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5.6 Annahmen über die »Natur« der Geschlechter

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Wenn nun bei den Erziehungsagenten das Bedürfnis, die Kinder den Geschlechtsstereotypen gemäß zu erziehen, nicht besonders ausgeprägt zu sein scheint, welche anderen Faktoren könnten die Erziehungsleitbilder beeinflussen? Das häufig vorgebrachte Argument, Jungen und Mädchen würden unterschiedlich behandelt, also verstehe sich von selbst, dass die Unterschiede sozialisiert seien, hat Maccoby und Jacklin veranlasst, einmal ganz prinzipiell der Frage nachzugehen, wie geschlechtsdifferenzierende Erziehung überhaupt motiviert sein könnte. Und dabei kommen sie zu dem Schluss, dass die Eltern nicht notwendigerweise von Anlagegleichheit ausgehen müssten, sondern ebenso gut auch eine unterschiedliche Veranlagung annehmen könnten. Diese Möglichkeit veranlasste die Autorinnen zur Formulierung folgender Hypothese (Maccoby & Jacklin, 1974):

Eltern und Erzieher lassen sich von bewussten Annahmen über die »Natur« der Geschlechter leiten.

Was dabei unter der »Natur« oder dem »Wesen« der Geschlechter verstanden wird, dürfte sich weitgehend mit den Stereotypen und den traditionellen Geschlechtsrollenvorstellungen decken. Die »naive« Alltagspsychologie tendiert nämlich eher dazu, Geschlechtsunterschiede als veranlagt denn als soziokulturell bedingt anzusehen. Die Erziehungspraxis wird in diesem Fall also zwar von den gleichen Stereotypen bestimmt, nur wirken diese sich ganz anders aus, als wenn unterstellt wird, die Geschlechter seien von der Veranlagung her gleich.

Eltern und Erzieher, die mit der »Natur« der Geschlechter rechnen, gehen mehr oder weniger explizit davon aus, das Kind neige aufgrund seines Geschlechts zu bestimmten Verhaltensweisen und habe infolgedessen einerseits gewisse Stärken, andererseits aber auch Schwachstellen. So hört man vielfach, Jungen »seien halt« aggressiv und Mädchen ängstlich. Nun wird häufig argumentiert, solche Erwartungen wirkten sich im Sinne einer self-fulfilling prophecy notwendigerweise dahingehend aus, dass entsprechende Eigenschaften auch bekräftigt würden. Dabei übersieht man, dass auch genau das Gegenteil eintreten kann. Je nach Gewicht und Wertung, die Eltern einem durch Veranlagung bedingten Verhalten beimessen, werden sie entweder bemüht sein, es besonders zu unterstützen, oder aber auch, ihm gegenzusteuern. Und schließlich wäre denkbar, dass sie den Dingen einfach ihren Lauf lassen.

In einer kanadischen Untersuchung kamen entsprechende Einstellungen zur Natur der Geschlechter und ihre Konsequenzen für die Erziehungshaltung recht gut zum Ausdruck (Lambert et al., 1971). Die Untersuchung liegt 50 Jahre zurück, dennoch zeichnen sich bereits Tendenzen darin ab, von denen wir annehmen können, dass sie heute noch stärker zum Tragen kommen.

Eltern von sechsjährigen Jungen und Mädchen wurden zunächst befragt, wie sie ihre Kinder einschätzten, welche Eigenschaften sie ihnen zuschrieben. Dann sollten sie angeben, welche Eigenschaften sie für sie wünschten. Die Charakterisierungen entsprachen ganz den gängigen Stereotypen; Buben wurden als rauer im Spiel beschrieben, als lauter, besser in der Lage, sich zu verteidigen, körperlich aktiver, kompetitiver, mehr in Gefahr involviert und mehr an Mechanik interessiert. Außerdem meinten die Eltern von Jungen öfter, diese verdienten eine Strafe. Mädchen wurden als hilfsbereit im Haushalt charakterisiert, als sauber und ordentlich, ruhig und zurückhaltend, einfühlsam, gut erziehbar, weinerlicher, leichter geängstigt und schwatzhaft.

Lässt man nun die Eigenschaften Revue passieren, die sich die Eltern für ihre Kinder wünschten, dann ergab sich für beide Geschlechter weitgehend das gleiche Profil. Dessen Bestandteile rekrutierten sich gleichermaßen aus den positiv bewerteten Merkmalen des männlichen wie des weiblichen Stereotyps. Beide Geschlechter sollten hilfsbereit sein, sauber und ordentlich, selbstständig für sich sorgen können, nicht so leicht ärgerlich werden, sich nicht auf etwas Gefährliches einlassen, Rücksicht auf andere nehmen, sich verteidigen können und kompetitiv sein.

In einer Studie aus dem Jahre 2006 zeichnet sich ein ähnliches Bild ab. Die Eltern stellen sich positiv zu einigen eher männlichen Eigenschaften für ihre Mädchen und manche wünschen sich auch Empathie, Hilfsbereitschaft und Beteiligung an der Hausarbeit bei ihren Jungen, lehnen allerdings feminine Verhaltensweisen bei letzteren mehrheitlich strikt ab, vor allem solche, die auf Homosexualität hinweisen könnten (Kane, 2006). Gemäß den Befunden scheinen die Eltern die Einstellung zu haben, dass sie von einem unterschiedlichen »Ausgangsmaterial« ausgehen, das sie dann aber auf ein gar nicht so unterschiedliches Ziel hin formen wollen. Würde es gelingen, solche Wunschvorstellungen effizient zu realisieren, dann wäre eine Angleichung der Geschlechter durchaus denkbar. Bis zu einem gewissen Grad zeichnet sich eine solche Tendenz (Todd et al., 2018), heute ja auch tatsächlich ab, wenn wir die Gegenwart mit den traditionellen Verhältnissen vergleichen, die noch vor einigen Jahrzehnten vorherrschten. Jungen sind zwar nach wie vor stark geschlechtsstereotyp in der Spielzeugpräferenz orientiert, aber doch eher mal bereit, auch mit Mädchenspielsachen zu spielen.

Wenn es nun aber zutrifft, dass Eltern von der Veranlagung bestimmter Eigenschaften ausgehen, dann ist zu erwarten, dass sie sich weniger Mühe geben, diese auch noch nachdrücklich anzuerziehen. Andererseits liegt es nahe, dass sie positive Eigenschaften, von denen sie annehmen, dass sie nicht in der Natur des Geschlechts liegen, besonders unterstützen. Ferner wäre damit zu rechnen, dass sie weniger erwünschten Anlagen bewusst gegensteuern. So würden die Eltern beispielsweise erhöhte Aggression bei Jungen zwar für geschlechtstypisch halten, ohne aber auf die Idee zu kommen, sie müssten sie ausdrücklich fördern.

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