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5.8 Baby-X-Studien
ОглавлениеDie gerade aufgeworfene Frage, ob die Geschlechtsunterschiede vielleicht in Wirklichkeit nur auf einer Wahrnehmungstäuschung beruhen, wurde in den 70er Jahren zu einem beliebten Forschungsgegenstand. Man bezeichnet entsprechende Untersuchungen als »Baby-X-Studien«. Die eigentümliche Bezeichnung rührt von dem typischen Design dieser Untersuchungen: Die Teilnehmer wurden, wie in der Studie von Meyer und Sobieszek, mit einem geschlechtsneutral gekleideten, einige Monate alten Jungen oder Mädchen konfrontiert (Seavey et al., 1975; Condry & Condry, 1976). Einem Teil der Stichprobe gab man das richtige Geschlecht des Kindes an, einem anderen Teil das falsche. Die Teilnehmer mussten, wie in der Studie von Meyer und Sobieszek, die Reaktionsweisen des Kindes charakterisieren und erhielten außerdem Spielsachen, die sie beim Spiel mit dem Kind einsetzen sollten.
Ziemlich regelmäßig stellte sich dabei heraus, dass die Erwachsenen ein als geschlechtsangemessen geltendes Spielzeug auswählten, also etwa eine Puppe, wenn sie dachten, es handle sich um ein Mädchen oder ein Auto, wenn sie einen Jungen vor sich glaubten. Das tatsächliche Geschlecht des Kindes spielte bei dieser Wahl keine Rolle. Bei einigen Untersuchungen stuften die Erwachsenen auch das Verhalten stereotypgemäß entsprechend der Geschlechtsbezeichnung ein, und zwar auch dann, wenn das Kind in Wirklichkeit dem anderen Geschlecht angehörte. So bezeichneten sie beispielsweise ein Kind, dass ablehnend auf einen Kastenteufel reagierte, als ängstlich, wenn sie es für ein Mädchen hielten, und als ärgerlich, wenn sie glaubten, es sei ein Junge. Das Ergebnis scheint bei erstem Hinblick der Annahme Vorschub zu leisten, die Wahrnehmung von Geschlechtsunterschieden hätte keine reale Grundlage, sondern sei wirklich nur durch die Erwartungen der Beurteiler bestimmt.
Stern und Karraker (1989) haben in einem Übersichtsartikel 23 Baby-X-Studien einer Gesamt-Evaluation unterzogen. Bei der Auswertung wurden drei Aspekte des Verhaltens der Erwachsenen unterschieden: Zuordnung von Merkmalen (z. B. laut, freundlich, kooperativ), Interaktionsstil und Spielzeugauswahl. In Bezug auf die Zuweisung von Merkmalen ließ sich kein signifikanter Zusammenhang mit dem angegebenen Geschlecht des Kindes feststellen, die Erwachsenen urteilten also nicht durchgängig stereotypengemäß. In einer Studie von Burnham und Harris wurden Jungen zum Beispiel eindeutig als stärker und weniger sensibel eingeschätzt, auch wenn sie den Beurteilern als Mädchen vorgestellt worden waren (Burnham & Harris, 1992). In der Interaktion und in der Spielzeugwahl richteten sich die Erwachsenen dagegen tatsächlich überwiegend nach dem angegebenen Geschlecht und spielten mit Kindern, die sie für Mädchen hielten, fürsorglicher und zugewandter, während als Jungen bezeichnete Kinder mehr körperliche Stimulation erhielten und mehr zu Aktivität ermuntert wurden. Die Erwachsenen zeigten also genau das Verhalten, das dem Stereotyp entsprach.
Es wäre allerdings unzulässig, aus diesem Befund – wie es seitdem vielfach geschieht – abzuleiten, Eltern verhielten sich nur deshalb anders gegenüber Jungen als gegenüber Mädchen, weil sie das Geschlecht ihres Kindes kennen. Zwar trifft es zu, dass sie schon bei der Geburt einen Jungen als größer und stärker einschätzen, ein Mädchen dagegen als kleiner und zarter, obwohl dies nicht der Realität zu entsprechen braucht; sie gehen also unter Umständen tatsächlich mit Vorurteilen an ihre Kinder heran. Deshalb kann man ihnen aber noch nicht unterstellen, sie setzten in ihrem Verhalten wie seelenlose Roboter lediglich das um, was sie für geschlechtsadäquat halten. Die Baby-X-Studien unterscheiden sich nämlich in einer wesentlichen Hinsicht von der tatsächlichen Eltern-Kind-Interaktion: Es handelt sich bei den vorgestellten Babys um fremde Kinder.
Nun wird jeder einigermaßen sensible Erwachsene, der zum ersten Mal mit einem ihm nicht bekannten Kind zu tun hat, unsicher sein, wie er bei diesem »ankommt«, und erst einmal mit einer »Arbeitshypothese« an es herangehen. Dabei ist die Kenntnis des Geschlechts natürlich ein wichtiger Hinweis. In den Baby-X-Studien waren die Interaktionen von kurzer Dauer; die Untersucher kamen nicht auf den Gedanken, dass es interessant sein könnte, wie die Erwachsenen sich nach einer Weile verhielten, nachdem sie erst einmal eine Zeit lang Erfahrungen mit dem Kind gemacht hatten. Es ist kaum vorstellbar, dass sie das stereotypgemäße Verhalten beibehalten hätten, wenn sie damit nicht »gelandet« wären. Wenn man mit einem Kind herumtoben will, weil man es für einen Jungen hält, und es reagiert zögerlich, dann wird man sehr schnell dazu übergehen, sich zurückzunehmen. Diese Möglichkeit wurde aber eben bezeichnenderweise nie untersucht; man war wohl zu sehr davon überzeugt, dass Geschlechtsunterschiede von außen herangetragen würden, um zu erwägen, dass die Kinder selbst die Interaktion mitbestimmen könnten. Konkret sieht es doch wohl so aus, dass Kinder ihrerseits ein Verhaltensangebot machen, auf das der Erwachsene dann einzugehen versucht. Für diese Möglichkeit sensibilisiert, bemerken Susan Golombok und Robyn Fivush:
»In real life situations, where the actual and the labeled gender are the same, differential interactions with male and female babies most likely result from an interaction between adults’ gender stereotypes and real differences between female and male babies.« (Golombok & Fivush, 1994, S. 27; vgl. auch Maccoby, 2000)