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B.Allgemeine Ausnahmen zum Anwendungsbereich

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I.Schiedsgerichts- und Schlichtungsdienstleistungen (§ 107 Abs. 1 Nr. 1 GWB)

5Gem. § 107 Abs. 1 Nr. 1 GWB sind Aufträge im Zusammenhang mit Schiedsgerichts- und Schlichtungsdienstleistungen von den Vergaberegeln ausgenommen. Die Vorschrift dient der Umsetzung von Art. 10 Abs. 8 lit. c KVR, Art. 10 lit. c VRL, Art. 21 lit. b SRL sowie Art. 13 lit. g VSVR.10

6Die Ausnahme für die Vergabe von Schiedsgerichts- und Schlichtungsleistungen war bislang inhaltsgleich in § 100 Abs. 4 Nr. 1 GWB a. F. geregelt. Sie beruht auf der Erwägung, dass Schiedsgerichts- und Schlichtungsdienste normalerweise von Organisationen oder Personen übernommen werden, deren Bestellung oder Auswahl in einer Art und Weise erfolgt, die sich nicht nach Vergabevorschriften für öffentliche Aufträge richten kann.11 Schließlich kommt es demjenigen, der einen Schlichter sucht, in aller Regel nicht auf die Wirtschaftlichkeit, sondern auf dessen Qualitäten und das Vertrauen an, das er dem Schiedsrichter/Schlichter entgegen bringt. Nachdem dieses Vertrauen nicht im Rahmen einer öffentlichen Ausschreibung gebildet werden kann, kann von der öffentlichen Hand in einer solchen Situation auch keine Ausschreibung verlangt werden. Zudem kann die sachliche und persönliche Unbefangenheit des Schiedsrichters/Schlichters mit vergaberechtlichen Wertungskriterien nicht vollständig abgedeckt werden.

7Nach Sinn und Zweck der Vorschrift müssen auch Sachverständigendienstleistungen im Rahmen der Erstellung eines Schiedsgutachtens von dem Anwendungsbereich ausgenommen sein.12

II.Erwerb, Miete oder Pacht von Grundstücken (§ 107 Abs. 1 Nr. 2 GWB)

8§ 107 Abs. 1 Nr. 2 GWB betrifft die Ausnahmen für den Erwerb, die Miete oder die Pacht von Grundstücken, vorhandenen Gebäuden oder anderem unbeweglichen Vermögen sowie Rechten daran durch den öffentlichen Auftraggeber, welche bislang in § 100 Abs. 5 GWB geregelt waren. Der Begriff der Pacht wird erstmals neben dem der Miete ausdrücklich erwähnt. Die Vorschrift dient der Umsetzung von Art. 10 lit. a VRL, Art. 10 Abs. 8 lit. a KVR, Art. 21 lit. a SRL sowie Art. 13 lit. e VSVR. Inhaltliche Änderungen sind mit der neuen Vorschrift nicht verbunden.13

9Der Ausnahmetatbestand des 107 Abs. 1 Nr. 2 GWB, der früher in § 100 Abs. 5 GWB a. F. verankert war, greift ein bei öffentlichen Aufträgen und Konzessionen für den Erwerb, die Miete oder die Pacht jeweils von Grundstücken, vorhandenen Gebäuden oder anderem unbeweglichen Vermögen sowie bei Rechten an diesen Gütern ungeachtet ihrer Finanzierung. Der Grund für die Ausnahme liegt darin, dass die Immobiliennutzung und der Immobilienerwerb sich für einen EU-weiten Markt nur sehr bedingt eignen und Merkmale aufweisen, die die Anwendung von Vorschriften über die Vergabe von öffentlichen Aufträgen unangemessen erscheinen lassen. Denn in dem Fall, dass ein öffentlicher Auftraggeber ein bestimmtes Grundstück oder ein bestimmtes Mietobjekt nachfragt, kann ein echter Vergabewettbewerb bei einer Ausschreibung nicht zustande kommen.14

10Nicht vom vierten Teil des GWB erfasst sind daher reine Miet- und Pachtverträge (einschließlich der vermietertypischen Nebenleistungen wie beispielsweise Wasser- und Stromversorgung, Müllentsorgung, Reinigung von Fenstern und gemeinschaftlich mit anderen Mietern genutzten Treppenhäusern, Pflege der Außenanlagen15) unabhängig davon ob der öffentliche Auftraggeber auf Mieter- oder Vermieterseite steht. Vermietet der öffentliche Auftraggeber und überlässt er damit ein Recht an seinem Grundstück, fehlt es regelmäßig schon an dem vergabetypischen Beschaffungsvorgang,16 es sei denn dem Mieter oder Pächter werden Pflichten zur Erbringung für derartige Verträge untypischer Leistungen auferlegt.17 Gleiches gilt für reine Grundstücksveräußerungen.18 Ein Mischvertrag wird dagegen allenfalls dann unter die Ausnahme fallen können, wenn es sich um ganz unwesentliche Nebenabreden handelt.19

11Die Anmietung eines noch zu erstellenden Gebäudes durch einen öffentlichen Auftraggeber erfüllt den Freistellungstatbestand dann nicht, wenn er sehr genaue Vorgaben gemacht hat, wie das benötigte Objekt beschaffen und ausgestattet sein soll und der Mietvertrag somit eine direkte oder indirekte Bauverpflichtung des Vermieters beinhaltet. Der Sinn des Freistellungstatbestands und des Wortes „vorhanden“ liegt darin, Mietverträge über Immobilien nur dann dem Vergaberecht zu entziehen, wenn keine Bauleistung vorliegt. Art. 10 lit. a VRL und Art. 20 lit. a SRL beispielsweise sprechen in diesem Zusammenhang deshalb auch ausdrücklich von Dienstleistungsaufträgen, die ausgenommen sein sollen. Gehen die von dem Mieter geforderten Spezifikationen in Form einer genauen Beschreibung der zu errichtenden Gebäude, ihrer Beschaffenheit und ihrer Ausstattung über die üblichen Vorgaben eines Mieters für eine neue Immobilie einer gewissen Größe hinaus bzw. nimmt der öffentliche Auftraggeber entscheidenden Einfluss auf die Planung der Bauleistung, liegt der Hauptgegenstand und Schwerpunkt des Auftrags aber regelmäßig in der Bauleistung und ist der Auftrag damit von dem Ausnahmetatbestand nicht erfasst.20 Gleiches gilt, wenn ein zwar vorhandenes, aber nach den spezifischen Anforderungen des öffentlichen Auftraggebers grundlegend umzubauendes Gebäude angemietet wird, wobei im Falle einer Bestandsimmobilie die Anforderungen für die Annahme, dass Hauptgegenstand des Mietvertrags eine Bauleistung und nicht die Vermietung ist, entsprechend hoch anzusetzen sind.21

