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6.6 Wirklichkeit und Schein
ОглавлениеEine ganz andere Frage ist es, ob die fehlende Geschlechtskonsistenz vielleicht ein Scheinproblem darstellt, das in erster Linie methodisch begründet sein könnte. Wenn ein Junge es für möglich hält, durch den Wechsel äußerer Attribute in den Mädchenstatus zu gelangen, woher wissen wir, ob er wirklich glaubt, in das andere Geschlecht übergewechselt zu sein? Es wäre ja auch denkbar, dass er das Ganze so versteht, als sei er nur einmal in die andere Rolle geschlüpft. Erhält der Versuchsleiter auf die Frage »Wenn Otto ein Kleid anzieht und sich die Haare lang wachsen lässt, ist er dann ein Mädchen?« vom Versuchskind eine bejahende Antwort, wie können wir dann eindeutig entscheiden, ob es wirklich annimmt, Otto sei ein Mädchen? Könnte es nicht genauso gut denken, Otto sei so wie ein Mädchen, erscheine wie ein Mädchen, sehe so aus, sei aber natürlich nicht wirklich und wahrhaftig ein Mädchen? Ganz ausschließen ließe sich ein solches Missverständnis doch wohl nicht und wenn man versucht, durch entsprechende Nachfragen der Sache auf den Grund zu gehen (»Ist es jetzt wirklich ein Mädchen?«), erhält man kaum die gewünschte Auskunft, sondern verwirrt allenfalls die Kinder.
Nun wissen wir aus Untersuchungen in ganz anderen Bereichen, dass Kinder bis zum Alter von vier Jahren angesichts bestimmter Wahrnehmungstäuschungen die Unterscheidung von Wirklichkeit und Schein noch nicht treffen können. Einen als Stein angemalten Schwamm etwa halten sie selbst dann noch für einen Stein, wenn sie ihn in die Hand nehmen und merken, dass er viel zu leicht und weich ist. Für sie fällt Erscheinung und Wesen also untrennbar zusammen; sie begreifen noch nicht, dass etwas nur so aussehen kann wie ein Stein, ohne wirklich einer zu sein (Flavell et al., 1983). Erst wenn sie über eine Theory of Mind verfügen, also über mentale Prozesse nachdenken können, ist ihnen auch diese Unterscheidung möglich (Bischof-Köhler, 2011).
Der Entwicklungspsychologe Martin Trautner ist der Frage, wieweit die Unterscheidung von Wirklichkeit und Schein das Verständnis der Geschlechtskonsistenz beeinflusst, genauer nachgegangen (Trautner et al., 2003). Das Ergebnis war eindeutig: Nur Kinder, die Wirklichkeit und Schein unterscheiden konnten, zeigten auch Geschlechtskonsistenz, hielten also eine Veränderung der Form nicht mehr für ausreichend, um das Geschlecht zu wechseln. In einer eigenen Untersuchung konnten wir dieses Ergebnis bestätigen (Bischof-Köhler & Bischof, 1996).
Vor dem Hintergrund dieser Befunde scheint es mehr als fraglich, ob Kinder, die Wirklichkeit und Schein noch nicht unterscheiden können, überhaupt in der Lage wären, bei entsprechender Bekleidung nur vorzugeben, sie seien ein Junge oder ein Mädchen, oder vielleicht auch ein Tiger, sich dabei aber bewusst zu bleiben, dass sie das »nur denken«, dass sie nur so tun »als ob«.