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ALVAROMums Milk Not Powder [Squeaky Shoes Records, 1979] Ingo Techmeier

Alvaro − mit vollem Namen Alvaro Peña-Rojas − wurde 1943 in Val Paraiso in Chile geboren. In den 1960er-Jahren war er Saxophonist verschiedener Rock’n’Roll- und Bebop-Bands (The Dandys, The Challengers, The Boomerangs) und nahm drei Singles auf. Die Musik blieb ein Hobby, während er als Werbefachmann und Dozent für kreatives Schreiben in Santiago de Chile arbeitete. 1970 war er an der Wahlkampagne Allendes beteiligt, dessen sozialistische Unidad Popular in diesem Jahr die Präsidentschaftswahlen gewann. 1973 folgte der Putsch der faschistischen Junta Pinochets und ein Jahr darauf ging Alvaro nach London ins Exil. Dort lebte er in besetzten Häusern und spielte Saxophon bei den 101’ers, die er 1974 zusammen mit Joe Strummer gründete. Doch bald trennte sich Alvaro von der Band und dem Saxophon. Das Instrument war für ihn verbunden mit einem US-amerikanischen Kulturimperialismus: »Bei allen Nato-Manövern und allen (amerikanischen) Kriegsschiffen, die mit der chilenischen Armee Manöver veranstalteten, sind immer Bands dabei. Die ziehen vom Schiff runter und spielen Jazz, Jazz, Jazz …« Erst 1986 wird er auf Reaching for the Masses wieder Saxophon spielen.

Mit wechselnden Begleitmusikern macht er fortan unter eigenem Namen eine eigenwillige Musik, die einmal recht gut als eine Mischung aus lateinamerikanischer Folklore und Keith Jarretts ostinatohafter Pianomusik mit Einflüssen der britischen DIY-Szene beschrieben wurde. Wegen des Titels Drinking my own Sperm weigerten sich viele Läden, sein erstes Album ins Programm zu nehmen, während angeblich Chris Cutler einen Vertrieb durch Recommended Records verhinderte. Das Titelstück beschreibt einen persönlichen, emotionalen Tiefpunkt. Unter anderem schmeckte das eigene Sperma, so der Selbstversuch, wie die Hölle und der Tod. Aus dieser Zeit stammt ein Foto Alvaros, das ihn in einer Badewanne wie in einem Sarg liegend zeigt. Den gesamten Kopf bedeckt eine schwarze Kapuze ohne Öffnungen für die Augen.

Das zweite Album, Mums Milk Not Powder, handelt vom Essen. Alvaro las in einer deutschen Zeitung, dass Muttermilch zwanzig Mal mehr Gift als Kuhmilch enthalte und schrieb einen Protestsong der verwirrenden Art. Noch verwirrender beginnt die Platte mit »Blind Man Choose Your Cheese«. Hier heißt es: »Die Wahrheit liegt in einer Dose Kabeljau« und »love is the most unhuman thing«. Dazwischen sexualisierte Bilder, die damals wie heute für Irritationen sorgen dürften. Existentielle Sorgen um Hunger und Liebe, vorgetragen mit einem Zynismus, der nur ein Ziel zu kennen scheint: sich selbst. Doch nach dem Titelsong wird es romantisch: Alvaro bietet Stück für Stück einen Marzipanelefanten an. Jeder Körperteil geht mit einem typischen spanischen Deminutiv weg: das Rüsselchen, die Öhrchen, die Pfötchen werden nacheinander verzehrt. Danach endet die erste Seite mit »Honey« und der beruhigenden Erkenntnis: »Bienen stechen nicht, wenn man sie liebt«. Ist diese Seite des Albums (»Heads«) bereits ein Verwirrspiel, da Tiefgründiges naiv wirkt, während Naives tiefgründig scheint, wird das Konzept des Albums auf der zweiten Seite (»Tails«) konsequent an seine Grenzen geführt. Doch zuerst scheint »Tails« mit einer Programmunterbrechung zu beginnen, denn »Pajarito (Innocent)« besingt einen Vogel auf einer Fernsehantenne. Alvaro fragt, was der Vogel wohl sieht? Sieht er fern? Der konzeptionelle Bezug des Vogels zum Album bleibt unklar. Klar ist dagegen: Essen und Zähne gehören zusammen. Im folgenden »False Teeth« werden Reflexionen wie »false teeth are as good as real« und »England had it too sweet« vorgetragen. Immerhin war Alvaros Vater Zahnarzt. Danach backt Hildegard Schneider vor laufendem Tonband und Radio (es läuft unter anderem »Drinking My Own Sperm«) ein Brot. Zum Schluss wird − mit der Nasenflöte − der Abwasch gemacht. So ist Mums Milk Not Powder eine runde Sache mit Honig und Marzipan, mit Ecken und Kanten und mit einer Plattenseite, die weitgehend gar keine Musik enthält.

Es folgten weitere Veröffentlichungen, darunter viele Kassetten, und mit dem Ende der chilenischen Militärdiktatur der Versuch einer Rückkehr nach Chile (»auf der Suche nach meiner Heimat«). Doch Jahrzehnte der Diktatur haben das kulturelle Klima zu konservativ für Alvaro gemacht. Nachdem er 1997 nur vier Konzerte ohne nennenswertes Publikumsinteresse geben konnte, ging er im Jahr darauf nach Konstanz, wo er seit seiner Heirat mit Hildegard Schneider (1979) bis heute lebt.

Vielleicht wächst das Interesse an Alvaro in Chile, denn mit der instrumentellen Post-Rock-Band Fatiga de Material aus seinem Geburtsort Val Paraiso hat er einige Konzerte gegeben und 2012 ein Album mit einigen seiner Stücke aufgenommen. Bis auf »My Friend Joe« und »The Bank Snatchers« sind es überwiegend alte Songs. Letzteres ist neben »Latino America« vom Debüt Drinking My Own Sperm sein einziger Text, der einen direkten politischen Bezug hat. Doch statt eines optimistischen »la libertad llegará« (die Freiheit wird kommen) wie bei »Latino America«, heißt es bei »The Bank Snatchers« nun »don’t go to sleep«.

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