterlassungsansprüche grundsätzlich vorsehen.157 Dieser Rechtsbefund wird auch nicht durch die entgegenstehende Einschätzung diverser Landesgesetzgeber158 erschüttert, deren abweichende Bewertung die von Bundesrechts wegen eröffneten Rechtsbehelfe schon aus kompetenziellen Gründen (vgl. Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG) unberührt lässt. Daneben streiten auch die Vorgaben des Unionsprimärrechts gegen einen kategorischen Primärrechtsausschluss für Auftrags- und Konzessionsvergaben unterhalb der Schwellenwerte.159 Soweit das Primärrecht (insbesondere also die Grundfreiheiten, das Gleichbehandlungsgebot sowie das Diskriminierungsverbot)160 im Falle eines eindeutigen grenzüberschreitenden Auftragsinteresses161 auch im Unterschwellenbereich Anwendung findet, ist nach der vom BGH162 zwischenzeitlich reflektierten Rechtsprechung des EuGH nämlich sicherzustellen, dass die Ausübung der unionsrechtlich begründeten Rechtspositionen durch die Ausgestaltung der innerstaatlichen Rechtsschutzordnung nicht praktisch vereitelt oder übermäßig erschwert wird (Grundsatz der Effektivität).163

I.Rechtsweg

26Hatten im Gefolge der sogenannten „Lenkwaffen-Entscheidung“ des OVG Koblenz164 zunächst noch zahlreiche Verwaltungsgerichte die Rechtswegzuständigkeit für Primärrechtsschutzbegehren in Bezug auf Vergabeverfahren unterhalb der Schwellenwerte reklamiert,165 so steht mit den Beschlüssen des BVerwG vom 5.5.2007166 und des BGH vom 21.1.2012167 für die Vergaberechtspraxis fest, dass für Streitigkeiten um die privatrechtsförmige Vergabe öffentlicher Aufträge unabhängig von dem Ziel der staatlichen Beschaffungstätigkeit gem. § 13 GVG grundsätzlich der ordentliche Rechtsweg eröffnet ist. In der vergaberechtlichen Peripherie sind der Verwaltungsgerichtsbarkeit gleichwohl auch weiterhin einige durchaus bedeutsame Zuständigkeitsreservate zur Wahrnehmung verblieben, so insbesondere die Überprüfung von Verfahren zur Vergabe von Dienstleistungskonzessionen unterhalb der Schwellenwerte, die in den Formen des öffentlichen Rechts erfolgen soll.168

II.Einstweilige Verfügung bzw. Anordnung

27Primärrechtsschutz in Bezug auf unterhalb der unionsrechtlichen Anwendungsschwellen durchgeführte Vergabeverfahren ist vor den ordentlichen Gerichten mit der mittlerweile nahezu einhelligen169 Auffassung jedenfalls dem Grundsatz nach im Wege einer einstweiligen Verfügung nach Maßgabe der §§ 935, 940 ZPO zu erlangen.170 Zuständig ist gem. §§ 937 Abs. 1, 943 ZPO das Gericht der Hauptsache. Damit ist angesichts der typischerweise in Rede stehenden Auftragswerte gem. § 71 Abs. 1 GVG regelmäßig die sachliche Zuständigkeit der Landgerichte begründet. Die örtliche Zuständigkeit bemisst sich nach § 18 ZPO. Der Antragsteller hat gem. §§ 936, 920 Abs. 2 ZPO sowohl einen Verfügungsanspruch als auch einen Verfügungsgrund darzulegen und glaubhaft zu machen. Richtet sich der Antragsteller hingegen gegen ein Verfahren zur Vergabe von Konzessionen unterhalb der Schwellenwerte, das in den Formen des öffentlichen Rechts organisiert wird, so ist grundsätzlich der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gem. § 123 Abs. 1 VwGO statthaft.171 Auch insoweit hat der Antragsteller einen Anordnungsanspruch ebenso wie einen Anordnungsgrund glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO). Nur soweit das betreffende Auswahlverfahren ausnahmsweise mit einer als Verwaltungsakt (§ 35 Satz 1 VwVfG) zu qualifizierenden Entscheidung abschließt, ist vorläufiger Rechtsschutz wegen § 123 Abs. 5 VwGO ausschließlich im Wege eines Antrags nach § 80a Abs. 3 Satz 2, § 80 Abs. 5 VwGO zu erlangen.172

