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Stadtregiment

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Auf gleichberechtigter Einung beruhende Kommunen sind in Italien und Nordfrankreich zu Beginn des Hochmittelalters entstanden [↗ Städtische Genossenschaften]. Das theoretische Vokabular, um diese Genese zu reflektieren, bot erst zweihundert Jahre später die Übersetzung der aristotelischen Politik. Für Aristoteles ist die kommunale Selbstregierung die politische Organisation par excellence. Nur in der wechselseitigen Teilhabe an politischen Ämtern durch Rotation könne sich der Mensch voll in seinen Tugenden entfalten. Fremdregierung war für den griechischen Philosophen ein Grenzfall der politischen Ordnung. Im Mittelalter konnten die Verfechter des kommunalen Regiments an diese Gedanken anknüpfen. Der Florentiner Remigio dei Girolami († 1319) behauptete: „Wenn man nicht Bürger ist, ist man kein Mensch, weil der Mensch von Natur aus ein bürgerliches Wesen ist.“ Trotz dieses Anknüpfungspunkts waren die mittelalterlichen Gelehrten zu einigen Anpassungen der aristotelischen Theorie gezwungen. Erstens war für sie nicht mehr die Ämterrotation essentiell für eine demokratische Ordnung, sondern das aktive Wahlrecht und die durch Wahlen ermöglichte Teilhabe an politischen Entscheidungen. Denn der Bürger war zweitens nicht mehr wie bei Aristoteles von Arbeit freigestellt, sondern als Bürger galten selbstverständlich ebenso Kaufleute und Handwerker. Man unterschied daher in den Aristoteleskommentaren zwischen Vollbürgern, die unmittelbar Herrschaft ausübten, und Bürgern mit eingeschränkten Rechten, die vorwiegend passiv an der Selbstverwaltung beteiligt waren. Drittens trugen einige Theoretiker der Tatsache Rechnung, daß die mittelalterlichen Städte meist einer anderen Gewalt untergeordnet waren. Albertus Magnus († 1280) begriff zum Beispiel die drei Regierungsformen Monarchie, Aristokratie und Timokratie als hierarchisch aufeinander aufbauende Ordnungen. Die Monarchie ist im König repräsentiert, die Aristokratie in den städtischen Räten und die Timokratie in den wohlhabenden Bürgern. Ähnliche Konzeptionen sind auch in französischen Politik-Kommentaren vertreten worden.

Das kommunale Stadtregiment mit der von Aristoteles beschriebenen Demokratie zu identifizieren war also im Mittelalter durchaus gängig. Eine Ausnahme blieb es jedoch, diese Regierungsform gegen den allseits anerkannten Vorrang der Monarchie als beste Verfassung zu verteidigen. Dieses Wagnis ging allein der italienische Dominikaner Tomoleus von Lucca († 1326) ein. Tolomeus reduzierte die aristotelische Verfassungslehre auf zwei Alternativen: auf die bürgerliche und die despotische Herrschaft. Die Monarchie begriff er als Form der despotischen Herrschaft, die dann angebracht sei, wenn das Volk durch die fehlende Verfeinerung der Sitten nicht zur Teilhabe an Herrschaft geeignet sei. Handelt es sich dagegen um eine tugendhafte und gesittete Bevölkerung, sei allein eine bürgerliche Herrschaft gerechtfertigt. Die italienische Kommunalverfassung – geprägt durch Ämterrotation, befristete Amtszeiten und Beteiligung der gesamten Bevölkerung durch Wahlverfahren – identifizierte Tolomeus mit der Demokratie. Diese Verfassungsform glich er den Zuständen des Paradieses an und brachte damit einen bedeutenden Aspekt des kommunalen Selbstverständnisses zum Ausdruck. Das Stadtregiment wurde als „liebliche“ Herrschaft verstanden. Ambrogio Lorenzetti hat dieses Selbstverständnis in seinem Fresko des Buon governo in der Sala della Pace des Palazzo Pubblico von Siena (ca. 1338) bildlich umgesetzt.

Die Reflexion über das kommunale Stadtregiment hatte nach Tolomeus von Lucca auch weiterhin in Italien sein Zentrum. Der Dominikaner Heinrich von Rimini identifizierte das Regiment von Venedig als ideale Mischverfassung und sah darin den Grund für die kulturelle und wirtschaftliche Blüte der Handelsmetropole; Marsilius von Padua († 1342/43) ließ sich durch die Verfassung seiner Heimatstadt zu einer Theorie der Volkssouveränität und des demokratischen Verfahrens als Heilmittel für den Unfrieden seiner Zeit inspirieren; Leonardo Bruni († 1444) verteidigte als Kanzler von Florenz die kommunale Verfassung dieser Stadt, die er wie das antike Athen zur Heimat des demokratischen Regiments und der bürgerlichen Freiheiten erklärte. Diese Autoren bezogen sich besonders häufig auf die republikanischen Werte der römischen Antike: Freiheit von Despotie, demokratische Teilhabe am Staatsleben, Höherwertung des aktiven Lebens gegenüber der vita contemplativa, Selbstaufgabe für das Gemeinwesen. H. Baron gab dieser Bewegung den seither gebräuchlichen Namen „Bürgerhumanismus“ („civic humanism“).

KARL UBL

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