Читать книгу Gesunde Ernährung heute und morgen - Dr. med. Jörn Klasen - Страница 29
Der Fette-Irrtum
ОглавлениеDie Bedeutung der Fette für unsere Gesundheit hat eine turbulente Geschichte mit vielen Irrtümern hinter sich. In den 1950er-Jahren herrschte in der westlichen Welt, vor allem in den USA, eine große Angst vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen, die zur häufigsten Todesursache aufgestiegen waren. Immer mehr Männer im besten Alter starben an plötzlichen Herzattacken. Auch der damalige US-Präsident Dwight Eisenhower erlitt 1955 öffentlich einen Herzinfarkt. Niemand wusste genau, was diese Herzattacken verursachte. Man brauchte dringend eine Erklärung und vor allem einen Schuldigen. Da kam der ehrgeizige Wissenschaftler Ancel Keys gerade recht. Mit seiner Sieben-Länder-Studie zeigte er, dass in den USA, wo Herzerkrankungen besonders häufig auftraten, auch der Konsum von gesättigten Fetten besonders hoch war, während zum Beispiel in Italien und Japan wenig gesättigte Fette gegessen wurden und auch weniger Menschen an Herzerkrankungen starben.77
Ohne die Ergebnisse ausreichend zu prüfen, sprangen alle auf diese Erklärung auf – die großen Gesundheitsinstitutionen genauso wie die Industrie. Fortan gab man den Fetten die Schuld an den Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die Lebensmittelindustrie erkannte schnell ihre Chance und flutete die Supermärkte mit unzähligen fettreduzierten Produkten – der Beginn einer gigantischen Erfolgsgeschichte für die kommenden Jahrzehnte.
Später stellte sich zwar heraus, dass Keys aus den Daten von insgesamt 22 Ländern nur die sieben Länder herausgesucht hatte, die seine Hypothese bestätigten. Aber da war es schon zu spät. Fette machen krank – dieses Dogma war bereits etabliert. Die Zuckerindustrie tat alles, was in ihrer Macht stand, um den Glauben daran zu fördern und damit erfolgreich von Zucker abzulenken, der bis dahin zu den Hauptverdächtigen gezählt hatte.
Es gab vor allem zwei starke Annahmen über Fette, die sich später als falsch erwiesen. Erstens: Fette machen dick. Man dachte damals, dass sich alle Kalorien im Körper gleich verhalten, und da Fette doppelt so viele Kalorien pro Gramm enthalten (9 kcal) wie Kohlenhydrate und Eiweiße (jeweils 4 kcal), schien es, als sage bereits der gesunde Menschenverstand: Fett macht fett. Das andere Dogma lautete, dass gesättigte Fettsäuren zu Herz-Kreislauf-Erkrankungen führen, so wie es Ancel Keys gezeigt hatte. Dabei war die gängige Meinung, dass gesättigte Fettsäuren den Cholesterinspiegel ansteigen lassen und sich Cholesterin in den Blutgefäßen ablagert. In der Folge würden die Arterien verstopfen und so Hirnschlag und Herzinfarkt verursachen. Heute weiß man, dass das Cholesterin aus der Ernährung eine viel kleinere Rolle spielt als damals gedacht. Dazu später mehr (► Seite 59).
Um Fettleibigkeit und Herzattacken vorzubeugen und entgegenzuwirken, empfahlen ab den 1950er- und 1960er-Jahren immer mehr Ärzte eine kohlenhydratreiche und fettarme Ernährung.78 In den 1980er- und 1990er-Jahren spitzte sich die Fettphobie noch weiter zu. Die Ernährungsempfehlungen der westlichen Länder simplifizierten die Low-Fat-Meinung immer stärker.79 Fette wurden verteufelt und aus der Ernährung verbannt. Jahrzehntelang futterten Menschen Unmengen von Nudeln, Brezeln und Toastbrot und wurden immer dicker und dicker. In den frühen 1980ern lag die Fettleibigkeitsrate, also die Rate derjenigen mit starkem Übergewicht, die sogenannte Adipositas, in den USA noch bei 10 Prozent. Heute ist sie auf 40 Prozent gestiegen.79 Bei den Kindern ist inzwischen jedes fünfte von krankhafter Fettleibigkeit betroffen.80 70 Jahre nach der Keys-Studie ist die Menschheit dicker als jemals zuvor. Erschreckende zwei Milliarden Menschen sind übergewichtig.4 Herz-Kreislauf-Erkrankungen sind immer noch die häufigste Todesursache und weltweit für ungefähr 30 Prozent der Todesfälle verantwortlich.81
Seit der Jahrtausendwende gibt es immer mehr große epidemiologische Studien, die zeigen, dass weniger die Fette, sondern vielmehr die Zucker und leicht verdaulichen Kohlenhydrate für die modernen Epidemien von Fettleibigkeit, Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen verantwortlich sind.82, 83 Heute sind die Fette rehabilitiert und viele gelten als gesund. Ein großer Schritt bestand darin, dass im Jahr 2015 die offiziellen Ernährungsrichtlinien der USA geändert wurden. Alle Warnungen und Beschränkungsempfehlungen für Cholesterin und Gesamtfett wurden gestrichen.84 Nur die Warnung vor gesättigten Fettsäuren und Transfetten blieb erhalten. Bis sich allerdings die Meinung in der breiten Öffentlichkeit korrigieren lässt, ist es noch ein langer Weg. Es gibt nach wie vor viele Menschen (darunter auch Ernährungsberater und Ärzte), die an der überholten Meinung festhalten und zu wenig wertvolle Fette zu sich nehmen beziehungsweise ihren Patienten empfehlen.