1.Verfügungsanspruch

28Da sich die Beschaffungsaktivitäten der öffentlichen Hand in der Regel nicht als Wettbewerbshandlungen darstellen, scheitern jedenfalls lauterkeitsrechtliche Unterlassungsansprüche gem. §§ 8 Abs. 1, 3 Abs. 1 UWG grundsätzlich am Vorliegen einer Wettbewerbshandlung des beklagten Auftraggebers i. S. d. § 2 Nr. 1 UWG, wenn nicht ausnahmsweise eine gezielte Begünstigung von Mitbietern in Betracht kommt.173 Abgesehen von der Nachfragemacht öffentlicher Auftraggeber auf einigen wenigen Beschaffungsmärkten (namentlich bei der staatlichen Bedarfsdeckung im Rüstungs-174, Infrastruktur-175 und Gesundheitssektor176) wird man öffentlichen Auftraggebern auch eine marktbeherrschende Stellung im kartellrechtlichen Sinne nur in besonderen Ausnahmefällen attestieren können, sodass auch ein kartellrechtlicher Unterlassungsanspruch aus §§ 19 Abs. 1, 20 Abs. 1 i. V. m. § 33 Abs. 1 GWB regelmäßig nicht in Betracht kommt.177

29Nach einer weiterhin vertretenen Auffassung bleibt der Bieterrechtsschutz im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes im Übrigen auf eine gerichtliche Willkürkontrolle beschränkt. Als Anspruchsgrundlage für einen aus Verletzung des Willkürverbots folgenden Verfügungsanspruch soll sich der Bieter auf Art. 3 Abs. 1 GG unmittelbar178 bzw. §§ 823 Abs. 2, 1004 BGB analog (selbstständig179 oder i. V. m. Art. 3 Abs. 1 GG180) berufen können. Nach dieser Lesart kommt ein Unterlassungsanspruch (nur dann) in Betracht, wenn der Auftraggeber vorsätzlich rechtswidrig, sonst in unredlicher Absicht oder jedenfalls in Bezug auf das Verfahren oder die Kriterien der Vergabe willkürlich gehandelt hat.181 Ein schlicht „rechtswidriges Verhalten“,182 ein „objektiver Verstoß“183 bzw. „einfache und durchaus übliche“184 Verfahrensfehler werden insoweit nicht als ausreichend erachtet. Angenommen wurde eine willkürliche Diskriminierung von Bietern demnach bislang nur in besonders augenfälligen Konstellationen, etwa im Falle eines auf offenkundig unzutreffender Auslegung des Bietergebots beruhenden Angebotsausschlusses185 oder dann, „wenn die Leistungsbeschreibung in einem solchen Maße fehlerhaft ist, dass eine Vergleichbarkeit der auf ihr basierenden Angebote schlechterdings ausgeschlossen erscheint“186.

