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4.3 Kritische Anmerkungen
ОглавлениеAuf den Punkt gebracht, beruht für Freud die Übernahme der Geschlechtsrolle auf der Identifikation mit dem gleichgeschlechtlichen Elternteil, wobei diese Identifikation dazu dienen soll, dessen Rache dafür, dass man seinen Partner sexuell begehrt, abzuwenden. Der Mechanismus der Identifikation ist insofern für unsere weiteren Überlegungen wichtig, als er erklären würde, wie Kinder dazu kommen, sich auf den gleichgeschlechtlichen Elternteil auszurichten, ihn als Modell für ihr Verhalten zu bevorzugen und sich damit geschlechtsangemessen zu orientieren.
Im Übrigen ist der Erklärungswert der Theorie mit vielen Fragen behaftet, auf die im Folgenden kurz eingegangen wird. So führt Asendorpf gegen Freud an, dass geschlechtstypisches Verhalten, falls es denn allein durch Identifikation mit dem gleichen Elternteil zustande käme, eine viel größere Stilähnlichkeit zwischen Söhnen und Vätern bzw. Töchtern und Müttern erkennen lassen müsste, als sich in der Realität beobachten lasse (Asendorpf, 1996). Auch erklärt Identifikation kaum, wieso Geschlechtsunterschiede bereits lange vor der ödipalen Phase auftreten. Des Weiteren ist einzuwenden, dass es zwar eine Vielzahl von Aufsätzen zum Ödipuskomplex in Fachzeitschriften gibt, diese Aufsätze aber keine kritische Prüfung der Existenz des Ödipuskomplexes darstellen. Sie sind lediglich persönliche Überlegungen oder einzelne Fallstudien zur Ausgestaltung des Komplexes von Patienten, deren Rezeption den Glauben an seine Existenz voraussetzen. Dagegen liefern die nur wenigen kritischen Überprüfungen keine überzeugenden Befunde, die das Auftreten des Ödipus- und des Elektrakomplexes bzw. des Penis- und des Gebärneids im einschlägigen Alter belegen (Goldman & Goldman, 1982, Roos & Greve, 1996, Bischof, 1985). Für manche Kinder ist es zwar beunruhigend, wenn sie die anatomischen Unterschiede entdecken, und sie legen sich hierzu in der Tat eigene Erklärungen zurecht, wie etwa: der Penis der Mädchen sei kleiner, würde noch wachsen, sei abgeschnitten, irgendwie seien Mädchen komisch, nicht richtig, anders. Nun halten Kinder im Vorschulalter aber alle äußeren Merkmale der Erscheinung einer Person für wandelbar und machen dabei, wie unten noch zu zeigen sein wird, auch nicht vor den Geschlechtsattributen halt. Vor diesem Hintergrund bereitet es Mühe, sich vorzustellen, dass die Entdeckung des anatomischen Geschlechtsunterschieds im Normalfall traumatische Auswirkungen haben soll, die dann auch noch geeignet sind, daraus gesetzmäßig die gesamte Geschlechtsrollenübernahme und gar noch die Gewissensbildung abzuleiten.
Freud hat seine Folgerungen über die kindliche Entwicklung weitgehend aus Berichten erwachsener Patienten mit psychischen Problemen rekonstruiert. Nur in einem Fall bestand seine Induktionsbasis in Gesprächen mit einem Vorschulkind, das über seine Ängste berichtete (Freund, 1909). Die empirische Evidenz steht also auf schwachen Beinen. Dieser Mangel wird von psychoanalytischer Seite gern mit dem enormen Verdrängungspotential begründet, das sich daraus ergäbe, dass den gegengeschlechtlichen Elternteil zu begehren so ungeheuer unstatthaft und dieses Begehren bei Erwachsenen daher unbewusst sei. Nun mögen in den Trauminhalten erwachsener Patienten, die aus psychoanalytischer Sicht einer der Königswege zum Unbewussten sind, ja durchaus auch Bilder geschlechtlicher Vereinigung mit – im Übrigen – beiden Elternteilen auftauchen. Aber bedeutet das allein schon, dass sich darin Kindheitswünsche und -ängste widerspiegeln müssen? Könnten Träume dieser Art nicht vielmehr auch eine Möglichkeit darstellen, metaphorisch und symbolisch ganz andere als sexuelle Motivkonflikte zum Ausdruck zu bringen?