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D.Aufträge über die Lieferung von Ausrüstung im Rahmen eines Verschlusssachenauftrags (Abs. 1 Nr. 2)

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23§ 104 Abs. 1 Nr. 2 GWB setzt Art. 2 lit. b VSVR um, nach dem die VSVR auch für die Lieferung „sensibler Ausrüstung“ gilt. Den Begriff der sensiblen Ausrüstung, den Art. 1 Nr. 7 VSVR als Ausrüstung für Sicherheitszwecke, bei der Verschlusssachen verwendet werden oder die solche Verschlusssachen erfordert und/oder beinhaltet, hat der deutsche Gesetzgeber nicht übernommen. Stattdessen wird darauf abgestellt, dass es sich im Hinblick auf den Gegenstand der Vergabe um eine Lieferung von Ausrüstung handelt und deren Vergabe „im Rahmen eines Verschlusssachenauftrags“ erfolgt, der wiederum in § 104 Abs. 3 GWB legal definiert ist.

I.Lieferauftrag über Ausrüstung

24Der Auftrag nach § 104 Abs. 1 Nr. 2 GWB bildet das Pendant zu dem Liefervertrag über Militärausrüstung und erfasst wie dieser nur Aufträge über Lieferungen i. S. v. § 103 Abs. 2 GWB.51 Wie bei dem Auftrag nach § 104 Abs. 1 Nr. 1 GWB muss es sich bei dem Gegenstand der Lieferung um „Ausrüstung“ handeln.52 Anders als bei dem Auftrag über die Lieferung von Militärausrüstung ist die Art der Ausrüstung nicht näher eingegrenzt. Jegliche Art von Ausrüstung kann Gegenstand eines Auftrags nach § 104 Abs. 1 Nr. 2 GWB sein.

II.Verschlusssachenauftrag (Abs. 3)

25Ausschlaggebend für das Sicherheitsspezifikum ist die Charakterisierung des Gegenstands der Vergabe als „Verschlusssachenauftrag“. Im Rahmen der VSVR entspricht dieses Tatbestandsmerkmal der Charakterisierung des Gegenstands des zu vergebenden Auftrags, der Ausrüstung, als „sensibel“ i. S. d. Art. 1 Nr. 7 VSVR.

1.Sicherheitszweck

26Während § 99 Abs. 9 GWB a. F. in Anlehnung an die Definition des Art. 1 Nr. 7 VSVR hinsichtlich der Sicherheitsrelevanz lediglich verlangt, dass der Auftrag „Sicherheitszwecken“ dient, wurde die Begriffsbestimmung mit dem VergRModG 2016 unter Berufung auf Erwägungsgrund Nr. 11 VSVR53 eingeschränkt und weist eine Reihe von Abweichungen von der europarechtlichen Definition auf, die bei der Auslegung der Vorschrift zu beachten sind. Führen diese Abweichungen zu einer Ausweitung des Begriffs der sicherheitsspezifischen Aufträge, bedarf die Definition der EU-rechtskonformen einschränkenden Auslegung.

27a) Sicherheitsbezug. Nach § 104 Abs. 3 GWB handelt es sich bei einem Verschlusssachenauftrag um einen Auftrag „im speziellen Bereich der […] Sicherheit“. Art. 1 Nr. 7 VSVR stellt demgegenüber nicht auf die Zuordnung zu einem bestimmten „Bereich“ ab, sondern definiert sensible Aufträge im Hinblick auf die besondere Zweckbestimmung des Leistungsgegenstands der Ausrüstung sowie der Bauleistung oder sonstigen Dienstleistung. Die Ausrüstung ist für Sicherheitszwecke zu liefern und die Bau- oder Dienstleistung für diese Zwecke zu erbringen. In diesem Sinne ist auch § 104 Abs. 3 GWB unionskonform auszulegen. Ein Auftrag im Bereich der Sicherheit ist anzunehmen, wenn die Ausrüstung, deren Lieferung beauftragt werden soll, dem Zweck der Herbeiführung von Sicherheit dient.54