30Ob die kategorische Beschränkung des gerichtlichen Kontrollmaßstabs jenseits wettbewerbsrechtlicher Ansprüche auf eine bloße Willkürkontrolle den verfassungsrechtlichen Anforderungen hinreichend Rechnung trägt, erscheint jedenfalls zweifelhaft. Denn das BVerfG hat konzediert, dass „darüber [über das Willkürverbot, d. Verf.] hinaus“ auch „die tatsächliche Vergabepraxis zu einer Selbstbindung der Verwaltung führen“187 könne, mittels derer den verwaltungsinternen Regelungen über Verfahren und Kriterien der Vergabe eine mittelbare Außenwirkung zukommen könne. Daraus folgt, dass bereits eine nicht weiter qualifizierte, also objektive „Abweichung von solchen Vorgaben […] eine Verletzung des Art. 3 Abs. 1 GG“188 zur Folge haben kann. Dementsprechend setzt sich zunehmend die Auffassung durch, dass auch jenseits der Willkürschwelle Primärrechtsschutz in Form von präventiven Unterlassungsansprüchen gegen mutmaßliche Verletzungen des anwendbaren Vergabeverfahrensrechts durch die Vergabestelle zu gewähren ist. Dieser überwiegend auf das in den §§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 i. V. m. § 280 Abs. 1 BGB positivierte Institut der culpa in contrahendo gestützte,189 zum Teil aber auch aus §§ 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB unmittelbar190 oder gar aus § 1004 Abs. 1 BGB analog191 hergeleitete Anspruch ist auf die Unterlassung solcher Maßnahmen gerichtet, die den Bieter in seinem Vertrauen auf die Durchführung eines vergaberechtskonformen Verfahrens nach Maßgabe der anwendbaren Verfahrensregelungen beeinträchtigen. Dem liegt im Ausgangspunkt die höchstrichterliche Rechtsprechung sowohl des BVerwG192 als auch des BGH193 zugrunde, wonach durch die Ausschreibung und die Beteiligung des Bieters daran ein vorvertragliches Vertrauensverhältnis begründet wird,194 kraft dessen die Vergabestelle verpflichtet ist, die vorab definierten Verfahrensregelungen195 einzuhalten.196 Die Verletzung von Pflichten aus diesem vorvertraglichen Schuldverhältnis kann gem. §§ 280 Abs. 1, 311 Abs. 2, 241 Abs. 2 BGB Schadensersatzansprüche gegen öffentliche Auftraggeber zur Folge haben.197 Eine Verletzung des qua Selbstunterwerfung anwendbaren Vergabeverfahrensrechts soll auf der Rechtsfolgenebene indes nicht nur Schadensersatzansprüche begründen198, sondern über den Wortlaut des § 241 Abs. 1, 280 Abs. 1 BGB hinaus bereits auf der Primärrechtsebene auch einen korrespondierenden Anspruch auf Unterlassung der Zuschlagserteilung an einen Mitbieter auslösen können, soweit die vertrauenswidrige199 Verletzungshandlung oder der pflichtwidrig geschaffene Zustand noch andauert.200 Dies soll auch dann gelten, wenn sich ein privater Auftraggeber freiwillig oder in Befolgung von Nebenbestimmungen zu einem Zuwendungsbescheid den Regelungen der Verdingungsordnungen unterwirft.201

31Die Gewährung vorbeugender Unterlassungsansprüche aus §§ 311 Abs. 2, § 280 Abs. 1 BGB lässt sich auf die Erwägung stützen, dass eine „unerträgliche Rechtsschutzlücke“ zu besorgen wäre, wollte man der in ihren Rechten verletzten ­(Vertrags-)Partei Unterlassungsansprüche vorenthalten und sie auf Sekundäransprüche verweisen, obwohl die Verletzungshandlung noch andauert bzw. der daraus resultierende Schaden noch nicht irreparabel ist.202 Die Versagung eines vorbeugenden Unterlassungsanspruchs aus dem Rechtsgrund der culpa in contrahendo203 wäre überdies nur schwerlich in Einklang zu bringen mit dem der deutschen Rechtsordnung204 allgemein zugrunde liegenden Rechtsschutzverständnis, wonach (drohendes) rechtswidriges Verhalten (zumal von Seiten des auch bei der Auftragsvergabe grundrechtsgebundenen205 Staates) nach Möglichkeit abzuwehren ist, vgl. §§ 254 Abs. 2, 839 Abs. 2 BGB.206 Insoweit ist anerkannt, dass Rechte und Rechtsgüter nicht nur nach vollendeter Verletzung im Sinne eines Duldens und Liquidierens durch Schadensersatzansprüche geschützt werden sollen, sondern schon präventiv gegen drohende Verletzung durch Unterlassungsansprüche.207 Auch im Interesse einer schonenden Verwendung öffentlicher Mittel erscheint es schließlich vorzugswürdig, „Schäden gar nicht erst entstehen zu lassen, als sie später zu liquidieren“.208

