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5 Dressur und Nachahmung 5.1 Theorie der geschlechtstypischen Verstärkung
ОглавлениеFreuds Theorie hat in der Diskussion unseres Themas bis in die Gegenwart hinein Spuren hinterlassen. Offiziell beruft sich heute, außer in orthodox psychoanalytischen Kreisen, freilich kaum mehr jemand ernsthaft auf sie. Heute liefern vor allem vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Popularität der »Gender Studies« vielmehr lerntheoretische Konzeptionen die eindeutig favorisierten Erklärungsansätze für geschlechtstypisches Verhalten. Dabei geht man von der als selbstverständlich betrachteten Voraussetzung aus, dass beide Geschlechter von Natur aus gleich veranlagt sind. Das Auftreten geschlechtstypischen Verhaltens wird ausschließlich soziokulturellen Effekten zugeschrieben, unter deren Einfluss Kinder allmählich in ihre Rolle als Mann oder Frau hineingeformt würden.
Bei den lerntheoretischen Erklärungen lassen sich zwei Stoßrichtungen unterscheiden. Die eine steht in der Tradition des Verstärkungslernens. Geschlechtsunterschiede entstehen ihr zufolge durch Belohnung und Bestrafung. Der zweite Ansatz rückt die Wirkung von Modellen und das Nachahmungslernen in den Vordergrund; man bezeichnet diese Richtung als Theorie des sozialen Lernens.
Für das Verstärkungslernen beruht soziale Rollenübernahme darauf, dass entsprechende Verhaltensweisen andressiert werden. Man nimmt an, dass die Erwartungen, die sich in den Geschlechtsstereotypen einer jeden Kultur niederschlagen, als Leitbild für das Erziehungsverhalten dienen. Die Konditionierung stellt man sich als eine Art »shaping« vor, also ein Vorgehen in kleinsten Schritten. Jede Verhaltensandeutung in Richtung des Leitbilds wird belohnt, während Tendenzen in die gegengeschlechtliche Richtung entweder nicht zur Kenntnis genommen oder bestraft werden.
Da die Überzeugung, Geschlechtsunterschiede seien ausschließlich ein Lernprodukt, in diesem Theorieansatz als Nullhypothese gilt, hält man es nicht für nötig, sich Gedanken darüber zu machen, ob diese Annahme je bewiesen wurde. Häufig begnügt man sich mit dem Hinweis, Jungen und Mädchen würden ja von Geburt an unterschiedlich behandelt, also verstehe es sich von selbst, warum sie verschieden sind. Wir werden diesen Annahmen in den folgenden Abschnitten noch auf den Grund gehen. Dabei wird sich zeigen, dass man bei genauerer Sichtung der empirischen Befundlage keineswegs den Eindruck gewinnt, Lob und Tadel hätten wirklich das Gewicht bei der Geschlechterdifferenzierung, das ihnen unterstellt wird. Bereits Maccoby und Jacklin haben in subtiler Weise die Probleme artikuliert, vor die man gestellt wird, wenn man ausschließlich der Konditionierungshypothese folgt (Maccoby & Jacklin, 1974). Generell monieren sie, dass die Wirksamkeit geschlechtstypischer Verstärkung häufig nur innerhalb eines Geschlechts geprüft wird. Man stellt dabei fest, welche Erziehungspraktiken ein als geschlechtstypisch geltendes Merkmal besonders prägnant hervortreten lassen und generalisiert daraus, dass die entsprechende Praxis überhaupt die Ursache für das Merkmal sei.
Wie problematisch ein solches Vorgehen sein kann, demonstrieren die Autorinnen an folgendem Beispiel: Eine stark strafende Erziehungshaltung begünstigt nachweislich Verhaltensweisen, die dem femininen Stereotyp zugehören, und zwar gleichermaßen bei Jungen wie bei Mädchen. Strafe »verweiblicht« also. Geht man nun davon aus, dass beide Geschlechter von Natur aus gleich sind, dann läge es nahe zu erwarten, dass Mädchen sich deshalb femininer als Jungen verhalten, weil sie von den Eltern häufiger gestraft werden. Tatsächlich war früher aber das genaue Gegenteil der Fall, wobei sich heute die Erziehungspraxis der Eltern wohl eher angeglichen hat (Endendijk, Groeneveld, Bakermans-Kranenburg & Mesman, 2016).