12Die Gestaltung des Mietvertrags über ein erst noch zu errichtendes Gebäude darf sich daher regelmäßig nicht von einem Mietvertrag über ein schon vorhandenes Gebäude unterscheiden,22 um als „Dienstleistung“ von der Anwendung des vierten Teils des GWB ausgeschlossen zu sein. Sobald der öffentliche Auftraggeber durch den Mietvertrag entscheidenden Einfluss auf den Neubau oder Umbau zu nehmen versucht, der nicht nur völlig untergeordnete Bauleistungen betrifft, ist dies nicht mehr der Fall.23 Ein entscheidender Einfluss liegt nicht vor, wenn der Auftraggeber innerhalb einer bestehenden Grundkonzeption nur Einfluss auf den Zuschnitt der einzelnen Räume nimmt und dies von der Gebäudekonstruktion her relativ leicht zu berücksichtigen ist. Gegen einen derartigen Einfluss kann es auch sprechen, wenn der Auftraggeber lediglich einen Teil des Gebäudes anmietet, insbesondere dann, wenn auch die Anforderungen anderer Mietinteressenten berücksichtigt werden.24 Für einen entscheidenden Einfluss kann es sprechen, wenn das Gebäude so auf den Auftraggeber ausgerichtet wird, dass eine Nachnutzung nach Auslaufen des Mietvertrages ausscheidet.25 Darauf, ob dem Mieter eine Kaufoption eingeräumt wird, kommt es für die Einordnung des Auftrags dagegen ebenso wenig an, wie darauf, wie die Vertragsparteien den Vertrag qualifizieren und ob sie ihn als Mietvertrag bezeichnen.26 Auch auf eine künftige Eigentümerstellung des öffentlichen Auftraggebers kommt es gem. § 103 Abs. 3 Satz 2 GWB bei der Vergabe von Bauleistungen nicht entscheidend an.

13Die Beschränkung auf „vorhandene Gebäude oder anderes unbewegliches Vermögen“ bedeutet, dass die Anmietung von bereitzustellenden Containern den Ausnahmetatbestand nicht erfüllt.27 Werden die Container individuell gefertigt, kann darin aber auch eine Bauleistung liegen,28 die von der Ausnahmevorschrift gerade nicht erfasst sein soll.29

14Der Ausnahmetatbestand des § 107 Abs. 1 Nr. 2 GWB greift zwar unabhängig davon, wie beispielsweise der Erwerb eines vorhandenen Gebäudes finanziert wird. Finanzdienstleistungen selbst, die gleichlaufend, vorangehend oder im Anschluss an einen Vertrag über den Erwerb oder die Anmietung von Grundstücken oder bestehenden Gebäuden – gleich in welcher Form erbracht – werden, fallen jedoch nicht unter den Ausnahmetatbestand des § 107 Nr. 2 GWB. Die Aufnahme von Krediten und Darlehen kann allerdings über §§ 116 Abs. 1 Nr. 5, 137 Abs. 1 Nr. 5, 145 Nr. 5 oder § 149 Nr. 5 von der Anwendung des vierten Teils des GWB ausgenommen sein.30

III.Arbeitsverträge (§ 107 Abs. 1 Nr. 3 GWB)

15§ 107 Abs. 1 Nr. 3 GWB betrifft die Ausnahme für Arbeitsverträge, die in § 100 Abs. 3 GWB a. F. geregelt war. Sie dient der Umsetzung von Art. 10 lit. g VRL, Art. 21 lit. f SRL sowie Art. 13 lit. i VSVR. Die Ausnahme findet für Konzessionen keine praktische Anwendung, da Arbeitsverträge als Konzession nicht denkbar sind.31 Der Begriff „Arbeitsverträge“, wie er in diesen Bestimmungen enthalten ist, wird in den Richtlinien nicht definiert und ist autonom auszulegen.32

16Der Abschluss von Arbeitsverträgen stellt ein Mittel für die öffentlichen Stellen eines Mitgliedstaats dar, Dienstleistungen selbst zu erbringen, und ist deshalb von den Pflichten hinsichtlich der Vergabe öffentlicher Aufträge ausgenommen.33 Davon werden alle Verträge erfasst, aufgrund deren eine öffentliche Stelle natürliche Personen beschäftigt, um selbst Dienstleistungen zu erbringen, und mit denen ein Arbeitsverhältnis begründet wird, innerhalb dessen diese Personen während einer bestimmten Zeit für diese öffentliche Stelle und nach deren Weisung Leistungen erbringen, für die sie als Gegenleistung eine Vergütung erhalten. Wie diese Personen eingestellt wurden, insbesondere, ob dafür nur subjektive Kriterien ausschlagegebend waren, ist nicht entscheidend.34 Ein Arbeitsvertrag ist demnach ein Dienstvertrag, in dem sich der Arbeitnehmer verpflichtet, Arbeitsleistungen für den Auftraggeber gegen Vergütung zu erbringen. Arbeitnehmer ist, wer Dienstleistungen in persönlicher Abhängigkeit verrichtet, hierbei in Bezug auf Zeit, Ort und Art der zu verrichtenden Arbeit dem Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt und in eine fremde Herrschafts- und betriebliche Risikosphäre – nämlich in die des Arbeitgebers – eingegliedert ist.35

17Unter die Ausnahme fallen damit auch öffentlich-rechtliche Beschäftigungsverhältnisse (Beamte, Richter, Soldaten) und nach Sinn und Zweck der Vorschrift auch die Anstellung von Geschäftsleitungsmitgliedern, soweit die Weisungsbefugnis diesen gegenüber nicht eingeschränkt ist.36

18Nicht vom Anwendungsbereich ausgenommen ist dagegen die Beschaffung von Leiharbeitskräften nach dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG),37 weil dort das Arbeitsverhältnis nicht mit dem beschaffenden Entleiher, sondern mit dem Verleiher besteht. Beschaffungsgegenstand ist damit kein Arbeitsvertrag i. S. d. § 107 Abs. 1 Nr. 3 GWB, sondern eine Dienstleistung des Verleihers. Bei der Beschaffung von Leiharbeitskräften handelt es sich um Aufträge in der Form entgeltlicher Dienstleistungen nach § 103 Abs. 1 und 4 GWB.