2.Verfügungsgrund

32Die an die Darlegung des Verfügungsgrundes zu stellenden Anforderungen hängen maßgeblich davon ab, ob man das konkrete Rechtsschutzbegehren als Antrag auf Erlass einer Sicherungs- (§ 935 ZPO) oder Regelungsverfügung (§ 940 ZPO) auffasst. Die sich mit dieser Frage ausdrücklich auseinandersetzenden Entscheidungen qualifizieren das antragstellerseitige Begehren überwiegend als Antrag auf Erlass einer Sicherungsverfügung209 und legen damit die Anforderungen aus § 935 ZPO jedenfalls dann zugrunde, wenn das Begehren des Antragstellers darauf beschränkt bleibt, den Anspruch auf ein ordnungsgemäßes Vergabeverfahren vorläufig zu sichern, insbesondere durch vorläufiges Verbot der Zuschlagserteilung. Nach vorherrschender Lesart soll sich der Verfügungsgrund gem. § 935 ZPO dann schon daraus ergeben, dass mit der Auftragsvergabe jederzeit zu rechnen ist und der Primärrechtsschutz damit vereitelt würde.210 Demgegenüber wird zum Teil eine weitergehende Interessenabwägung zwischen den Belangen des unterlegenen Bieters („Aussetzungsinteresse“) und dem öffentlichen Interesse an einer zügigen und wirtschaftlichen Auftragsvergabe sowie den privaten Interessen des erfolgreichen Bieters („Fortsetzungsinteresse“) für erforderlich gehalten.211

33In einigen Fällen wurde das bieterseitige Rechtsschutzbegehren auch als Antrag auf Erlass einer Regelungsverfügung qualifiziert und demgemäß an den Voraussetzungen des § 940 ZPO gemessen, etwa im Falle eines auf die Anordnung der Rücknahme der Aufhebung gerichteten Verfügungsantrags212 oder dann, wenn mit dem Antrag ein dauerhaftes Verbot der Vergabe auf der Grundlage des vorgegebenen Leistungsverzeichnisses erstrebt wird.213 Die bloße Eilbedürftigkeit reicht für den Erlass einer solchen Regelungsverfügung jedenfalls nicht aus. Erforderlich ist insoweit vielmehr eine umfassende Interessenabwägung unter Berücksichtigung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.214

34Unabhängig von der Einordnung der begehrten Verfügung als Sicherungs- oder Regelungsverfügung ist zu beachten, dass Maßnahmen i. S. d. § 938 ZPO nach ihrem Rechtscharakter und ihrem Inhalt grundsätzlich nur einstweiliger Natur sein dürfen (Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache). Ein auf Zuschlagserteilung an den Antragsteller zielender Verfügungsantrag ist auf die (zumindest partielle) Erfüllung des Hauptsachebegehrens gerichtet und kann daher im Verfahren der §§ 935, 940 ZPO keinen Erfolg haben.215 Für die Feststellung eines Rechtsverhältnisses im Wege der einstweiligen Verfügung besteht mangels Rechtsschutzinteresses regelmäßig kein Verfügungsgrund.216

III.Faktische Defizite des unterschwelligen Primärrechtsschutzes

35Die in § 134 GWB statuierte Vorabinformationspflicht ist bei Vergabefahren außerhalb des kartellvergaberechtlichen Anwendungsbereichs nicht – auch nicht analog – anwendbar217. Ansätze zur Herleitung einer Vorabinformationsfrist aus der Rechtschutzgarantie218 oder aus dem Unionsrecht219 haben in der Praxis bislang keine größere Gefolgschaft gefunden. Primärrechtsschutzoptionen des nicht für die Zuschlagserteilung in Aussicht genommenen Bieters bzw. Bewerbers werden daher mangels Kenntnis von der drohenden Zuschlagserteilung nicht selten bzw. zumeist220 „faktisch ganz ausscheiden“221. Denn der unterlegene Bieter kann bei öffentlichen Aufträgen unterhalb des Schwellenwertes nach wirksamer Zuschlagserteilung222 aufgrund der eingetretenen vertraglichen Bindung („pacta sunt servanda“223) grundsätzlich nicht mehr in das infolgedessen begründete vertragliche Rechtsverhältnis zwischen dem Auftragnehmer und dem Auftraggeber eingreifen.224 Dies hindert die Rechtsschutzgewährung bezüglich desjenigen Bieters, der vor Zuschlagserteilung im Einzelfall über die nötigen Informationen verfügt, jedoch nicht.225 Mit den zum Teil auf landesrechtlicher Grundlage statuierten Vorabinformationspflichten für unterschwellige Vergabeverfahren namentlich in den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern (§ 12 VgG M-V226), Sachsen (§ 8 Abs. 1 SächsVergabeG227), Sachsen-Anhalt (§ 19 Abs. 1 LVG LSA228) und in Thüringen (§ 19 Abs. 1 ThürVgG229) werden die faktischen Voraussetzungen für eine effektive Rechtsschutzwahrnehmung vor Zuschlagserteilung immerhin verbessert230. Gleichwohl bleiben die genannten Bestimmungen hinter der kartellvergaberechtlichen Informationspflicht gem. § 134 GWB doch jedenfalls insoweit zurück, als sie eine § 135 Abs. 1 GWB entsprechende Unwirksamkeitsfolge mit Rücksicht auf kompetenzrechtliche Bedenken231 nicht vorsehen. Ungeachtet des Fehlens einer expliziten Nichtigkeitsanordnung hat die Vergabekammer Sachsen-Anhalt die Nichtbeachtung der landesrechtlichen Informationspflicht232 wiederholt als Verstoß gegen ein gesetzliches Verbot i. S. v. § 134 BGB gewertet und die verbotswidrige Zuschlagserteilung daher für unwirksam erachtet.233 Demgegenüber hat das LG Rostock die landesrechtliche Vorabinformationspflicht in § 12 Abs. 1 Satz 2 VgG M-V als „bloße Ordnungsvorschrift ohne unmittelbare Sanktionsmöglichkeit“ qualifiziert.234