28b) Begriff der Sicherheit. Der Begriff der Sicherheit erstreckt sich grundsätzlich sowohl auf die innere als auch die äußere Sicherheit und erfasst die militärische und die nicht-militärische Sicherheit. Sicherheit bedeutet den Schutz des Staates und der Gesellschaft vor Bedrohungen von innen und von außen. Bei der inneren Sicherheit stehen Bedrohungen durch kriminelle, terroristische und vergleichbare Aktivitäten im Vordergrund, während die äußere Sicherheit auf den Schutz vor internationalen und zwischenstaatlichen, also vor allem militärischen Bedrohungen abzielt. Insbesondere in den Bereichen des internationalen Terrorismus und der länderübergreifenden organisierten Kriminalität verwischen die Grenzen zwischen der inneren und äußeren Sicherheit zunehmend.55

29Gemäß dem Erwägungsgrund Nr. 11 VSVR sollen nicht-militärische sicherheitsspezifische Aufträge ähnliche Merkmale aufweisen und ebenso schutzbedürftig und sensibel sein wie Beschaffungen im Verteidigungsbereich. Diese Erwägung hat der Gesetzgeber des VergRModG 2016 aufgegriffen56 und die Definition der Verschlusssachenaufträge auf Aufträge aus dem nicht-militärischen Bereich beschränkt. Ist der Auftrag kein Auftrag über die Lieferung von Militärausrüstung, Liefer-, Bau- oder Dienstleistungen in unmittelbarem Zusammenhang mit Militärausrüstung oder über Bau- oder Dienstleistungen speziell für militärische Zwecke, aber dennoch dem militärischen Bereich zuzuordnen, kann es sich nach der deutschen Definition um keinen verteidigungs- und sicherheitsspezifischen öffentlichen Auftrag handeln. Sofern die deutsche Definition insoweit enger ist als die europäische, ist dies europarechtlich nicht zu beanstanden, da solche Aufträge dem strengeren allgemeinen Regime unterworfen wären. Soweit dies allerdings nach § 117 Nr. 1 GWB zum Ausschluss vom Vergaberegime des GWB führen würde, kann ein Verstoß gegen EU-rechtliche Anforderungen vorliegen.

30Über die Definition des Art. 1 Nr. 7 VSVR hinaus ist ein Auftrag zudem nur dann als Verschlusssachenauftrag anzusehen, wenn er „ähnliche Merkmale aufweist und ebenso schutzbedürftig ist wie“ ein Auftrag über die Lieferung von Militärausrüstung oder wie Bau- und Dienstleistungen speziell für militärische Zwecke. Auch die Einschränkung beruht auf Erwägungsgrund Nr. 11 VSVR. Nicht ausreichend ist eine Ähnlichkeit mit bzw. Schutzbedürftigkeit wie ein Auftrag über eine Leistung in unmittelbarem Zusammenhang mit Militärausrüstung (§ 104 Abs. 1 Nr. 3 GWB). Beispielhaft werden Bereiche genannt, in denen militärische und nicht-militärische Einsatzkräfte bei der Erfüllung derselben Missionen zusammenarbeiten oder die Beschaffung dazu dient, die Sicherheit der Union oder der Mitgliedstaaten auf ihrem Hoheitsgebiet oder darüber hinaus vor ernsten Bedrohungen durch nicht-militärische oder nichtstaatliche Akteure zu schützen, z. B. durch den Grenzschutz oder polizeiliche Tätigkeiten und Kriseneinsätze.57 Soweit die deutsche Definition insoweit enger ist als die europäische, ist dies unionsrechtlich unschädlich, da solche Aufträge dem strengeren allgemeinen Regime unterworfen wären. Will ein Auftraggeber die Privilegierungen des Sicherheitsvergaberechts für einen Verschlusssachenauftrag in Anspruch nehmen, muss er die Voraussetzungen nach nationalem Recht genau prüfen und ggf. erläutern und dokumentieren.