IV.Katastrophenschutz, Zivilschutz und Gefahrenabwehr (§ 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB)

19§ 107 Abs. 1 Nr. 4 GWB übernimmt die Ausnahme von öffentlichen Aufträgen und Konzessionen für Dienstleistungen, die in Art. 10 Abs. 8 lit. g KVR, Art. 10 lit. h VRL und Art. 21 lit. h SRL vorgesehen sind. In den drei Richtlinien werden die jeweils gleichlautenden Ausnahmen für Dienstleistungen des Katastrophenschutzes, des Zivilschutzes und der Gefahrenabwehr (Bereichsausnahme Bevölkerungsschutz), die von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden, durch eine Auflistung der betroffenen CPV-Nummern konkretisiert. Grund für die Ausnahme ist, dass der spezielle Charakter der gemeinnützigen Organisationen nur schwer gewahrt werden könnte, wenn die Dienstleistungserbringer nach den in dieser Richtlinie festgelegten Verfahren ausgewählt werden müssten.38 Die Ausnahme greift deshalb nicht ein, wenn der Auftraggeber den Wettbewerb nicht nur für solche gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen, sondern auch für gewerblich tätige Unternehmen eröffnet.39 Die Ausnahme soll nach den Erwägungsgründen zu den Richtlinien keinesfalls über das notwendigste Maß hinaus ausgeweitet werden.40

20Im Ergebnis soll das EU-Sekundärrecht und damit der vierte Teil des GWB nach der amtlichen Begründung auf die Vergabe von Notfallrettungsdiensten (75250000-3 – „Dienstleistungen der Feuerwehr und von Rettungsdiensten“, 75251000-0 – „Dienstleistungen der Feuerwehr“, 752511100-1 – Brandbekämpfung, 75251110-4 – Brandverhütung, 75251120-7 – Waldbrandbekämpfung, 75252000-7 – „Rettungsdienste“, 75222000-8 – Zivilverteidigung, 98113100-9 – Dienstleistungen im Bereich der nuklearen Sicherheit) und den Einsatz von Krankenwagen bestehend in allgemeinen und fachspezifischen ärztlichen Dienstleistungen in einem Rettungswagen (85143000-3 – „Einsatz von Krankenwagen“) keine Anwendung finden unter der Voraussetzung, dass diese Dienste von gemeinnützigen Organisationen oder Vereinigungen erbracht werden.41 Die Luftnotrettung ist von der Ausnahmevorschrift nicht umfasst.42

21Gemeinnützige Organisationen oder Vereinigungen sind nach § 107 Abs. 1 Nr. 4 HS 2 GWB insbesondere die Hilfsorganisationen, die nach Bundes- oder Landesrecht als Zivil- und Katastrophenschutzorganisationen anerkannt sind. Die amtliche Begründung nennt hier i. S. d. § 26 Abs. 1 Satz 2 des Gesetzes über den Zivilschutz und die Katastrophenhilfe des Bundes (ZSKG) anerkannte Organisationen, wie zum Beispiel den Arbeiter-Samariter-Bund, die Deutsche Lebensrettungsgesellschaft, das Deutsche Rote Kreuz, die Johanniter-Unfall-Hilfe und den Malteser-Hilfsdienst.43 Das ZSKG definiert die Gemeinnützigkeit aber ebenso wenig, wie die Richtlinien. Der Begriff ist deshalb autonom und EU-einheitlich auszulegen, wobei diese Auslegung unter Berücksichtigung des Regelungszusammenhangs und des mit der Regelung verfolgten Zweckes zu ermitteln ist.44 Danach liegt das Kennzeichen gemeinnütziger Organisation oder Vereinigung gerade darin, dass sie nicht erwerbswirtschaftlich tätig sind und dass sie etwaige umständehalber – also ohne Gewinnstreben45 – erzielte Gewinne der Erfüllung ihrer sozialen Aufgabe widmen. Auf die Anerkennung als Hilfsorganisation nach Bundes- oder Landesrecht kommt es daneben ebenso wenig an, wie auf die Erfüllung der Bedingungen aus Art. 77 Abs. 2 VRL.46 An der Einordnung als gemeinnützige Organisation oder Vereinigung dürfte sich dadurch nichts ändern, dass umständehalber erzielte Gewinne nicht wieder in die Erbringung der medizinischen Notfalldienste, sondern in eine andere soziale Aufgabe (z. B. Altenpflege) investiert werden, die von der Organisation oder Vereinigung ebenso erbracht werden.47

22Der Wortlaut der Vorschrift („und“) könnte so verstanden werden, dass es für die Ausnahme nicht genügt, dass ein Auftrag oder eine Konzession einer der genannten CPV-Nummern unterfällt. Vielmehr müsste es sich dann zusätzlich um Dienstleistungen des Katastrophenschutzes, des Zivilschutzes oder der Gefahrenabwehr handeln.48 Mit dieser Auslegung bestehen Zweifel daran, ob Rettungsdienstleistungen im Sinne einer alltäglichen Notfallversorgung von der Ausnahmevorschrift erfasst sein sollen. Der Begriff des Katastrophenschutzes erfasst unvorhersehbare Schadensereignisse in Friedenszeiten, der Begriff des Zivilschutzes den Schutz der Zivilbevölkerung im Kriegsfall.49 Die Beantwortung der Frage, ob von der Ausnahmevorschrift nicht nur der allgemeine Schutz der Bevölkerung, sondern auch die Rettung eines Einzelnen aus einer Gefahrensituation umfasst ist, würde demnach allein in der Auslegung des Begriffs der Gefahrenabwehr liegen, für den es keine gefestigte Definition wie für die anderen beiden Begriffe gibt50 und der auch nicht in der VRL definiert ist.51 Der Begriff der Gefahrenabwehr müsste dann aber einen vergleichbaren „Notfall“ umschreiben, wie es die Begriffe Katastrophenschutz und Zivilschutz tun,52 andernfalls letztere überflüssig wären bzw. der Begriff der Gefahrenabwehr keine eigenständige Bedeutung hätte. Das mit der Ausnahmeregelung verfolgte Ziel, gemeinnützige Organisationen und Einrichtungen bei der Vergabe von Dienstleistungen im Bereich der Notfalldienste davor zu schützen, dass sie sich im Wettbewerb mit anderen, nicht gemeinnützig tätigen Anbietern um einen Auftrag bewerben müssen, würde aber nicht erreicht, wenn die Bereichsausnahme nur dann einschlägig wäre, wenn es um Dienstleistungen zur Abwehr von übergroßen Schadensereignissen geht.53 Nach Ansicht des EuGH betrifft der Begriff der Gefahrenabwehr deshalb sowohl Gefahren für die Allgemeinheit als auch Gefahren für Einzelpersonen.54