36Die faktischen Realisierungsdefizite zivilrechtlichen Primärrechtsschutzes liegen daneben in verfahrensrechtlichen Unterschieden im Verhältnis zu den §§ 155 ff. GWB begründet:

– Anders als im kartellvergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren (§ 163 Abs. 1 Satz 1 GWB) oder im Verwaltungsgerichtsprozess (§ 86 Abs. 1 Satz 1 VwGO) ist der Bieter im einstweiligen Verfügungsverfahren nach allgemeinen Beweislastgrundsätzen für das Vorliegen eines Vergabeverstoßes darlegungs- und beweispflichtig (Beibringungsgrundsatz).235 So hat der Bieter etwa die Vollständigkeit der von ihm eingereichten Angebotsunterlagen grundsätzlich nachzuweisen, wenn nicht konkrete Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Unvollständigkeit des Angebots im Verantwortungsbereich der Vergabestelle zu verorten ist.236 Entsprechend der allgemeinen zivilprozessualen Darlegungs- und Beweispflicht obliegt ihm ferner die Glaubhaftmachung, dass er im Falle des Verbleibs seines ausgeschiedenen Angebots in der Wertung eine realistische Chance auf Erteilung des Zuschlags gehabt hätte.237 Auf zivilprozessimmanente Möglichkeiten zur Verbesserung der Rechtsstellung des Bieters wie insbesondere die Grundsätze über die sekundäre Behauptungslast ist in der gerichtlichen Praxis bislang erst zögerlich zurückgegriffen worden.238 Sie vermögen den Ausfall der Amtsermittlungspflicht unterhalb der Schwellenwerte daher insgesamt nicht zu kompensieren.239

– Im Unterschied zu den Verfahren vor den Vergabekammern (§ 165 Abs. 1 GWB) und den Verwaltungsgerichten (§§ 99 Abs. 1, 100 Abs. 1 VwGO) steht in einstweiligen Verfügungsverfahren vor den Zivilgerichten ein spezielles Akteneinsichtsrecht nicht zur Verfügung. Informationsfreiheitsrechtlich begründete Auskunftsansprüche dürften – soweit auf den jeweiligen Auftraggeber überhaupt anwendbar – jedenfalls nicht im selben Umfang und vor allem nicht ebenso zeitnah Aufschluss über die interne Willensbildung des Auftraggebers bieten wie ein verfahrensbegleitendes Akteneinsichtsrecht. Jedenfalls mit Blick auf „äußere“ Eigenschaften der Vergabeunterlagen betreffende Informationsbegehren hat allerdings das OLG Schleswig einen seitens des Auftraggebers kurzfristig zu erfüllenden Auskunftsanspruch auf „ergänzende Informationen und auch Akteneinsicht“ angenommen, dem bei Bedarf auch durch eine primärrechtschutzwahrende Zwischenverfügung bis zur Erfüllung der Informationsansprüche zur Durchsetzung verholfen werden kann.240

