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A.Vorbemerkungen

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I.Normzweck

1Die Überprüfung von Vergabeverfahren in Form des zweiinstanzlichen Nachprüfungsverfahrens bewegt sich im Spannungsfeld gegensätzlicher Grundanforderungen, nämlich einerseits den Bietern Rechtsschutz zu gewährleisten und für eine Rechtmäßigkeit der öffentlichen Auftragsvergabe zu sorgen, andererseits aber auch eine zügige Beschaffung sicherzustellen. Bei der rechtspraktischen Lösung dieses grundlegenden Konflikts zwischen Rechtsstaatsgebot einerseits und Beschleunigungsgebot andererseits nimmt der § 160 GWB eine zentrale Funktion ein, indem er einerseits den Interessenten an einem öffentlichen Auftrag das vergaberechtliche Nachprüfungsverfahren eröffnet1 (positive Funktion), andererseits aber Anforderungen an einen zulässigen Nachprüfungsantrag definiert, deren Nichterfüllung zur Unzulässigkeit des Nachprüfungsverfahrens führt (negative Funktion). Somit kommt dem § 160 GWB und den hier formulierten Sachurteilsvoraussetzungen eine Filterfunktion zu, um im Interesse der Beschleunigung des Vergabeprozesses, aber auch der zu Recht für den Zuschlag vorgesehenen Bieter, unzulässige Nachprüfungsanträge innerhalb des Prüfprozesses abzuschichten und von vornherein einer materiell-rechtlichen Prüfung zu entziehen.2

2Damit kommt dem § 160 GWB auch die prozessuale Funktion zu, die Zulässigkeitsanforderungen an den Nachprüfungsantrag zu definieren. Eine praktisch bedeutsame Folge des bereits als unzulässig erkannten Nachprüfungsantrags ist, dass die Vergabekammer hierüber auch im schriftlichen Verfahren ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung entscheiden kann (vgl. § 166 Abs. 1 Satz 3, 2. Alt. GWB). Zudem soll nach – allerdings strittiger – Rechtsauffassung verschiedener Nachprüfungsinstanzen das Akteneinsichtsrecht entfallen.3

3Die einzelnen Zulässigkeitsvoraussetzungen müssen dabei bei jedem beanstandeten Aspekt für sich genommen vorliegen und können bei unterschiedlichen Rügegegenständen jeweils anders bewertet werden. Folglich sind Nachprüfungsanträge häufig als teilweise zulässig und teilweise unzulässig anzusehen mit der Folge, dass nur über den zulässigen Teil im Rahmen der Begründetheit entschieden wird.

II.Überblick über die Zulässigkeitsvoraussetzungen

4§ 160 GWB sieht eine Trias von Zulässigkeitsvoraussetzungen vor: In § 160 Abs. 1 GWB wird ein zwingendes Antragserfordernis für das Nachprüfungsverfahren normiert, das damit von der Dispositionsmaxime beherrscht ist (hierzu im Einzelnen unter B.). § 160 Abs. 2 GWB enthält Anforderungen an die Antragsbefugnis und die zugehörige Darlegungslast (hierzu im Einzelnen unter C.). § 160 Abs. 3 GWB regelt die Rügeobliegenheit des antragstellenden Bieters gegenüber dem öffentlichen Auftraggeber als weitere, für das Vergabenachprüfungsverfahren spezifische Zulässigkeitsvoraussetzung (hierzu im Einzelnen unter D.).

5Die vorgenannten Sachurteilsvoraussetzungen des § 160 GWB können als Zulässigkeitsanforderungen i. e. S. bezeichnet werden. Zu beachten sind jedoch auch diejenigen Zulässigkeitsvoraussetzungen, die jenseits des § 160 GWB geregelt sind. Insbesondere setzt die Anrufung der Vergabekammer voraus, dass die Vergabekammer auch sachlich zuständig i. S. d. § 155 GWB ist, was insbesondere voraussetzt, dass es sich um die Vergabe öffentlicher Aufträge durch öffentliche Auftraggeber oberhalb der einschlägigen Schwellenwerte handelt.4 Des Weiteren setzt der zulässige Nachprüfungsantrag die Beachtung der Zuständigkeitsregeln des § 159 GWB voraus.5 Insgesamt sind also auch all diese Zulässigkeitsvoraussetzungen i. w. S. zu beachten.

III.Entstehungsgeschichte bis zur Vergaberechtsreform 2016

6In der Begründung des ursprünglichen Regierungsentwurfs zum Vergaberechtsänderungsgesetz6 wird darauf abgestellt, dass es sich beim Nachprüfungsverfahren um ein antragsgebundenes Verfahren handeln soll, das eine entsprechende Antragsbefugnis voraussetze. In § 107 Abs. 3 GWB sei eine Präklusionsregelung vorzusehen, um unter dem Gesichtspunkt von Treu und Glauben unnötige Verfahren zu vermeiden; zugleich sollen die beteiligten Unternehmen nicht die von ihnen erkannten Verfahrensverstöße „ansparen“ und erst am Ende des Verfahrens zur Geltung bringen, wenn sie von der Erfolglosigkeit ihres Angebots erfahren.

