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Eiweiße und Gesundheit

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Im Vergleich zu Fetten und Kohlenhydraten, die abwechselnd immer wieder verteufelt wurden, haben Proteine einen viel besseren Ruf und spielen in den meisten Diäten eine wichtige Rolle. Auch viele Sportler schwören auf eine proteinreiche Kost, um ihre Leistungsfähigkeit zu steigern. Die Industrie nutzt dieses positive Image und bewirbt proteinreiche Lebensmittel als besonders gesund. So ist nach Angaben der Gesellschaft für Konsumforschung der Umsatz von proteinreichen Produkten 2020 im Vergleich zu 2019 um satte 26 Prozent gestiegen.

Proteinverdünnung in hoch verarbeiteten Lebensmitteln

Im Jahr 2005 formulierten zwei Forscher von der University of Sydney, Stephen J. Simpson und David Raubenheimer, erstmals ihre Hypothese von der Proteinverdünnung in unserer Ernährung.137 Viele der modernen, hoch verarbeiteten Lebensmittel werden mit ungesunden Fetten und schnell verdaulichen Kohlenhydraten angereichert und haben dadurch im Verhältnis einen kleineren Proteinanteil als wenig verarbeitete Lebensmittel. Die Proteine werden sozusagen „verdünnt“. Die Hypothese besagt, dass Proteine so wichtig für unser Überleben sind, dass wir erst satt sind, wenn wir ausreichend Proteine aufgenommen haben.137 Sättigungsgefühl und Proteinaufnahme hängen eng zusammen, wie viele Studien bestätigen.138 Die beiden Forscher nehmen an, dass wir uns auf der Suche nach ausreichend Proteinen, die unser Körper braucht, mit Fetten und Kohlenhydraten in den verarbeiteten Lebensmitteln überessen.139 Wir nehmen auf diese Weise ständig zu viel zu uns und sind trotzdem nie lange satt. Dieser Effekt könnte ganz erheblich zu der globalen Übergewichts- und Fettleibigkeitsepidemie beitragen.

Wer aus der These zur Proteinverdünnung nun den Schluss zieht, dass es gesund sei, ganz viel Eiweiß zu essen, hat sie gründlich missverstanden. Die Autoren betonen immer wieder ausdrücklich, dass es bei einer optimalen Ernährung vor allem um die ausgewogene Zusammensetzung der Lebensmittel geht.139 Wir sollten also abwechslungsreiche und unverarbeitete Lebensmittel essen. Dann nehmen wir auch die drei Hauptnährstoffe im richtigen Verhältnis zueinander auf und verhindern, dass wir ständig zu viel essen und trotzdem dauernd Heißhunger haben.

Helfen Proteine beim Abnehmen?

Im Alltag und in wissenschaftlichen Studien hat sich immer wieder bestätigt, dass man mit einer eiweißreichen Diät innerhalb von kurzer Zeit ziemlich viel Gewicht abbauen kann.140 Eine solche Diät sättigt, wirkt sich positiv auf den Blutzucker aus und hat eine bessere Energiebilanz als andere Diätformen.138 Sollten wir dann nicht alle viel mehr Protein essen? Nein, denn wie so oft gibt es eine Kehrseite. Eine proteinreiche Ernährung wirkt sich zwar positiv auf Gewicht und den Blutzucker aus, langfristig führt sie aber zu vorzeitiger Alterung und erhöht das Risiko für Krebs.141

Ein Zuviel an Proteinen ist gesundheitsschädlich

Durch zu viel Eiweiß geraten regulierende Stoffwechselmechanismen aus dem Gleichgewicht. Protein bedeutet immer Wachstum von Zellen. Dabei wachsen aber nicht nur Muskelzellen, sondern auch Zellen, die unserer Gesundheit schaden, wie Krebszellen. Einer der wichtigsten Altersforscher, Valter Longo von der University of Southern California, konnte mit seinem Team zeigen, dass ein hoher Proteinkonsum das Risiko für Krebs eindeutig erhöht.141 Eine eiweißreduzierte Kost hat dagegen eine lebensverlängernde Wirkung bei Mäusen142, 143 und auch beim Menschen.141 An diesen erstaunlichen Ergebnissen scheinen zwei bestimmte wachstumsregulierende Moleküle mit den kryptischen Namen mTOR und IGF-1 beteiligt zu sein.

Das Eiweiß mTOR (mammalian target of rapamycin) kommt in allen Zellen von Säugetieren vor. Es überwacht die Nahrungs- und Energieversorgung. Wenn genug Nahrung da ist, gibt es den Zellen das Signal zu wachsen. Umgekehrt signalisiert es bei Nahrungsmangel, dass sich Zellen seltener teilen, dafür aber alte Zellbestandteile repariert werden. In der heutigen Zeit, in der wir durchgehend Zugriff auf Nahrung haben und nie hungern, bekommen die Zellen also fortwährend Wachstumssignale. Damit bewirkt mTOR auch, dass Krebszellen wachsen. Möglicherweise erklärt das, warum Überernährung und Krebs zusammenhängen.144 Außerdem könnte es die gesundheitsfördernde Wirkung des Fastens erklären, denn mTOR aktiviert bei Nahrungsmangel die Autophagie und damit das Zellreparaturprogramm (► Seite 216).

