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5.7 Bezugssysteme

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Damit ist bereits eine weitere, ebenfalls von Maccoby erwogene Möglichkeit angesprochen, wie sich explizite Annahmen über das Wesen der Geschlechter im Erziehungsverhalten auswirken könnten. Gehen wir einmal davon aus, Eltern würden immer nur dann erzieherisch tätig, wenn das Verhalten ihres Kindes von der Norm abweicht. Vorausgesetzt wären also ganz bestimmte Erwartungen, wie ein Junge oder ein Mädchen sich verhalten sollte. Benimmt sich das Kind entsprechend, dann wird es weder gelobt noch getadelt. Tritt dagegen unerwartet eine Verhaltensweise auf, die zwar nicht dem Stereotyp entspricht, aber dennoch erwünscht ist, verhält sich ein Junge also etwa hilfsbereit, dann würde Lob gespendet. Handelt es sich indessen um ein gegengeschlechtliches Verhalten von geringer Wertschätzung, reagiert ein Junge also beispielsweise ängstlich, dann würde er getadelt.

Die Realität spricht indessen kaum dafür, dass mit einer solchen elterlichen Erziehungspraxis stereotypgemäßes Verhalten zu sichern wäre. Sie würde die Stereotype nämlich nur dort stützen, wo das Kind von ihnen in negativ bewerteter Richtung abweicht. Positiv bewertete Abweichungen aber würden gerade umgekehrt zu einer Einebnung der Unterschiede führen, denn sie würden nur verstärkt, wenn sie beim Gegengeschlecht auftreten.

Ein ganz anderer Aspekt, der in diesem Zusammenhang auftaucht, betrifft die Frage, was die Sozialisationsagenten eigentlich als die Norm ansehen. Ist diese in Bezug auf beide Geschlechter die gleiche, gibt es also ein einheitliches Bezugssystem, innerhalb dessen eine bestimmte Verhaltensweise bei einem Mädchen genauso wahrgenommen wird wie bei einem Jungen, oder existieren geschlechtsspezifische Bezugssysteme, die Verhalten vom gleichen Ausprägungsgrad unterschiedlich erscheinen lassen, je nachdem bei welchem Geschlecht sie auftreten? Wenn Letzteres der Fall wäre, dann müssten auch die Toleranzschwellen divergieren. Gingen Eltern also beispielsweise von der Erwartung aus, Jungen seien aggressiver als Mädchen, dann wäre eine mögliche Konsequenz, dass sie das gleiche Ausmaß an Aggression bei einem Jungen noch tolerierten, das sie bei einem Mädchen bereits veranlassen würde, die Stirn zu runzeln.

Eine Untersuchung von Meyer und Sobieszek (Meyer & Sobieszek, 1972) ist dieser Frage genauer nachgegangen. Den Probanden wurden Videofilme von zwei geschlechtsneutral gekleideten Kindern gezeigt und die Beobachter sollten das Verhalten der Kinder charakterisieren. Die eine Gruppe der Beurteiler erhielt die Information, das eine Kind sei männlich, das andere weiblich, für die andere Gruppe wurden die Kinder mit dem Gegengeschlecht bezeichnet.

Hätten sich die Beurteiler nach den Geschlechtsstereotypen gerichtet, dann wäre zu erwarten gewesen, dass ein als Mädchen gekennzeichnetes Kind bereitwilliger als ängstlich und kooperativ und seltener als aggressiv und selbstständig eingestuft worden wäre. Umgekehrt sollte bei einem als Junge bezeichneten Kind eher das Urteil aggressiv auftreten. Tatsächlich wurden die Beurteilungen genau im entgegengesetzten Sinn abgegeben. Tobte sich ein als Mädchen bezeichnetes Kind in wildem ungehemmtem Spiel aus, dann galt es als aggressiv. Hielten die Teilnehmer an der Untersuchung das gleiche Kind dagegen für einen Jungen, dann beurteilten sie es als lebhaft, nicht aber als aggressiv. Das Ergebnis spricht also dafür, dass unterschiedliche Bezugssysteme für die Beurteilung von Jungen und Mädchen bestehen und man bei Jungen in Bezug auf Aggression toleranter ist und diese weniger zur Kenntnis nimmt.

Ergebnisse dieser Art mögen zu der Annahme verleiten, Jungen und Mädchen verhielten sich in Wirklichkeit gar nicht unterschiedlich. Dieser Schluss wäre aber kurzsichtig, wie folgende Überlegungen verdeutlichen mögen: Es ist ja nicht von vorneherein ausgeschlossen, dass sich ein Großteil der Jungen in der Realität wirklich wilder und ungehemmter im Spiel gebärdet. Hat man dergleichen erst einmal wiederholt beobachtet, dann bildet sich natürlich berechtigtermaßen die Erwartung aus, dass Jungen wilder und ungehemmter sind. Nehmen wir nun einmal an, man bekommt in einem Versuch der gerade geschilderten Art das Verhalten eines tatsächlichen Jungen als das eines Mädchens vorgespielt. Da es eher unwahrscheinlich ist, dass man ein solches Verhalten vorher häufig bei Mädchen beobachtet hat, wird man also begründetermaßen irritiert sein.

Nun könnte man sich mit der Erklärung zufriedengeben, die Irritation rühre daher, dass das Verhalten nicht ins Rollenklischee passe. Damit kommen wir aber an den kritischen Punkt, an dem wir fragen müssen, ob Rollenklischees eigentlich wirklich nur willkürliche Setzungen sind, die nichts mit der Realität gemein haben, oder ob sie nicht etwas nachzeichnen, das in Wirklichkeit auch beobachtbar ist. Die der Erfahrung des Einzelnen entspringenden Erwartungen müssen ja nicht deshalb unzutreffend sein, weil sie außerdem dem Rollenklischee entsprechen. Wenn jemand gleichwohl darauf beharrt, der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen sei nur eine Angelegenheit der Perspektive, und diese sei gesellschaftlich konstruiert, dann wird man ihnen entgegenhalten müssen, dass sie die Augen möglicherweise ganz fest vor der Realität verschließen, die sich eben nicht beliebig umdeuten lässt.

Von Natur aus anders

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