7Im Rahmen des Vergaberechtsmodernisierungsgesetzes 20097 sind die seinerzeit geltenden § 107 Abs. 1 und Abs. 2 GWB der Vorschrift unverändert geblieben. Auch wurden die bisherigen Regelungen der Präklusionsvorschrift in § 107 Abs. 3 GWB praktisch unverändert übernommen und nunmehr in Form des § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 und Nr. 2 GWB geregelt. Neu hinzugekommen ist eine fristgebundene Rügeobliegenheit bei Vergaberechtsverstößen, die sich erst aus den Vergabeunterlagen ergeben (vgl. § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 3 GWB). Zudem wurde eine Antragsfrist eingeführt, wonach nunmehr bei Nichtabhilfe von bei der Vergabestelle gerügten Verstößen innerhalb von 15 Tagen das Nachprüfungsverfahren bei der Vergabekammer eingeleitet werden muss (vgl. § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 4 GWB).

8Im Rahmen der Vergaberechtsreform 2016 wurde § 107 GWB a. F. in § 160 GWB überführt. Ein wichtiges und praxisrelevantes Novum stellt dabei § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB dar, in dem die bisher in § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB geregelte Verpflichtung zur „unverzüglichen“ Rüge durch eine konkrete gesetzliche Fristenbestimmung abgelöst wurde.8 Die Frist, innerhalb derer der Antragsteller nach Erkennen den im Nachprüfungsverfahren geltend gemachten Verstoß im Vergabeverfahren gerügt haben muss, beläuft sich nunmehr auf zehn Kalendertage. Dies stellt eine Reaktion auf die Rechtsprechung des EuGH dar, wonach die bisherige Ausgestaltung der Präklusionsvorschrift in Bezug auf das Erfordernis einer unverzüglichen Rüge aufgrund ihrer Unbestimmtheit hinter den europa- und verfassungsrechtlichen Anforderungen zurückblieb, weshalb die Vorschrift insoweit teilweise unanwendbar war.9

IV.Vereinbarkeit des § 160 GWB mit Unions- und Verfassungsrecht

9Obgleich § 160 GWB Zugangsbeschränkungen zum Rechtsschutz enthält, sind diese Beschränkungen auch im Lichte der EU-Rechtsmittelrichtlinie 89/665/EWG und der Rechtsschutzgarantie (Art. 19 Abs. 4 GG) als unions- und verfassungskonform anzusehen. Für das Antragserfordernis nach § 160 Abs. 1 GWB und die Antragsbefugnis nach § 160 Abs. 2 GWB gilt dies ohne weiteres, zumal derartige Anforderungen auch anderen Prozessordnungen (etwa dem Verwaltungsprozess – § 42 Abs. 2 VwGO) vertraut sind. Aber auch die mit einer weitreichenden Rechtsschutzbegrenzung verbundene Rügepräklusion gem. § 160 Abs. 3 GWB ist prinzipiell als unions- und verfassungsrechtskonform anzusehen. Denn schon die vorgenannte Rechtsmittelrichtlinie sieht in Art. 1 Abs. 4 die Möglichkeit einer solchen Rügepräklusion vor.

10Gleichwohl ist nicht zu übersehen, dass die Zulässigkeitsvoraussetzungen aufgrund ihrer rechtsschutzbeschränkenden Wirkung in einem deutlichen Spannungsverhältnis zu den Anforderungen der EU-Rechtsmittelrichtlinie 2007/66/EG und der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG stehen, die beide die Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes vorsehen. Vor diesem Hintergrund ist die unions- und verfassungskonforme Auslegung der Zulässigkeitsanforderungen des § 160 GWB geboten. Dies bedeutet etwa für das Antragserfordernis nach Abs. 1, dass hieran – namentlich bei nicht anwaltlich vertretenen Antragstellern – keine zu hohen Anforderungen zu stellen sind, vielmehr eine antragstellerfreundliche Auslegung geboten ist. Die in § 160 Abs. 2 GWB normierte Antragsbefugnis ist bei verfassungskonformer Interpretation schon dann zu bejahen, wenn die bloße Möglichkeit einer Rechtsbeeinträchtigung und eines Schadens gegeben ist.10 Genauso dürfen auch etwaige Ausschlussgründe im Angebot des Antragstellers nicht mehr zur Versagung der Antragsbefugnis führen, vielmehr ist dies eine Frage, die im Rahmen der Begründetheit zu klären ist.11 Für die Rügeobliegenheiten nach § 160 Abs. 3 GWB verlangt die europa- und verfassungsrechtskonforme Auslegung schließlich, dass dieses qualifizierte Zulässigkeitserfordernis generell restriktiv auszulegen ist und die Anforderungen an die Rüge nicht überspannt werden dürfen.12

11Soweit in der Vorauflage im Hinblick auf die Vorgängerregelung des § 107 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB das dort enthaltene Erfordernis einer „unverzüglichen“ Rüge als unions- und verfassungsrechtswidrig mit der Folge der Unanwendbarkeit dieser Vorschrift zu kritisieren war,13 ist diese Kritik nunmehr gegenstandslos, da der Gesetzgeber im Zuge der Vergaberechtsreform 2016 das Kriterium der unverzüglichen Rüge durch eine hinreichend bestimmte Frist – nämlich die 10-Tage-Frist in § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB – ersetzt hat. Obgleich auch diese Frist gewisse konzeptionelle Schwächen aufweist14, stellt sie sich – und damit nunmehr die Vorschrift des § 160 GWB insgesamt – als unions- und verfassungskonform dar.

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