– Überdies ist das Gericht im Zivilverfahren an die gestellten Anträge gebunden (Dispositionsmaxime); es kann nicht wie im Nachprüfungsverfahren (§ 168 Abs. 1 Satz 1 GWB) die geeigneten Maßnahmen zur Beseitigung einer vermeintlichen Rechtsverletzung ohne Antragsbindung selbst auswählen. Unzulässige bzw. auf eine rechtswidrige Verpflichtung gerichtete Anträge sind daher einer amtsseitigen „Umdeutung“ nicht zugänglich.241

Weitere Nachteile im Verhältnis zum kartellvergaberechtlichen Rechtsschutz ergeben sich etwa aus dem Umstand, dass vor dem Landgericht gem. § 78 Abs. 1 Satz 1 ZPO im Gegensatz zum erstinstanzlichen Verfahren vor der Vergabekammer (Argument aus §§ 172 Abs. 3, 175 Abs. 1 GWB) Anwaltszwang herrscht242 und sich der Bieter im Fall der späteren Aufhebung der einstweiligen Verfügung gem. § 945 ZPO einem über § 180 GWB deutlich hinausgehenden Risiko verschuldensunabhängiger Haftung ausgesetzt sieht.

37Auch in der mangelhaften Absicherung des Antragstellers gegen rechtsschutzvereitelnde Handlungen des Antragsgegners (Zuschlagserteilung) liegt eine charakteristische Schwäche des unterschwelligen Primärrechtsschutzes begründet. Während nämlich im kartellvergaberechtlichen Nachprüfungsverfahren bereits der Zugang des Nachprüfungsantrags zu einer Zuschlagssperre führt (§ 169 Abs. 1 GWB), die auch bei einer Abweisung des Antrags durch die Vergabekammer zunächst aufrechterhalten wird und durch das Beschwerdegericht prolongiert werden kann (§ 173 Abs. 1 GWB), fehlt es im Verfahren auf Erlass einer einstweiligen Verfügung an einem vergleichbaren Suspensivmechanismus. Demnach besteht auch nach Rechtshängigkeit des Verfügungsverfahrens die Gefahr, dass der einstweilige Primär-Rechtsschutz dadurch vereitelt wird, dass die Verfügungsbeklagte noch vor der mündlichen Verhandlung den streitbetroffenen Vertrag abschließt.243 In Betracht kommt in derartigen Konstellationen jedoch die Beantragung einer zeitlich beschränkten Zwischenverfügung, um vergleichbar § 169 Abs. 1 GWB bzw. § 570 Abs. 3 ZPO eine Zuschlagssperre bis zur instanzabschließenden Entscheidung über den Verfügungsantrag auszulösen.244 Der Erlass einer solchen (in § 936 i. V. m. §§ 922, 937 Abs. 2 ZPO nicht ausdrücklich vorgesehenen) Zwischenverfügung lässt sich mit dem Gebot der Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes rechtfertigen.245 Gegen die im einstweiligen Verfügungsverfahren ohne mündliche Verhandlung ergangene Zwischenverfügung, mit der dem Antrag zeitlich beschränkt entsprochen wird, steht das Rechtsmittel der sofortigen Beschwerde nicht zur Verfügung.246