IGF-1 (insulin-like growth factor 1) ist ebenfalls ein Eiweiß und gehört zu den Hormonen. Es ist strukturell dem Insulin sehr ähnlich und wie mTOR ein wesentlicher Faktor für die Steuerung des Zellwachstums. Es wird überwiegend in der Leber hergestellt und reguliert Wachstum, Differenzierung und Vermehrung von Zellen. Zwischen dem IGF-1-Spiegel und der Sterblichkeit ließ sich ein enger Zusammenhang herstellen.145 Ein erhöhter Eiweißkonsum hängt mit höheren IGF-1-Werten zusammen und diese erhöhen das Risiko für Krebs und andere chronische Erkrankungen – das ließ sich besonders für einen hohen Anteil von tierischem Protein in der Nahrung nachweisen.141

Eine erhöhte Proteinzufuhr steigert also den Level der Wachstumsfaktoren mTOR und IGF-1 und beschleunigt damit den Alterungsprozess und das Wachstum von Krebszellen. Über komplexe Stoffwechselprozesse sind mTOR und IGF-1 auch an der Entstehung von Übergewicht und Diabetes beteiligt. Positiv lassen sich die beiden Wachstumsfaktoren durch Kalorienreduktion beeinflussen, zum Beispiel mit Fasten.146, 147 Die Reduktion der Wachstumsfaktoren könnte ein wichtiger Mechanismus für ein gesundes, langes Leben sein.148

Sind pflanzliche oder tierische Proteine gesünder?

Wir Deutsche beziehen unsere Proteine vor allem aus tierischen Lebensmitteln wie Fleisch, Wurst, Milch, Käse und Butter. Seit vielen Jahren gibt es eine hitzige Debatte darüber, ob tierische oder pflanzliche Eiweiße gesünder für den Menschen sind. Grundsätzlich sind beide Eiweißarten aus den gleichen 20 Aminosäuren aufgebaut. Sie unterscheiden sich allerdings zum Teil erheblich in ihrer Zusammensetzung und darin, wie effizient sie zur Bildung von körpereigenem Protein genutzt werden können. Man nennt das die biologische Wertigkeit. Zur Berechnung wurde Volleiprotein willkürlich als Referenzprotein mit einer biologischen Wertigkeit von 100 festgelegt.47

Der Aufbau von tierischen Eiweißen ist menschlichen Eiweißen ähnlicher und dadurch haben diese Eiweiße eine besonders hohe biologische Wertigkeit. Aber auch zahlreiche pflanzliche Eiweißquellen können mit einer sehr guten Wertigkeit aufwarten. Dazu gehören Bohnen, Linsen, Soja, Leinsamen, Nüsse, Getreide, Buchweizen und Algen. Durch die geschickte Kombination von Lebensmitteln kann die Wertigkeit verbessert werden, sogar über 100. Kombiniert man Ei und Kartoffeln, kann man zum Beispiel eine Wertigkeit von bis zu 136 erreichen47, Kartoffeln mit Rindfleisch weisen eine Wertigkeit von bis zu 114 auf. Auch rein pflanzliche Kom-binationen können mit einer hohen biologischen Wertigkeit überzeugen: Soja und Reis kombiniert, weisen Werte von bis zu 111 auf, der Mix aus Bohnen und Mais bis zu 99.

Viele Wissenschaftler und Ernährungsberater empfehlen wegen der hohen Wertigkeit, tierische Eiweißquellen für eine optimale Gesundheit zu nutzen. Der Langlebigkeits-Forscher David A. Sinclair ist Professor für Genetik an der Harvard Medical School und beschreibt in seinem Buch „Das Ende des Alterns“, dass wir die Aminosäuren aus tierischen Quellen zwar gut verwerten können, dass wir aber eindeutig weniger davon essen sollten, als wir es tun.149 Denn größere Mengen rotes oder verarbeitetes Fleisch (wie zum Beispiel Wurst) schaden unserer Gesundheit und wurden von der Weltgesundheitsorganisation als krebserregend eingestuft (► Seite 137). Viele Studien weisen nach, dass der hohe Konsum von tierischen Aminosäuren zu zahlreichen negativen Stoffwechselvorgängen und chronischen Krankheiten führt. Prof. Mingyang Song, ebenfalls von der renommierten Harvard Medical School in Boston, wertete Datensätze von 85.013 Frauen und 46.329 Männern aus. Danach zeigen Menschen, die mehr tierisches Eiweiß essen, ein deutlich höheres Sterblichkeitsrisiko als Menschen, die hauptsächlich pflanzliches Protein essen.150 Diverse Studien belegen außerdem, dass eine Ernährung, die vorwiegend aus pflanzlichen Proteinen besteht, für ein normales Körpergewicht vorteilhaft ist.151

Für eine ausgewogene Ernährung empfehlen wir:

►ein Drittel tierisches Eiweiß; dabei sollten Sie möglichst auf verarbeitetes Fleisch verzichten und helles Fleisch bevorzugen

►zwei Drittel pflanzliches Eiweiß aus Hülsenfrüchten wie Kichererbsen, Linsen und Bohnen, Nüssen und Vollkorngetreide

Lebensmittel tierischer Herkunft belasten Klima und Umwelt besonders stark. Auch deswegen sind pflanzliche Eiweißquellen zu bevorzugen. Allerdings zeigen Studien, dass viele Veganer deutlich weniger Eiweiße zu sich nehmen als Nicht-Veganer.152 Zudem können die Eiweiße, die sie essen, oft schlechter vom Körper verwertet werden. Veganer sollten daher auf einen ausreichenden Anteil an Eiweiß in ihrer Ernährung achten. Wie beschrieben, kann dabei die geschickte Kombination von Lebensmitteln die Bioverfügbarkeit optimieren.

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