23Versteht man die Vorschrift aber so, dass die im Relativsatz stehenden CPV-Codes den Begriff der Gefahrenabwehr lediglich näher eingrenzen und nicht umgekehrt der Begriff der Gefahrenabwehr – als gleichsam zusätzliches einschränkendes Merkmal – die CPV-Codes einschränkt, fällt neben der Feuerwehr insbesondere der Rettungsdienst der Hilfsorganisationen auf der Grundlage der entsprechenden Landesgesetze in den Anwendungsbereich der Bereichsausnahme.55 Für eine unterschiedliche vergaberechtliche Behandlung der sogenannten Regelrettungsdienstleistungen im Unterschied zu Rettungsdienstleistungen im Zusammenhang mit Katastrophen oder Großschadensereignissen besteht dann kein Raum.56 Für dieses Verständnis der Vorschrift spricht auch, dass der Einsatz von Krankenwagen zur Patientenbeförderung ausdrücklich als nicht von der Ausnahmevorschrift erfasst angeführt wird. Im Umkehrschluss könnte das bedeuten, dass der Einsatz von Krankenwagen im Rahmen der Notfallrettung57 von der Ausnahmevorschrift erfasst ist.58 Zu demselben Ergebnis gelangt man, wenn man den Schutz individueller Rechtsgüter wie Leib und Leben unter den Begriff der Gefahrenabwehr subsummiert.59

24Selbst wenn man Rettungsdienstleistungen von der Ausnahmevorschrift erfasst sieht, wird vertreten, dass eine Direktvergabe an die Hilfsorganisationen ohne transparentes und diskriminierungsfreies Auswahlverfahren oder eine Zugangsbeschränkung bei entsprechenden Verfahren zur Vergabe von Rettungsdienstleistungen insbesondere im Hinblick auf EU-Primärrecht unzulässig sei.60 Dies widerspricht jedoch der Auffassung des EuGH, dass das Unionsrecht keine Verpflichtung zur Einhaltung kartellvergaberechtlicher Verfahrensvorschriften im Zusammenhang mit der Beauftragung von Leistungen des Rettungsdienstes vorgibt, wenn ein Mitgliedstaat es seinen Behörden im Rahmen der Bereichsausnahme Bevölkerungsschutz erlaubt, zur Erfüllung solcher Aufgaben unmittelbar auf Freiwilligenorganisationen, d. h. anerkannte Hilfsorganisationen zurückzugreifen.61

25Der Erwägungsgrund (28) der VRL lässt den Schluss zu, dass ein Krankentransport der Ausnahmeregelung nicht unterfällt, wenn der Patient ohne Vorliegen eines Notfalls eine fachliche Betreuung in einem Krankenwagen erhält, nachdem laut Satz 1 des Erwägungsgrundes (28) der VRL nur Notfalldienste von der VRL nicht erfasst sein sollen.62 Soweit bei einem Krankentransport Patienten zwar einen Begleiter bei der Beförderung im Fahrzeug benötigen, sie aber keiner medizinischen Notfallversorgung bedürfen, womit ein Notfalldienst im Sinne des Erwägungsgrundes (28) der VRL nicht vorliegt, ist die Ausnahmevorschrift nicht einschlägig,63 sondern es liegt ein einfacher Krankentransport vor. Der Krankentransport ist aber dann von der Ausnahme erfasst, wenn er zum einen tatsächlich von ordnungsgemäß in erster Hilfe geschultem Personal durchgeführt wird und zum anderen Patienten betrifft, bei denen das Risiko besteht, dass sich ihr Gesundheitszustand während des Transports verschlechtert.64

26Einfache Krankentransporte sind von der Ausnahmevorschrift nicht erfasst („mit Ausnahme des Einsatzes von Krankenwagen zur Patientenbeförderung“),65 unterfallen aber einem vereinfachten Verfahren für die Vergabe von sozialen und anderen besonderen Dienstleistungen, das in § 130 GWB umgesetzt ist. Die Erwägungsgründe (36) der KVR, (28) der Richtlinie VRL und (36) der SRL stellen darüber hinaus klar, dass gemischte Aufträge für Dienste von Krankenwagen generell unter die Sonderregelung fallen, falls der Wert des Einsatzes von Krankenwagen zur reinen Patientenbeförderung höher wäre als der Wert anderer Rettungsdienste.66 Überwiegt in einem derartigen Auftrag aber der Wert der Rettungsdienstleistungen, die der Ausnahmevorschrift unterfallen, ist der gesamte Auftrag gem. § 110 Abs. 2 Nr. 1 GWB der Anwendung des vierten Teils des GWB entzogen.67

V.Artikel 346 AEUV (ex-Artikel 296 EGV) (§ 107 Abs. 2 GWB)

27§ 107 Abs. 2 GWB übernimmt die in § 100 Abs. 6 GWB a. F. geregelten Ausnahmen. Auch hier müssen Auftraggeber bei der Vergabe öffentlicher Aufträge oder Konzessionen im Einzelfall prüfen, ob die Voraussetzungen des § 107 Abs. 2 Nr. 1 oder Nr. 2 GWB erfüllt sind. Eine Aufzählung bestimmter Bereiche, bei denen wesentliche Sicherheitsinteressen betroffen sein können, finden sich in den Sätzen 2 und 3 des § 107 Abs. 2 GWB. § 107 Abs. 2 GWB übernimmt in Nr. 1 und Nr. 2 die Ausnahme des Art. 346 Abs. 1 lit. a und b AEUV, dem auch die Anwendung der Richtlinien unterliegt68 in das deutsche Vergaberecht und greift den Wortlaut des § 100 Abs. 6 Nr. 1 und Nr. 2 GWB a. F. auf.69

28Die Ausnahme in § 107 Abs. 2 Nr. 1 GWB betreffend den Schutz wesentlicher Sicherheitsinteressen ist von den Vergabenachprüfungsinstanzen unabhängig davon zu prüfen, ob sich der öffentliche Auftraggeber darauf beruft.70 Die Vorschrift wird durch die Bezugnahme auf Art. 346 Abs. 1 lit. a AEUV konkretisiert, der den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumt, Verträge vom Vergaberecht auszunehmen, wenn deren Anwendung sie dazu zwingen würde, Auskünfte zu erteilen, deren Preisgabe ihres Erachtens ihren wesentlichen Sicherheitsinteressen widerspricht. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn Aufträge so sensibel sind, dass sogar deren Existenz geheim gehalten werden muss71 oder wenn ein besonders hohes Maß an Vertraulichkeit im Zusammenhang mit den in § 107 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 GWB genannten Leistungen erforderlich ist.72 Die Regelung setzt gleichzeitig Art. 13 lit. a VSVR um.

