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6.7 Invarianz
ОглавлениеTatsächlich hat das Verhaftetsein im Augenscheinlichen bei den Drei- bis Fünfjährigen weiterreichende Implikationen. Es betrifft nämlich die Weise, wie Kinder dieses Alters Identität überhaupt verstehen – oder genauer ausgedrückt – die Invarianz der Identität. Die Kinder begreifen generell noch nicht, dass die Identität eines Dinges erhalten bleiben kann, auch wenn sich seine äußere Erscheinung verändert. Piaget belegte dies experimentell in seinen klassischen Versuchen zur »Konservierung«, wie er die Invarianz auch nannte. Wenn man vor den Augen eines vierjährigen Kindes ein Glas Wasser in eine höheres, aber schmaleres Gefäß umfüllt und fragt, ob es immer noch gleichviel Wasser sei, dann wird man die Antwort erhalten, es sei mehr geworden, denn es sei ja jetzt höher. Das Kind wird sogar noch weiter gehen und behaupten, das sei gar nicht mehr dasselbe Wasser, weil es jetzt ja anders aussähe.
Entsprechendes gilt auch für Personen. Ändern sie ihre äußere Erscheinung, so verlieren sie, wie im Beispiel des kleinen Möchtegern-Tigers, unter Umständen ihre Identität. Dieser Fehlschluss kann bis ins Schulalter andauern. So berichtete einer meiner Studenten, der neben dem Studium eine Schulklasse von Siebenjährigen unterrichtete, folgendes Erlebnis:
Er hatte am sechsten Dezember einen Freund mitgebracht, der für die Klasse den Nikolaus spielen sollte. Der Freund verkleidete sich vor den Augen der Kinder zum Nikolaus, ging dann kurz aus dem Raum und kehrte mit dem für Nikoläuse üblichen Gepolter zurück. Die Kinder waren gebührend beeindruckt, obwohl sie eigentlich wussten, wer unter der Verkleidung steckte. Als der Freund schließlich nach seinem Abgang als Nikolaus wieder in normalem Anzug in die Klasse zurückkam, berichtete ihm ein kleines Mädchen mit strahlenden Augen, aber Bedauern in der Stimme, es sei so schade, dass er nicht da gewesen sei, der Nikolaus hätte sie gerade besucht, es wäre toll gewesen und das hätte er jetzt versäumt.
Wenn Kinder annehmen, durch Änderung der Erscheinung ihr Geschlecht ändern zu können, dann ist dies also nur einer generellen Entwicklungsbesonderheit zuzuschreiben. Kohlberg hat diese Zusammenhänge als Erster experimentell überprüft und bestätigen können. Er stellte den Kindern Fragen von der Art:
»Kann ein Hund eine Katze sein, wenn er will?«– »Ist eine Katze, der man die Schnurrhaare abschneidet, ein Hund?« Die jüngeren Kinder der Stichprobe hielten die entsprechenden Identitätswechsel für möglich. Den gleichen Versuchskindern wurden sodann einige der klassischen Piaget’schen Aufgaben zur »Erhaltung der Identität« vorgelegt. So bog Kohlberg etwa vor den Augen der Kinder ein Stück Draht und fragte sie, ob es noch derselbe Draht sei. Auch dies verneinten die jüngeren Kinder; die Identität war für sie durch die Formänderung verloren gegangen. Die Leistungen in diesen Bereichen korrelierten nun ziemlich eindeutig mit der Konstanz der Geschlechtsidentität (Permanenz und Konsistenz)bei Sechs- bis Siebenjährigen.
Neuere Untersuchungen präzisierten den Zusammenhang dahingehend, dass die Erhaltung der Identität in den übrigen kognitiven Bereichen etwas früher aufzutreten scheint als die Geschlechtskonsistenz, dieser also vorausgeht (Marcus & Overton, 1978).
Wenn die Geschlechtsidentität in den ersten Lebensjahren also noch labil ist, so handelt es sich nicht um eine Abnormität oder um einen Erziehungsfehler der Eltern. Wir haben es vielmehr mit einer Besonderheit der kognitiven Entwicklung zu tun, die darauf beruht, dass die Kinder das eigentliche Kriterium für die Invarianz der Identität noch nicht richtig erfassen. Prinzipiell gibt es zwei Möglichkeiten, woran man die Identität eines Objektes festmachen kann, nämlich die Form und die Substanz. Wenn ich aus einem Klumpen Ton einen Teller forme und diesen, bevor er getrocknet ist, in eine Tasse umwandle, dann habe ich die Identität des Tellers durch Veränderung der Form in die einer Tasse übergeführt. Beachte ich dagegen die Stoffgrundlage, dann ist es natürlich derselbe Ton geblieben, an seiner Identität hat sich nichts geändert. Erst Fünfjährige beginnen zu begreifen, dass die Substanz (der Stoff) der eigentliche Träger der Identität ist. Es ist dasselbe Wasser geblieben, auch wenn es in dem neuen Glas anders ausschaut, ebenso wie unser kleiner Tiger immer noch ein kleiner Junge ist, und dies auch bliebe, wenn er sich Mädchenkleider anziehen würde.