38Eine geringfügige Besserstellung für Rechtsschutzsuchende unterhalb der Schwellenwerte folgt immerhin daraus, dass eine § 160 Abs. 3 GWB vergleichbare Rügeobliegenheit nach zutreffender Auffassung nicht besteht. Zwar wird mitunter das Vorliegen eines Verfügungsgrundes wegen eines Rügeverlusts auch insoweit in Abrede gestellt, als der Bieter es versäumt hat, den Vergabeverstoß im vorvertraglichen Schuldverhältnis unverzüglich zu rügen247. Dabei findet indes der Umstand keine ausreichende Berücksichtigung, dass die Präklusionsanordnungen des § 160 Abs. 3 GWB in ein spezifisches Verfahrens- und Rechtschutzsystem eingebettet sind und daher nicht unbesehen auf anderen Rechtsregimen unterworfene Vergabevorgänge übertragen werden können.248 Den einschlägigen verfahrensrechtlichen Vorschriften der ZPO ist die vorherige Durchführung eines Vorverfahrens oder die Erfüllung von präklusionsbewehrten Rügeobliegenheiten hingegen fremd.249 Interessierte Bewerber werden in Ermangelung entsprechender gesetzlicher Vorgaben für den Unterschwellenbereich daher auch grundsätzlich keine Veranlassung sehen, das Ausschreibungsverfahren kritisch zu prüfen und mögliche Mängel gegenüber dem Auftraggeber unverzüglich zur Anzeige zu bringen.250 Soweit nicht die Grenzen des § 242 BGB bzw. der gegenseitigen Rücksichtnahmepflichten aus dem vorvertraglichen Schuldverhältnis im Einzelfall erkennbar überschritten werden (namentlich in Missbrauchskonstellationen),251 kommt die Annahme einer Rügeobliegenheit außerhalb des Kartellvergaberechts daher nicht in Betracht.252 Die Annahme einer unzulässigen Rechtsausübung hat ferner dann außer Betracht zu bleiben, wenn auszuschließen ist, dass eine entsprechende Rüge zu einem abweichenden Verlauf des Vergabeverfahrens geführt hätte.253

IV.Verwaltungsinterne Vergabekontrollmechanismen kraft Landesrechts

39In Ermangelung einer bundesgesetzlichen Regelung für Auftragsvergaben unterhalb der Schwellenwerte de lege lata254 wurden auf Ebene der Bundesländer verschiedentlich mit Suspensiveffekt versehene Vergabekontrollmechanismen verwaltungsinterner Natur eingerichtet, deren Wahrnehmung der parallelen Inanspruchnahme gerichtlicher Primärrechtsschutzmöglichkeiten indes nicht entgegensteht.255 Dem Modell des in Sachsen bereits im Jahr 2003 für unterschwellige Vergabeverfahren installierten256 objektiven Vergabekontrollregimes ohne rechtsmittelfähigen Abschluss (§ 8 Abs. 2 SächsVergabeG 2013257) sind Thüringen und Sachsen-Anhalt mit den in § 19 Abs. 2 ThürVgG258 und § 19 Abs. 2 LVG LSA259 vorgesehenen objektiven Beanstandungsverfahren weitgehend gefolgt. Auch das hessische Landesrecht hat mit der in § 20 Abs. 1 und 4 HVTG260 enthaltenen Verordnungsermächtigung die Voraussetzung für die Einführung und Ausgestaltung eines landesrechtlichen Beanstandungsverfahrens für unterschwellige Vergabevorgänge zwischenzeitlich geschaffen, ohne dass der insoweit eröffnete Gestaltungsspielraum jedoch bislang in Anspruch genommen worden wäre.