29Die wesentlichen Interessen der Sicherheit des Staates mussten nach einem früheren Wortlaut der Vorschrift die Ausnahme „gebieten“, weshalb der öffentliche Auftraggeber auf der Grundlage dieses Ausnahmetatbestands nicht ohne Abwägung zwischen den Sicherheitsinteressen des Staates und den Bieterinteressen von einer Ausschreibung absehen konnte. Nachdem der Gesetzgeber im Rahmen der Umsetzung der VSVR inhaltliche Änderungen nicht vornehmen wollte,73 hat sich an dem Abwägungserfordernis nichts geändert.74 Das bestätigt der Wortlaut des § 107 Abs. 2 Nr. 1 GWB, wonach die Abwägung zur Rechtfertigung der Ausnahme ergeben muss, dass „nach Ansicht des Auftraggebers“ wesentlichen Sicherheitsinteressen entweder im Stadium der Vergabe oder der Ausführung des Auftrages „widersprochen“ würde. Unter den Ausnahmetatbestand können beispielsweise Aufträge fallen, bei deren Vergabe oder Durchführung die Unternehmen Einblick in die Organisation oder Arbeitsweise von Sicherheitsbehörden erlangen, sowie die Beschaffung sensibler Materialien oder Anlagen. Der Auftraggeber hat jedoch stets eine objektiv gewichtige Gefährdung oder Beeinträchtigung der Sicherheitsinteressen darzulegen, um diese eng auszulegende, ausfüllungsbedürftige Ausnahme zu rechtfertigen.

30Der Ausnahmetatbestand in § 107 Abs. 2 Nr. 2 GWB verweist auf Art. 346 Abs. 1 lit. b AEUV, der bestimmt, dass jeder Mitgliedstaat die Maßnahmen ergreifen kann, die seines Erachtens für die Wahrung wesentlicher Sicherheitsinteressen erforderlich sind, insoweit sie die Erzeugung von Waffen, Munition und Kriegsmaterial oder den Handel damit betreffen. Voraussetzung ist dabei allerdings, dass diese Maßnahmen auf dem gemeinsamen Markt die Wettbewerbsbedingungen hinsichtlich der „nicht eigens für militärische Zwecke“ bestimmten Waren nicht beeinträchtigen.

31Bereits 1958 hat der Rat der EWG in diesem Zusammenhang eine Warenliste verfasst, die auf Vorschlag der Kommission einstimmig geändert werden kann (Art. 346 Abs. 2 AEUV). In der Bundesrepublik Deutschland wird seit 1978 eine Interpretation dieser Liste gehandhabt, weil sich die alte Liste nach den damaligen technologischen Kenntnissen ausrichtete.75 Diese erweiternde Interpretation der zu Art. 346 Abs. 1 lit. b AEUV ergangenen EG-Kriegswaffenliste von 1958 kann jedoch auf Vergabeverfahren und Nachprüfungsverfahren keine Anwendung finden, nachdem es sich angesichts des in Art. 346 Abs. 2 AEUV zugunsten des Rates ausgesprochenen Änderungsvorbehaltes bei der Interpretation nur um verwaltungsinterne Anweisungen handeln kann, die Dritte nicht binden können. Eine Einschränkung des Anwendungsbereichs der §§ 97 ff. GWB gem. § 107 Abs. 2 Nr. 2 GWB kann sich daraus also nicht ergeben.76

32Art. 346 Abs. 1 lit. b AEUV erfasst aber nicht nur die in der Warenliste aufgeführten Güter, sondern auch vergleichbare, modernere Geräte und Technologien. Unter den Artikel fallen damit Güter, für die es keinen zivilen Parallelmarkt gibt, beispielsweise Bomben, Torpedos und Panzerwagen (sog. harte Rüstungsgüter).77 Aus dem Wortlaut des Art. 346 Abs. 1 lit. b AEUV ergibt sich allerdings, dass die betreffenden Waren eigens für militärische Zwecke beschafft bzw. erzeugt sein müssen. Daraus folgt, dass beim Erwerb von Ausrüstungsgegenständen, deren Nutzung für militärische Zwecke ungewiss ist bzw. die nicht aufgrund ihrer Eigenschaften – auch infolge substanzieller Veränderungen – als speziell für militärische Zwecke konzipiert und entwickelt angesehen werden können,78 zwingend die §§ 97 ff. GWB beachtet werden müssen. Die Lieferung von Hubschraubern an Militäreinheiten zur zivilen Nutzung unterfällt deshalb beispielsweise nicht dem Ausnahmetatbestand.79 Damit ist bei den sog. Dual-Use-Gütern, also den Gütern, die sowohl zivil als auch militärisch genutzt werden können, nicht nur der konkrete Einsatzzweck der zu beschaffenden Waffe, Munition oder des Kriegsmaterials für die Anwendung des Ausnahmetatbestands entscheidend, sondern auch, ob eine Anpassung des Ausrüstungsgegenstandes für die speziellen militärischen Zwecke erfolgt ist.

33Die VSVR geht der VRL und der SRL vor.80 Die VSVR regelt nicht nur den engeren Bereich der Beschaffung von Verteidigungsgütern, sondern gilt daneben auch für sensible Beschaffungen im nichtmilitärischen Bereich. Soweit für die Beschaffung militärischer und nichtmilitärischer Sicherheitsgüter ohnehin vergleichbare Anforderungen gelten, unterfallen diese damit denselben Vorschriften,81 nunmehr geregelt in den §§ 144 bis 147 GWB.