2.Verschlusssache

31Der Auftrag muss in Beziehung zu einer Verschlusssache stehen. § 104 Abs. 3 GWB nimmt dabei für die Bestimmung einer Verschlusssache auf § 4 SÜG des Bundes Bezug.58 Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 SÜG sind Verschlusssachen alle im öffentlichen Interesse geheimhaltungsbedürftigen Tatsachen, Gegenstände oder Erkenntnisse, unabhängig von ihrer Darstellungsform. Entsprechend ihrer Schutzbedürftigkeit, hierbei gilt je höher der drohende Schaden, desto höher die Schutzbedürftigkeit,59 werden sie gem. § 4 Abs. 2 SÜG in folgende Kategorien eingestuft:

– STRENG GEHEIM, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte den Bestand oder lebenswichtige Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden kann,

– GEHEIM, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder gefährden oder ihren Interessen schweren Schaden zufügen kann,

– VS-VERTRAULICH, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder schädlich sein kann,

– VS-NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH, wenn die Kenntnisnahme durch Unbefugte für die Interessen der Bundesrepublik Deutschland oder eines ihrer Länder nachteilig sein kann.60

32Die entsprechenden Definitionen und Klassifizierungen finden sich in den jeweiligen Landesvorschriften.61 § 104 Abs. 3 Nr. 1 GWB nimmt sowohl die Bundesvorschrift als auch die Landesregelungen in Bezug. Maßgeblich ist die Vorschrift, die für die Behörde gilt, die die Verschlusssache angibt. Bei der Einordnung und Klassifizierung steht der Behörde ein Ermessen zu, welches nur eingeschränkt gerichtlich überprüfbar ist.62

33Diese nationalen Definitionen müssen mit der unionsrechtlichen Definition von Verschlusssachen des Art. 1 Nr. 8 VSVR in Einklang stehen. Danach sind Verschlusssachen:

„Informationen bzw. Material, denen (dem) unabhängig von Form, Beschaffenheit oder Art der Übermittlung ein Geheimhaltungsgrad zugewiesen ist oder für die (das) eine Schutzbedürftigkeit anerkannt wurde und die (das) im Interesse der nationalen Sicherheit und nach den in dem betreffenden Mitgliedstaat geltenden Rechts- und Verwaltungsvorschriften gegen Missbrauch, Zerstörung, Entfernung, Bekanntgabe, Verlust oder Zugriff durch Unbefugte oder jede andere Art der Preisgabe an Unbefugte geschützt werden müssen (muss).“

34Nach dieser Definition muss die Zuweisung des Geheimhaltungsgrads (1. Alternative) und die Anerkennung der Schutzbedürftigkeit (2. Alternative) im Interesse der „nationalen Sicherheit“ erfolgen und in diesem Interesse notwendig sein. Dieser direkte Bezug zur nationalen Sicherheit gilt auch im Hinblick auf die Zuweisung des Geheimhaltungsgrads. Der deutsche Wortlaut ließe zwar auch eine andere Auslegung zu. Nach dem englischen Wortlaut63 bezieht sich dieser Teil der Definition jedoch unmissverständlich auf sämtliche Verschlusssachen und damit beide Alternativen der europarechtlichen Definition. Bestätigt wird dies durch Sinn und Zweck der Definition, die insoweit auf eine Beschränkung der Freiheit der Mitgliedstaaten, Informationen oder Material einen Geheimhaltungsgrad zuzuweisen, gerichtet sind. Dies wird aus Erwägungsgrund Nr. 20 VSVR deutlich, der bereits diese Anforderungen formuliert und auf die Vielfalt der Praktiken in den Mitgliedstaaten verweist und die Notwendigkeit, dem bei der Formulierung der Anforderungen Rechnung zu tragen. Ein Grund, zwischen der Zuweisung des Geheimhaltungsgrads und der Anerkennung der Schutzbedürftigkeit zu unterscheiden, wäre auch nicht einsichtig.