40Zum Teil sind die landesrechtlichen Bestimmungen mit der ausdrücklichen Klarstellung versehen, dass ein subjektiver Anspruch des Bieters auf ein Einschreiten der Aufsichtsbehörde mit der Einrichtung des Beanstandungsverfahrens nicht begründet wird (§ 19 Abs. 2 Satz 4 ThürVgG, § 8 Abs. 2 Satz 3 SächsVergabeG). Dem entspricht, dass die landesrechtliche Nachprüfung „im Wege der Rechtsaufsicht“ erfolgt261 bzw. neben die allgemeine Rechtsaufsicht treten soll.262 Angesichts der bewussten gesetzgeberischen Versagung subjektiver Rechte steht für die Entscheidung der Nachprüfungsbehörde im Beanstandungsverfahren (auch soweit die Funktion Nachprüfungsbehörde der Vergabekammer zugewiesen ist, vgl. § 19 Abs. 3 LVG LSA, § 19 Abs. 3 ThürVgG) jedenfalls aus Bietersicht die verwaltungsgerichtliche Rechtmäßigkeitskontrolle nicht zur Verfügung. Anders zu beurteilen ist die Situation aus der Perspektive der Vergabestelle, die alleinige Adressatin einer etwaigen Beanstandung ist.263 Nach den insoweit übereinstimmend gefassten landesrechtlichen Bestimmungen hat der Auftraggeber – anders als der Bieter, für den eine vergleichbare Anordnung nicht statuiert wurde – nämlich die Auffassung der Nachprüfungsbehörde zu „beachten“ (§ 8 Abs. 2 Satz 2 HS 2 SächsVergabeG 2013, § 19 Abs. 2 Satz 4 LVG LSA § 19 Abs. 2 Satz 2 HS 2 ThürVgG)264 bzw. „umzusetzen“ (§ 19 Abs. 2 Satz 4 LVG LSA). Die Entscheidung der Nachprüfungsbehörde stellt sich mithin im Verhältnis zur Vergabestelle auch ohne § 168 Abs. 3 Satz 1 GWB entsprechende Handlungsformzuweisung265 als Verwaltungsakt i. S. d. § 35 Satz 1 VwVfG dar. Soweit Nachprüfungsbehörde und Vergabestellen unterschiedlichen Verwaltungsträgern zugehören und daher wehrfähige Außenrechtspositionen der Vergabestelle in Rede stehen, gilt damit weiterhin der Grundsatz, dass für die ­Anfechtung von Verwaltungsakten der Aufsichtsbehörden der Verwaltungsrechtsweg eröffnet ist, auch wenn sie sich auf Vergabeangelegenheiten beziehen.266 Auch für eine die Kostentragungspflicht betreffende Regelung der landesrechtlichen Nachprüfungsbehörde ist in Ermangelung abdrängender Sonderzuweisungen der Rechtsweg zu den Verwaltungsgerichten eröffnet.267

§ 156 GWBVergabekammern

(1) Die Nachprüfung der Vergabe öffentlicher Aufträge und der Vergabe von Konzessionen nehmen die Vergabekammern des Bundes für die dem Bund zuzurechnenden Aufträge und Konzessionen, die Vergabekammern der Länder für die diesen zuzurechnenden Aufträge und Konzessionen wahr.

(2) Rechte aus § 97 Absatz 6 sowie sonstige Ansprüche gegen öffentliche Auftraggeber, die auf die Vornahme oder das Unterlassen einer Handlung in einem Vergabeverfahren gerichtet sind, können nur vor den Vergabekammern und dem Beschwerdegericht geltend gemacht werden.

(3) Die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte für die Geltendmachung von Schadensersatzansprüchen und die Befugnisse der Kartellbehörden zur Verfolgung von Verstößen insbesondere gegen die §§ 19 und 20 bleiben unberührt.

Schrifttum: Burbulla, Aufhebung der Ausschreibung und Nachprüfungsverfahren, ZfBR 2009, 134 ff.; Hauck, Vergaberecht und Sozialleistungserbringung aus Sicht der Sozialgerichtsbarkeit, Sozialrecht aktuell 2017, 231 ff.; Krist, Änderungen im Vergabeprozessrecht, VergabeR 2016, 396 ff.

Übersicht Rn.
A. Vorbemerkungen 1, 2
B. Organisation und Zuständigkeit der Vergabekammern 3–8
I. Organisation in den Ländern 3
II. Sachliche Zuständigkeit der Vergabekammern des Bundes und der Länder (§ 156 Abs. 1 GWB) 4
III. Anrufung einer unzuständigen Vergabekammer/Verweisung 5, 6
IV. Zuständigkeit der Verwaltungsgerichte für die Tätigkeit der Vergabekammer 7
V. Rechtsschutz unterhalb der Schwellenwerte 8
C. Gegenstand des Nachprüfungsverfahrens (§ 156 Abs. 2 GWB) 9–25
I. Begriff des Vergabeverfahrens 9, 10
II. Beginn und Ende des Vergabeverfahrens 11–13
III. Umfang des ausschließlichen Rechtsschutzes (§ 156 Abs. 2 und 3 GWB) 14–25
1. Rechte aus § 97 Abs. 6 GWB 14
2. Schutzvorschrift 15
3. Sonstige Ansprüche (§ 156 Abs. 2 Satz 1 GWB) 16–18
4. „Sonstige Ansprüche“ aus Zivilrecht 19, 20
5. „Sonstige Ansprüche“ aus Wettbewerbsrecht/Kartellrecht 21–24
6. Prüfungsumfang 25
Vergaberecht

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