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SCRITTI POLITTIEarly [1978 / Rough Trade, 2004] Gerald Fiebig

Early ist eine Compilation der EPs, die Scritti Politti als Band − Nial Jinks (b), Tom Morley (dr), Green Gartside (git, voc) − 1978 und 1979 selbst veröffentlichten. Die letzten beiden Stücke, A- und B-Seite der Rough Trade-Single »The ›Sweetest Girl‹« (1981), wurden später für das erste Album Songs to Remember (1982) eingespielt, das auch den legendären Song »Jacques Derrida« enthält. Doch nicht erst mit dieser direkten Bezugnahme auf einen Philosophen erfanden Scritti Politti etwas, das man auf Deutsch später Diskurspop nennen sollte. Sie taten das bereits auf diesen allerersten EPs in einer Weise, die das »Diskurs«-Label eindeutig verdient: Hier hatte erstens jemand nicht nur seinen Barthes, Derrida, wahrscheinlich auch Lacan und/oder Foucault (der Song »Confidence« könnte auch »Sexualität und Wahrheit« heißen), sondern auch vor allem Gramsci gelesen. Für das Cover der zweiten EP wurde von der Gruppe selbst ein theoretischer Essay verfasst. Zweitens waren diese Frühwerke eindeutig Punk. Das theoretische Interesse und der DIY-Punk-Impetus hängen bei Scritti Politti aufs Engste zusammen − der Bandname ist eine Verballhornung des italienischen Originaltitels der politischen Schriften von Gramsci. Englische Übersetzungen von Gramsci lagen seit Anfang der 1970er vor und wurden wegweisend für die britischen Cultural Studies, etwa für die Arbeiten von Stuart Hall oder Dick Hebdiges Klassiker Subculture: The Meaning of Style (1979). Während Hebdige die wohl erste akademische Analyse von Punk lieferte, hatten Scritti Politti ihre eigenen akademischen Studien bereits zum Produktionsmittel ihrer Musik gemacht − eine Methode, die in den selbstreflexiven Songs »Messthetics«, »Bibbly-o-tek« und »Doubt Beat« ausdrücklich thematisiert wird. Andere Songs wie »Skank Bloc Bologna«, »Is and Ought the Western World«, »Scritlocks Door« und »OPEC − Immac« setzen textlich auf die Subversion ideologischer Klischees durch die Mehrdeutigkeit von Lyrik, die der eines Mark E. Smith in nichts nachsteht. »Gramscis Frage«, wie Stuart Hall das 1991 nannte, war: Wie schafft man den Kommunismus in einer ausdifferenzierten Zivilgesellschaft, in der es nicht genügt, einfach einen Zarenpalast zu stürmen und dann »durchzuregieren«? Gramscis Versuch einer Antwort war sein Konzept der Hegemonie, der »Erzeugung eines Konsenses und freiwilliger Zustimmung auf dem komplexen Terrain der Zivilgesellschaft − und zwar durch Strategien der moralischen und intellektuellen Führung« (Oliver Marchart) zur Beeinflussung des »Alltagsverstands« (»common sense«) der Menschen. Für die Herstellung von Hegemonie spielen Phänomene, die für einen traditionellen ökonomistischen Marxismus sekundärer »Überbau« wären, eine deutlich wichtigere Rolle: Sprache, Medien, Kultur. Für die Cultural Studies war Gramscis Hegemoniekonzept der Hebel, der es ermöglichte, marxistische Ideologiekritik und (post-)strukturalistische Sprachanalyse zusammenzudenken. Für die politische Praxis ist »Hegemony« Zumutung und Chance, weshalb sie im gleichnamigen Song einmal als »the fairest creature« und einmal als »the foulest creature« angesprochen wird. Denn die herrschende Hegemonie mag zwar eine machtvolle Gegnerin emanzipativer Politik sein, kann aber durch den »Stellungskrieg« (Gramsci) punktueller taktischer Interventionen allmählich verändert werden. Im Zuge der Punk-Explosion 1977 drängte sich, als gegenhegemoniales Projekt, die von der gesellschaftlichen Basis selbst organisierte Produktion von Popmusik auf. Den Massenmedien, als »PAs« der herrschenden Meinung, galt es ein eigenes, subversives Soundsystem entgegenzusetzen. In dem Stück »28/8/78« wird das nicht nur inhaltlich, sondern, durch die Zweckentfremdung einer BBC-Nachrichtensendung, auch »materiell« thematisiert. Die Gründung von Scritti Politti wurde denn auch nicht nur durch ein Konzert von Clash, Sex Pistols, Damned und Heartbreakers inspiriert, sondern folgte in Bezug auf die Schaffung einer Gegenöffentlichkeit auch ausdrücklich dem Beispiel der DIY-Pioniere Desperate Bicycles. Deren Aufforderung an ihre Hörer_innen, eigene Platten zu machen, konkretisierten Scritti Politti noch: Auf die Cover ihrer Platten druckten sie nicht nur akribisch die Kosten aller Produktionsschritte, sondern auch Namen und Telefonnummern ihrer Studios, Presswerke und Druckereien. Ferner veröffentlichten sie einen Leitfaden mit dem Titel How to Make a Record. Diese Anfänge verhinderten indes nicht, dass Green Gartside als Blue-Eyed-Soul-Star unter dem Namen Scritti Politti eine erfolgreiche Solo-Industriekarriere mit allen Schikanen einschlug, inklusive Kommerz, Kokain und Kollaps. Angesichts dieses Bruchs erstaunt im Rückblick auf die Early-Songs, wie stark Einflüsse »schwarzer« Musik bereits hier präsent waren. Reggae und Funk sind hier aber weniger als formale Modelle zu hören, deren sich die Band souverän bedient, sondern eher als etwas, dem sie sich mit ihren noch unzureichenden Fertigkeiten anzunähern versuchen. Dieser »unfertige« Charakter der Stücke und das fragile Gleichgewicht zwischen dem warmen Bass und der kantigen Drahtigkeit des Gitarrensounds, zwischen der intellektuellen Schärfe der Texte und den sehnsuchtsvollen Gesangsmelodien sind es gerade, die die Bedeutung dieser Songs ausmachen. Bereits im Moment der britischen Punkrock-Explosion schlossen sie diese schon mit Politik, Philosophie und Pop »at large« zu einer äußerst produktiven Äquivalenzkette zusammen, einer Alternative zum konservativen Punkrock.

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