35Vor diesem Hintergrund muss kritisch hinterfragt werden, ob insbesondere eine Klassifizierung in die Geheimhaltungsstufe VS – NUR FÜR DEN DIENSTGEBRAUCH der nationalen Sicherheit dient und damit den unionsrechtlichen Anforderungen genügt.64 Erfolgt nämlich die Einstufung als Verschlusssache, weil die Kenntnisnahme durch Unbefugte schädliche oder nachteilige Folgen hat, die nicht die nationale Sicherheit betreffen, wäre sie nicht durch die Definition des Art. 1 Nr. 8 VSVR gedeckt. § 104 Abs. 3 GWB muss daher im Lichte der europarechtlichen Anforderungen eng ausgelegt werden. Es muss jeweils im Einzelfall geprüft werden, ob diesen Vorgaben Genüge getan ist. Dem kann insbesondere im Rahmen der Prüfung, ob der Auftrag ähnliche Merkmale wie ein verteidigungsspezifischer Auftrag aufweist oder genauso sensibel ist,65 Rechnung getragen werden.66

3.Verschlusssachenbezug

36Ein Verschlusssachenauftrag liegt vor, wenn bei Erfüllung des Auftrags oder Erbringung der Leistung Verschlusssachen verwendet werden oder der Auftrag Verschlusssachen erfordert oder beinhaltet.67

37Nach § 104 Abs. 3 Nr. 1 GWB liegt ein Verschlusssachenauftrag nur vor, wenn die Verschlusssache konkret bei Auftragserfüllung oder Leistungserbringung Verwendung finden wird. Da diese Alternative auf die Zukunft gerichtet ist, bedarf es der Prognose, ob eine solche Verwendung von Verschlusssachen zu erwarten oder notwendig ist. Eine Verwendung der Verschlusssache vor der Erfüllungsphase, z. B. im Rahmen der Angebotsphase, ohne dass eine Nutzung bei der Leistungserbringung vorgesehen ist, macht allein den Auftrag noch nicht zum Verschlusssachenauftrag. Wenn dagegen die Leistungsbeschreibung oder Teile der Leistungsbeschreibung, Pläne oder Muster der zu liefernden Ausrüstung Verschlusssachen sind, handelt es sich um einen Verschlusssachenauftrag, da der Auftragnehmer bei Erbringung der Leistung diese verwenden wird, damit er gemäß den Anforderungen des Auftraggebers liefern kann.

38In den vorgenannten Fällen sind diese Verschlusssachen für den Auftrag auch i. S. d. § 104 Abs. 3 Nr. 2 Alt. 1 GWB notwendig, da der Auftragnehmer nur bei deren Verwendung pflichtgemäß liefern kann. Während es nach § 104 Abs. 3 Nr. 1 GWB darauf ankommt, dass der Auftragnehmer die Verschlusssache tatsächlich bei Auftragserfüllung verwenden wird, kommt es nach § 104 Abs. 3 Nr. 2 Alt. 1 GWB allein darauf an, dass die Verwendung der Verschlusssache geboten ist. Da eine Verwendung der Verschlusssache nur zu erwarten ist, wenn sie auch erforderlich ist und bei Erforderlichkeit der Verschlusssache auch deren Verwendung anzunehmen ist, dürften i. d. R. beide Fallvarianten gleichzeitig erfüllt sein.

39Nach § 104 Abs. 3 Nr. 2 Alt. 2 GWB liegt ein Verschlusssachenauftrag auch vor, wenn der Auftrag selbst eine Verschlusssache beinhaltet, also wenn Gegenstand des Liefervertrags eine Verschlusssache ist. Typischerweise ist das der Fall, wenn die Leistungsbeschreibung oder ein Teil der Leistungsbeschreibung Verschlusssache ist, da die Leistungsbeschreibung Bestandteil des Vertrags ist. Beispielsweise fällt auch eine Vergabe der Bewachung im Zusammenhang mit einer Liegenschaft unter einen Verschlusssachenauftrag, wenn der betreffende Auftrag Verschlusssachen beinhaltet, auch wenn das nicht in der Bekanntmachung erwähnt ist.68 Auch der Vertrag als Ganzes kann eine Verschlusssache sein.

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