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4.4 Bindung ist nicht gleich Sexualität

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Damit klingt bereits ein viel grundsätzlicherer Einwand an. Er wendet sich gegen eine der wenigen Thesen, an denen Freud bis zum Schluss mit unbeirrbarer Hartnäckigkeit festgehalten hat und in gleicher Weise ein Großteil von Psychoanalytikern unter seiner Anhängerschaft – die These von der Homogenität der Liebe, konkreter: die Gleichsetzung von Sexualität und Bindung. Jeder, der bereit ist, bei einem so allgemeinbiologischen Sachverhalt wie der Sexualität auch aus der Beobachtung tierischer Lebensformen zu lernen, sieht sich mit dem offensichtlichen Tatbestand konfrontiert, dass die Motivation, sich affektiv an den Sexualpartner zu binden, seine Nähe zu suchen und ihn zu unterstützen, vom Fortpflanzungstrieb unabhängig sein muss. Viele Tiere leben in eheähnlichen Gemeinschaften, die über viele Jahre erhalten bleiben, obwohl die sexuelle Brunftzeit sich nur auf einen kleinen Ausschnitt des Jahres erstreckt (Bischof, 1985; Bischof-Köhler, 2011).

Auch das von Freud in Anspruch genommene Faktum des Inzestwunsches spricht, richtig betrachtet, nicht für, sondern gerade gegen die Homogenität: Wie schon Westermarck (1891) richtig vermutet hat, stellt gerade die frühe Bindung des Kindes an seine Eltern nicht eine Vorbereitung, sondern eine entscheidende Hemmung der Sexualität dar. Am eindrücklichsten belegen dies Beobachtungen in israelischen Kibbuzim. Lange Zeit war es in Kibbuz-Gemeinschaften üblich, Kinder gemeinsam mit Gleichaltrigen in einem »Kinderhaus« aufzuziehen. Die Kinder waren also zwar mehrheitlich nicht verwandt, aber von Geburt an miteinander vertraut. Wie Shepher in einer eingehenden Recherche aufzeigen konnte, genügte diese Vertrautheit, um zu verhindern, dass unter den Betroffenen auch nur eine einzige eheliche Verbindung eingegangen wurde, obwohl niemand auf den Gedanken gekommen wäre, ihnen das auszureden, da sie ja nicht verwandt waren (Shepher, 1983). Die Vertrautheit von früher Kindheit an fungiert unter normalen Entwicklungsbedingungen als sicheres Hemmnis für die erotische Anziehung. Das gilt nicht nur zwischen Geschwistern, sondern auch für das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern. Bei Inzest sowohl zwischen Eltern und Kind als auch zwischen Geschwistern liegen häufig beim Initiator des Inzests Bedingungen vor, die den Aufbau einer Eltern-Kind-Beziehung oder Geschwisterbeziehung erschweren. Zu diesen Bedingungen zählen etwa eigene Vernachlässigungs- und Missbrauchserfahrungen (Griffee et al., 2016; Seto et al., 2015). Besonders offenkundig ist die Auswirkung fehlender – gewöhnlicherweise seit der frühen Kindheit bestehender – enger Vertrautheit bei Inzest, der durch Stiefeltern oder Stiefgeschwister initiiert wird.

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