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6 Kohlbergs Alternative 6.1 Invariante Stufen der Entwicklung
ОглавлениеDer unbefriedigende Gesamteindruck, den die lerntheoretisch orientierten Positionen zur Entstehung geschlechtstypischen Verhaltens hinterlassen, hat einem dritten Theorieansatz Aufschwung gegeben, der mit dem Namen von Lawrence Kohlberg verbunden ist. Kohlberg wird eigentlich meist in einem anderen Zusammenhang zitiert; er hat sich eingehend mit der Entwicklung des moralischen Urteils beschäftigt und auf diesem Gebiet hohe Beachtung gefunden. Weniger bekannt ist, dass er auch eine Theorie zur Geschlechtsrollenübernahme formuliert hat, in der er explizit die Rolle des Verstärkungslernens und der Nachahmung relativiert (Kohlberg, 1966). In der konstruktivistischen Tradition Piagets stehend schlägt Kohlberg einen dritten Weg neben Freud und Lerntheorie ein: Er stellt die Eigenaktivität des Kindes beim Entwicklungsprozess in den Vordergrund.
Dementsprechend sieht er die Geschlechtsrollenübernahme in erster Linie als eine kreative Eigenleistung, die er folgendermaßen spezifiziert: Das Kind macht ganz zwanglos Erfahrungen mit dem Phänomen der Geschlechtlichkeit und verarbeitet diese, indem es nach Maßgabe seines jeweiligen kognitiven Entwicklungsstandes Gedanken über seine Beobachtungen anstellt. Dabei bildet es zunächst Vorstellungen über seine eigene Geschlechtszugehörigkeit und die anderer aus und bekommt sodann allmählich ein Bild von den Rollen, Erwartungen und moralischen Wertungen, die mit dem Geschlecht verbunden sind. Diese werden dann schließlich verhaltensbestimmend.
Ausgehend von dieser grundsätzlichen Annahme postuliert Kohlberg eine Abfolge charakteristischer Entwicklungsstufen im Prozess der Geschlechtsrollenübernahme. Diese Stufen folgen nach seiner Ansicht invariant aufeinander und bestimmen jeweils, wie einschlägige Erfahrungen verarbeitet werden.
Als Erstes nimmt das Kind gemäß dieser Theorie das eigene Geschlecht richtig wahr, es wird sich seiner Geschlechtsidentität bewusst. Ein Junge oder ein Mädchen zu sein, wird als Attribut des eigenen Selbst als etwas Wertvolles erfahren. In einem zweiten Entwicklungsschritt stellt das Kind dann fest, dass es Menschen gibt, die zum eigenen, und solche, die zum anderen Geschlecht gehören. Es kann also nun auch das Geschlecht anderer richtig bestimmen.
In der Folge beginnt es zu begreifen, dass bestimmte Verhaltensweisen und Dinge etwas mit der Geschlechtszugehörigkeit zu tun haben und somit eher »männlich« oder »weiblich« sind. So entdeckt das Kind, dass Männer bestimmte Tätigkeiten ausüben und Frauen andere und dass einige Spielaktivitäten und Spielsachen eher mit Jungen und andere eher mit Mädchen verbunden sind. Daraus entwickeln sich erste Stereotypen.
Die positive Bewertung der eigenen Geschlechtszugehörigkeit weitet sich auf die mit dem Geschlecht verbundenen Dinge und Tätigkeiten aus und natürlich auch auf die eigenen Geschlechtsgenossen. Das führt dazu, dass dem eigenen Geschlecht lauter positive Eigenschaften zugeschrieben werden, während das andere Geschlecht eine Abwertung erfährt. Alles, was mit dem eigenen Geschlecht zusammenhängt, wird für das Handeln zunehmend ausschlaggebend. Das Kind wählt also geschlechtsadäquates Spielzeug, bildet eine Präferenz für bestimmte Spiele aus und zieht Kinder seines Geschlechts als Spielpartner vor.
Tab. 6.1: Stufen der Geschlechtsrollenübernahme nach Kohlberg
Stufen der Geschlechtsrollenübernahme nach Kohlberg
Für Kohlberg ist die Entwicklung aber erst dann vollendet, wenn das Kind über Geschlechtskonstanz verfügt, also versteht, dass man das Geschlecht nicht nach Belieben wechseln kann. Jetzt erkennt es, mit welchem Elternteil es das Geschlecht teilt. Hierin sieht Kohlberg die Basis für die Identifikation mit dem Vater beziehungsweise der Mutter. Sie hat zur Folge, dass es vorzugsweise nur noch gleichgeschlechtliche Modelle nachahmt, während es vorher auch gegengeschlechtliche imitierte. Letzteres ist insofern sinnvoll, als auf diese Weise Wissen über gegengeschlechtliche Verhaltensweisen erworben wurde. Aber erst unter dem Eindruck der Geschlechtskonstanz erlebt das Kind das Stereotypenwissen als verbindlich. Es wählt jetzt nur noch Verhaltensweisen aus, die zur eigenen Geschlechtsrolle passen, und unterlässt das gegengeschlechtliche Verhalten als minderwertig, obwohl es über die entsprechenden Verhaltensmuster verfügt und sie auch ausüben könnte.
Soweit zunächst zu Kohlbergs Vorstellungen. Sie sind oben tabellarisch zusammengefasst ( Tab. 6.1). Die entscheidende Frage, die sich als Nächstes stellt, ist nun allerdings, wieweit sich der von ihm postulierte Entwicklungsverlauf empirisch bestätigen lässt. Tatsächlich hat kaum ein anderer Autor soviel empirische Forschungsaktivität angeregt wie Kohlberg. Den diesbezüglichen Befunden wollen wir im Folgenden genauer nachgehen.