34Art. 2 VSVR stellt zwar klar, dass die primärrechtliche Ausnahmevorschrift des Art. 296 EGV (jetzt Art. 346 AEUV) auch nach Erlass der VSVR weiter anwendbar bleiben muss. Bei der Auslegung des Art. 346 AEUV wird jedoch zu berücksichtigen sein, dass die VSVR dem Umstand bereits Rechnung trägt, dass die Beschaffung von Sicherheitsgütern häufig die Preisgabe sensibler Informationen erfordert und besondere Anforderungen an die Versorgungssicherheit gestellt werden. So stellt die VSVR zum Schutz dieser Informationen und zur Gewährleistung der Versorgungssicherheit bereits verschiedene Instrumente zur Verfügung.82 Nur dann, wenn diese Instrumente nicht ausreichen, um die Sicherheitsinteressen eines Mitgliedstaates ausreichend zu schützen, ist noch eine Berufung auf die primärrechtlichen Ausnahmeregelungen, insbesondere auf Art. 346 AEUV möglich, die dann zur vollständigen Vergabefreiheit führt.83 Nach der Kommissionsmitteilung84 über die Anwendung des Art. 296 EGV muss der Auftraggeber dazu darlegen, welches wesentliche Sicherheitsinteresse betroffen ist, worin der Zusammenhang zwischen diesen Sicherheitsinteressen und der speziellen Beschaffungsentscheidung besteht und warum die Nichtanwendung des Vergaberechts im Einzelfall zum Schutz des Sicherheitsinteresses zwingend notwendig ist.

35Der am 2.4.2020 in Kraft getretene85 Satz 2 in § 107 Abs. 2 GWB enthält einen Auslegungshinweis für das Tatbestandsmerkmal der wesentlichen Sicherheitsinteressen, das maßgebliche Voraussetzung in lit. a) und b) des Art. 346 Abs. 1 AEUV und somit auch in der Nr. 1 und der Nr. 2 des § 107 Abs. 2 GWB ist. Mit dem Auslegungshinweis soll klargestellt werden, dass wesentliche Sicherheitsinteressen i. S. d. Art. 346 Abs. 1 AEUV insbesondere berührt sein können, wenn ein öffentlicher Auftrag oder eine Konzession eine Technologie betrifft, die als verteidigungsindustrielle Schlüsseltechnologie eingestuft wird. Die Einstufung einer Technologie als verteidigungsindustrielle Schlüsseltechnologie erfolgt durch einen Beschluss des Bundeskabinetts, beispielsweise im Rahmen des durch das Bundeskabinett verabschiedeten Weißbuchs der Bundeswehr oder im Strategiepapier der Bundesregierung zur Stärkung der Verteidigungsindustrie in Deutschland.86

36Während sich die Regelung des § 107 Abs. 2 Satz 2 GWB auf den gesamten Abs. 1 des Art. 346 AEUV bezieht, gilt der Auslegungshinweis in § 107 Abs. 2 Satz 3 GWB nur für das Tatbestandsmerkmal der wesentlichen Sicherheitsinteressen gem. Art. 346 Abs. 1 lit. a) AEUV und damit für die Auslegung von § 107 Abs. 2 Nr. 1 GWB. Diese Differenzierung ergibt sich aus den Vorgaben des Art. 346 Abs. 1 AEUV. Während Art. 346 Abs. 1 lit. a) AEUV keine Unterscheidung zwischen dem militärischen und dem nicht-militärischen Bereich enthält, nimmt Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV ausdrücklich nur militärische Zwecke in Bezug und findet nach Art. 346 Abs. 2 AEUV nur Anwendung auf die Waren, die in der EG-Kriegswaffenliste von 1958 enthalten sind. Da § 107 Abs. 2 Nr. 2 GWB auf den gesamten Tatbestand von Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV verweist, können Aufträge, die den nicht-militärischen Bereich betreffen, diesen Tatbestand nicht erfüllen.87

37Nach der Kommissionsmitteilung88 über die Anwendung des Art. 296 EGV sind zwar öffentliche Beschaffungen zu nicht-militärischen Sicherheitszwecken vom Anwendungsbereich des Art. 296 Abs. 1 lit. b) EGV (heute: Art. 346 Abs. 1 lit. b) AEUV) ausgeschlossen. § 107 Abs. 2 Satz 3 GWB stellt in Nr. 1 nun aber klar, dass wesentliche Sicherheitsinteressen gem. Art. 346 Abs. 1 lit. a) AEUV berührt sein können, wenn der öffentliche Auftrag oder die Konzession sicherheitsindustrielle Schlüsseltechnologien betrifft. Auch im sicherheitsindustriellen Bereich erfolgt die Einstufung einer Technologie als Schlüsseltechnologie durch einen Beschluss des Bundeskabinetts.89

38Darüber hinaus übernimmt § 107 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 GWB die im Erwägungsgrund (27) der VSVR enthaltene Wertung, dass es im Sicherheitsbereich sensible Beschaffungen gibt, die ein besonders hohes Maß an Vertraulichkeit erfordern, weshalb eine Anwendung der Richtlinie auf diese Fälle unangebracht wäre. Daher können wesentliche Sicherheitsinteressen ebenfalls berührt sein, wenn es um Leistungen für die im Erwägungsgrund (27) der VSVR genannten und in den Gesetzestext übernommenen Zwecke geht. Damit können von der Ausnahmeregelung sowohl bestimmte Beschaffungen erfasst sein, die der Sicherstellung des grenzpolizeilichen Schutzes des Bundesgebietes dienen, als auch solche, die zur präventiven Abwehr oder repressiven Verfolgung von Straftaten mit terroristischem Hintergrund oder im Bereich der organisierten Kriminalität bestimmt sind. Weiterhin können Aufträge dazu führen, dass wesentliche Sicherheitsinteressen berührt sind, wenn sie zur Durchführung heimlich erfolgender Maßnahmen im Rahmen verdeckter Ermittlungen im Bereich der Gefahrenabwehr oder der Strafverfolgung dienen oder für Verschlüsselungsmaßnahmen bestimmt sind.90

39Zusätzlich ist aber in allen Regelbeispielsfällen des § 107 Abs. 2 Satz 3 Nr. 2 GWB erforderlich, dass bei der Beschaffung im Einzelfall ein besonders hohes Maß an Vertraulichkeit notwendig ist, damit der mit der Beschaffung angestrebte Zweck auch erreicht werden kann. Sind diese Voraussetzungen erfüllt, können durch den Auftrag wesentliche Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland berührt sein, was im Einzelfall zu prüfen ist. Zudem sind in jedem Einzelfall auch die weiteren Tatbestandsmerkmale des Art. 346 AEUV zu prüfen, die neben der Betroffenheit wesentlicher Sicherheitsinteressen erfüllt sein müssen, um eine Ausnahme vom Vergaberecht zu begründen.91

