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6.2 Zum Begriff »Identität«

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Gemäß den Stufen, die Kohlberg postuliert, lassen sich verschiedene Entwicklungsbereiche unterscheiden. Ein zentrales Thema, aus dem sich letztlich die gesamte weitere Entwicklung herleitet, ist bei ihm das Verständnis der Geschlechtszugehörigkeit und der Geschlechtsidentität. Das nachfolgende Beispiel möge zur Einstimmung eine Vorstellung davon vermitteln, wie komplex dieses Verständnis ist und welche Schwierigkeiten in seinem Zusammenhang auftreten können.

Ein Vierjähriger war zu einem Faschingsfest eingeladen worden und hatte unbedingt als Tiger verkleidet gehen wollen. Die Mutter hatte ihm ein herrliches Tiger-Gewand genäht: Stolz zog er ab, klingelte an der Haustür des Freundes, wo das Fest stattfand. Die Haushälterin öffnete und begrüßte ihn mit den Worten: »Ja, da kommt ja der Tiger«. Dies hatte den unerwarteten Effekt, dass unser Held laut zu weinen begann, das Kostüm schleunigst auszog und sich lange nicht beruhigen konnte. Der Junge hatte wohl auf einmal geglaubt, tatsächlich ein Tiger zu sein und das wurde ihm dann doch zu viel – diesem Anzug war er buchstäblich »nicht gewachsen«.

Der Held der Geschichte hatte offensichtlich ein Problem mit seiner Identität. Um zu verstehen, wie es dazu kommen konnte, müssen wir uns etwas genauer mit diesem Begriff auseinandersetzen. Identität ist eine Wahrnehmungskategorie. Sie verbindet Phänomene, die zeitlich aufeinanderfolgen, in einer Weise, dass sie uns als »dasselbe« erscheinen, wir beziehen sie auf einen einzigen Träger. Dabei bedeutet »dasselbe« nicht notwendig »von der Erscheinung gleich«, wie das Märchen vom Frosch anschaulich bekundet, der sich in einen Prinzen verwandelt. Maßgeblich ist, dass beide demselben Schicksal unterworfen sind. Was der eine getan hat, muss der andere verantworten.

Identität hat also eine zeitüberbrückende Charakteristik. Der Zustand, in dem man sich augenblicklich befindet, schließt an die Zustände an, die man vorher einnahm und verweist auf zukünftige Zustände. Ferner ist mit der Identität das Bewusstsein der Einmaligkeit und Unverwechselbarkeit verbunden, und die Geschlechtszugehörigkeit gehört – von wenigen Ausnahmen abgesehen – als unveränderbares Merkmal zu diesem Identitätsbewusstsein.

Die Entwicklung der Geschlechtsidentität basiert auf zwei grundsätzlichen Voraussetzungen. Das Kind muss über ein Ich- Bewusstsein verfügen, damit es überhaupt die eigene Identität wahrnehmen kann, und es muss das Geschlecht richtig zuordnen können.

Um die Mitte des zweiten Lebensjahres reift die Vorstellungstätigkeit. Das Kind vermag nun die Wirklichkeit in der Fantasie nach- und umzubilden und so Probleme zu lösen. Hierzu bedarf es auch einer Repräsentation von sich selbst. Diese realisiert sich in Form eines bewusst reflektierbaren »Ich«. Der früheste Hinweis auf das Ich-Bewusstsein ist die Fähigkeit, das eigene Spiegelbild zu erkennen. Man weist dies dadurch nach, dass man dem Kind unbemerkt einen Farbfleck an der Wange anbringt und es dann in einen Spiegel schauen lässt. Reagiert es gar nicht auf den Fleck oder behandelt es sein Spiegelbild wie ein anderes Kind und versucht den Fleck bei dem »anderen« (also auf dem Spiegel) abzuwischen, dann erkennt es sich noch nicht. Berührt es dagegen den Fleck im eigenen Gesicht, bemüht es sich, ihn zu entfernen oder die Mutter dazu zu veranlassen, dann kann dies als Hinweis gewertet werden, dass es sich selbst erkennt. Es identifiziert die Person, die ihm im Spiegel entgegentritt, als die Außenseite, die zu ihm selbst gehört. Dabei handelt es sich beim Ich-Bewusstsein um einen kognitiven Neuerwerb der etwas qualitativ Neues darstellt und nicht unmittelbar aus der Fähigkeit im ersten Lebensjahr hervorgeht, sich als Initiator von Handlungen zu erkennen (Lewis & Brooks-Gunn, 1979; Amsterdam, 1972; Bischof-Köhler, 1989, 1994, 2011; Klein-Radukic & Zmyj, 2020). Dieses bewusst gewordene Ich stellt nun die Basis für das Identitätserlebnis dar. Das Kind versteht, dass es einen Namen hat, es lernt sich selbst mit »Ich« zu bezeichnen, es erlebt das Ich als Zentrum seines Wollens. Es lernt, dass ihm selbst bestimmte Eigenschaften und Leistungen zugehören und es begreift schließlich, dass es ein Geschlecht hat.

Um das eigene Geschlecht richtig zuzuordnen, muss es aber erst einmal verstanden haben, dass da zwei Alternativen zur Auswahl stehen. Diese Einsicht ist genau besehen eine recht anspruchsvolle kognitive Leistung. Das Kind muss nämlich begreifen, dass es zwei Sorten von Menschen gibt, unabhängig davon, dass diese sich auch sonst noch in vielerlei Hinsicht unterscheiden, also beispielsweise Kinder sind oder Erwachsene, Fremde oder Vertraute, Schornsteinfeger oder Busfahrer. Sodann muss es verstehen, dass es selbst notwendigerweise zu der einen oder der anderen Sorte gehört, aber eben nicht zu beiden gleichzeitig oder zu gar keiner. Auf Besonderheiten der Geschlechtsidentitätsentwicklung bei Kindern, die nicht mit ihrem anatomischen Geschlecht zufrieden sind, werden wir in Kapitel 18 ( Kap. 18) näher eingehen.

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