§ 108 GWBAusnahmen bei öffentlich-öffentlicher Zusammenarbeit

(1) Dieser Teil ist nicht anzuwenden auf die Vergabe von öffentlichen Aufträgen, die von einem öffentlichen Auftraggeber im Sinne des § 99 Nummer 1 bis 3 an eine juristische Person des öffentlichen oder privaten Rechts vergeben werden, wenn

1. der öffentliche Auftraggeber über die juristische Person eine ähnliche Kontrolle wie über seine eigenen Dienststellen ausübt,

2. mehr als 80 Prozent der Tätigkeiten der juristischen Person der Ausführung von Aufgaben dienen, mit denen sie von dem öffentlichen Auftraggeber oder von einer anderen juristischen Person, die von diesem kontrolliert wird, betraut wurde, und

3. an der juristischen Person keine direkte private Kapitalbeteiligung besteht, mit Ausnahme nicht beherrschender Formen der privaten Kapitalbeteiligung und Formen der privaten Kapitalbeteiligung ohne Sperrminorität, die durch gesetzliche Bestimmungen vorgeschrieben sind und die keinen maßgeblichen Einfluss auf die kontrollierte juristische Person vermitteln.

(2) 1Die Ausübung einer Kontrolle im Sinne von Absatz 1 Nummer 1 wird vermutet, wenn der öffentliche Auftraggeber einen ausschlaggebenden Einfluss auf die strategischen Ziele und die wesentlichen Entscheidungen der juristischen Person ausübt. 2Die Kontrolle kann auch durch eine andere juristische Person ausgeübt werden, die von dem öffentlichen Auftraggeber in gleicher Weise kontrolliert wird.

(3) 1Absatz 1 gilt auch für öffentliche Aufträge, die von einer kontrollierten juristischen Person, die zugleich öffentlicher Auftraggeber im Sinne des § 99 Nummer 1 bis 3 ist, an den kontrollierenden öffentlichen Auftraggeber oder an eine von diesem öffentlichen Auftraggeber kontrollierte andere juristische Person vergeben werden. 2Voraussetzung ist, dass keine direkte private Kapitalbeteiligung an der juristischen Person besteht, die den öffentlichen Auftrag erhalten soll. 3Absatz 1 Nummer 3 zweiter Halbsatz gilt entsprechend.

(4) Dieser Teil ist nicht anzuwenden auf die Vergabe von öffentlichen Aufträgen, bei denen der öffentliche Auftraggeber im Sinne des § 99 Nummer 1 bis 3 über eine juristische Person des privaten oder öffentlichen Rechts zwar keine Kontrolle im Sinne des Absatz 1 Nummer 1 ausübt, aber

1. der öffentliche Auftraggeber gemeinsam mit anderen öffentlichen Auftraggebern über die juristische Person eine ähnliche Kontrolle ausübt wie jeder der öffentlichen Auftraggeber über seine eigenen Dienststellen,

2. mehr als 80 Prozent der Tätigkeiten der juristischen Person der Ausführung von Aufgaben dienen, mit denen sie von den öffentlichen Auftraggebern oder von einer anderen juristischen Person, die von diesen Auftraggebern kontrolliert wird, betraut wurde, und

3. an der juristischen Person keine direkte private Kapitalbeteiligung besteht; Absatz 1 Nummer 3 zweiter Halbsatz gilt entsprechend.

(5) Eine gemeinsame Kontrolle im Sinne von Absatz 4 Nummer 1 liegt vor, wenn

1. sich die beschlussfassenden Organe der juristischen Person aus Vertretern sämtlicher teilnehmender öffentlicher Auftraggeber zusammensetzen; ein einzelner Vertreter kann mehrere oder alle teilnehmenden öffentlichen Auftraggeber vertreten,

2. die öffentlichen Auftraggeber gemeinsam einen ausschlaggebenden Einfluss auf die strategischen Ziele und die wesentlichen Entscheidungen der kontrollierten juristischen Person ausüben können und

3. die juristische Person keine Interessen verfolgt, die den Interessen der öffentlichen Auftraggeber zuwiderlaufen.

(6) Dieser Teil ist ferner nicht anzuwenden auf Verträge, die zwischen zwei oder mehreren öffentlichen Auftraggebern im Sinne des § 99 Nummer 1 bis 3 geschlossen werden, wenn

1. der Vertrag eine Zusammenarbeit zwischen den beteiligten öffentlichen Auftraggebern begründet oder erfüllt, um sicherzustellen, dass die von ihnen zu erbringenden öffentlichen Dienstleistungen im Hinblick auf die Erreichung gemeinsa­mer Ziele ausgeführt werden,

2. die Durchführung der Zusammenarbeit nach Nummer 1 ausschließlich durch Überlegungen im Zusammenhang mit dem öffentlichen Interesse bestimmt wird und

3. die öffentlichen Auftraggeber auf dem Markt weniger als 20 Prozent der Tätigkeiten erbringen, die durch die Zusammenarbeit nach Nummer 1 erfasst sind.

(7) 1Zur Bestimmung des prozentualen Anteils nach Absatz 1 Nummer 2, Absatz 4 Nummer 2 und Absatz 6 Nummer 3 wird der durchschnittliche Gesamtumsatz der letzten drei Jahre vor Vergabe des öffentlichen Auftrags oder ein anderer geeigneter tätigkeitsgestützter Wert herangezogen. 2Ein geeigneter tätigkeitsgestützter Wert sind zum Beispiel die Kosten, die der juristischen Person oder dem öffentlichen Auftraggeber in dieser Zeit in Bezug auf Liefer-, Bau- und Dienstleistungen entstanden sind. 3Liegen für die letzten drei Jahre keine Angaben über den Umsatz oder einen geeigneten alternativen tätigkeitsgestützten Wert wie zum Beispiel Kosten vor oder sind sie nicht aussagekräftig, genügt es, wenn der tätigkeitsgestützte Wert insbesondere durch Prognosen über die Geschäftsentwicklung glaubhaft gemacht wird.

(8) Die Absätze 1 bis 7 gelten entsprechend für Sektorenauftraggeber im Sinne des § 100 Absatz 1 Nummer 1 hinsichtlich der Vergabe von öffentlichen Aufträgen sowie für Konzessionsauftraggeber im Sinne des § 101 Absatz 1 Nummer 1 und 2 hinsichtlich der Vergabe von Konzessionen.

Schrifttum: Brockhoff, Öffentlich-öffentliche Zusammenarbeit nach den neuen Vergaberichtlinien, VergabeR 2014, 625 ff.; Dabringhausen, Die europäische Neuregelung der ­Inhouse-Geschäfte – Fortschritt oder Flop?, VergabeR 2014, 512 ff.; Dierkes/Scharf, Die interkom­mu­nale Zusammenarbeit – Zum nachträglichen Wegfall ihrer Privilegierungsvoraussetzungen sowie zu den Folgen bei der Einbindung Dritter im Rahmen der Leistungserfüllung, VergabeR 2014, 752 ff.; Eisner, Interkommunale Kooperationen und Dienstleistungskonzessionen, ZVB 2011, 181 ff.; Elbel, Reichweite der vergaberechtlichen Figur des „In-House-Geschäfts“ im öffentlich-rechtlichen „Konzern“, VergabeR 2011, 185 ff.; Gaus, Der neue § 108 GWB – Die In-House-Vergabe in der kommunalen Konzernfamilie, VergabeR 2016, 418 ff.; Geitel, EuGH präzisiert Anforderungen an interkommunale Kooperationen, NVwZ 2013, 765 ff.; Geitel, In-house: Wann liegt eine gemeinsame Kontrolle vor?, NZBau 2013, 483 ff.; Greb, Inhouse-Vergabe nach dem aktuellen und künftigem Recht, VergabeR 2015, 289 ff.; Gruneberg/Beck, Möglichkeiten interkommunaler Kooperation nach der Piepenbrock-Entscheidung des EuGH, VergabeR 2014, 99 ff.; Gruneberg/Frank, Interkommunale Zusammenarbeit im aktuellen Vergaberecht, AbfallR 2016, 12, 77; Hofmann, Inhouse-Geschäfte nach dem neuen GWB, VergabeR 2016, 189 ff.; Horn, Öffentlich-öffentliche Kooperationen, VergabeR 2017, 229 ff.; Horstkotte/Hünemörder/Dimieff, In-House-Vergaben an Tochtergesellschaften anderer Auftraggeber, VergabeR 2017, 697 ff.; Kann/Hettich, Vergaberecht bei kommunalen Grundstücksgeschäften: Wichtige Neuerungen durch EuGH-Rechtsprechung, ZfIR 2010, 783 ff.; Klein, Kommunale Kooperationen und Vergaberecht, VergabeR 2013, 328 ff.; Knauff, Neues zur Inhouse-Vergabe, EuZW 2014, 486 ff.; Krönke, Das neue Vergaberecht aus verwaltungsrechtlicher Perspektive, NVwZ 2016, 568 ff.; Losch, Gestaltungsmöglichkeiten und rechtliche Grenzen ausschreibungsfreier Leistungsbeziehungen aufgrund von Inhouse-Gestaltungen; Mösinger/Hammer/Plantiko, Innerstaatliche Geschäfte als Herausforderung für das Vergabe- und Gemeindewirtschafsrecht, IR 2010, 304 ff.; Müller-Wrede, Die Neuregelungen zur In-House-Vergabe, VergabeR 2016, 292 ff.; Portz, Das neue Vergaberecht: Eine Bewertung aus kommunaler Sicht, BWGZ 2016, 52 ff.; Schröder, Das sog. Wesentlichkeitskriterium beim In-house-Geschäft, NVwZ 2011, 776 ff.; Wagner, In-house-Geschäft mit einer GbR?, VergabeR 2011, 181 ff.; Wagner-Cardenal/Scharf/Dierkes, Zur Zurechnung von Drittumsätzen bei der In-house-Vergabe, NZBau 2011, 271 ff.; Wolf, Ausschreibungspflichten bei Selbstvornahme und interkommunaler Zusammenarbeit, VergabeR 2011, 27 ff.; Ziekow, Inhouse-Geschäft und öffentlich-öffentliche Kooperationen: Neues vom europäischen Vergaberecht?, NZBau 2015, 258 ff.; Ziekow, Neues vom Wesentlichkeitskriterium beim Inhouse-Geschäft?, NZBau 2017, 339 ff.

Übersicht Rn.
A. Überblick 1–8
B. Vergabefreie öffentlich-öffentliche Zusammenarbeit auf vertikaler Ebene (In-house-Geschäfte) 9–43
I. Tatbestandsmerkmale eines vertikalen In-house-Verhältnisses (§ 108 Abs. 1 GWB) 9–27
1. Kontrolle wie über eigene Dienststellen (§ 108 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Satz 1 GWB) 11–17
2. Tätigkeit im Wesentlichen für den öffentlichen Auftraggeber (§ 108 Abs. 1 Nr. 2 GWB) 18–22
3. Keine Beteiligung Privater an der juristischen Person (§ 108 Abs. 1 Nr. 3 GWB) 23–27
II. Mittelbare oder mehrstufige Kontrolle (§ 108 Abs. 2 Satz 2 GWB) 28, 29
III. In-house-Vergaben bottom-up und horizontal (§ 108 Abs. 3 GWB) 30–34
IV. Kontrolle durch mehrere öffentliche Auftraggeber (§ 108 Abs. 4 und 5 GWB) 35–43
1. Tatbestandsmerkmale einer gemeinsamen Kontrolle (§ 108 Abs. 4 Nr. 1–3 GWB) 37–40
2. Tatbestandsmerkmale einer gemeinsamen Kontrolle (§ 108 Abs. 5 Nr. 1–3 GWB) 41–43
C. Vergabefreie öffentlich-öffentliche Zusammenarbeit auf horizontaler Ebene (Innerstaatliche Zusammenarbeit) 44–55
I. Allgemeines 44, 45
II. Tatbestandsmerkmale der innerstaatlichen Zusammenarbeit (§ 108 Abs. 6 GWB) 46–55
1. Zusammenarbeit zur Erfüllung gemeinsamer öffentlicher Aufgaben oder Ziele (§ 108 Abs. 6 Nr. 1 GWB) 46–51
2. Zusammenarbeit ausschließlich orientiert am öffentlichen Interesse (§ 108 Abs. 6 Nr. 2 GWB) 52, 53
3. Wesentlichkeitskriterium bei der innerstaatlichen Zusammenarbeit (§ 108 Abs. 6 Nr. 3 GWB) 54, 55
D. Berechnung des Fremdumsatzanteils nach Abs. 1 Nr. 2, Abs. 4 Nr. 2 und Abs. 6 Nr. 3 (§ 108 Abs. 7 GWB) 56–59
E. Vergabefreie Zusammenarbeit von Sektorenauftraggebern und Konzessionsgebern (§ 108 Abs. 8 GWB) 60
Vergaberecht

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