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(4) Kritik an der aktuellen Rechtsprechung des BGH zum großen Ausmaß
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Die Vereinheitlichung des Hinterziehungsbetrages für die Bestimmung des großen Ausmaßes ist grundsätzlich zu begrüßen. Allerdings überzeugt das Abstellen auf den für § 263 StGB entwickelten Betrag unter Hervorhebung der „strukturellen Unterschiede“ der beiden Normen nicht. Näher hätte es gelegen, aus der Erkenntnis, dass § 370 niedrigere Anforderungen an die Rechtsgutsgefährdung stellt als § 263 StGB, konsequenter Weise auch einheitlich höhere Beträge für das Erreichen des großen Ausmaßes anzusetzen. Ein einheitliches Abstellen auf den höheren der früher angewendeten Beträge von 100 000 EUR wäre dem geringeren Unrechtsgehalt der Steuerhinterziehung gegenüber dem Betrug gerechter geworden und hätte zudem die Rechte der von der Rechtsprechungsänderung betroffenen Steuerpflichtigen geachtet, die seit Einführung des § 370 Abs. 3 S. 2 Nr. 1 davon ausgehen muss, dass sie bei einer Steuergefährdung im Umfang von unter 100 000 EUR keine Steuerhinterziehung großen Ausmaßes begehen. Die geänderte Rspr. wirkt für den davon betroffenen Steuerstraftäter im Ergebnis wie eine rückwirkende Gesetzesverschärfung und wirft daher die Frage auf, ob sie sich mit dem Gesetzlichkeitsprinzip des Art. 2 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 3 und Art. 103 Abs. 2 GG (§ 1 StGB) vereinbaren lässt.[791] Das BVerfG hat die Geltung des Gesetzlichkeitsprinzips für Strafzumessungsvorschriften bestätigt,[792] wertet Rechtsprechungsänderungen allerdings grundsätzlich nicht als Verstoß. Die Gerichte sind danach an eine einmal feststehende Rspr. insb. dann nicht gebunden, wenn diese sich im Licht geläuterter Erkenntnis oder angesichts des Wandels der sozialen, politischen oder wirtschaftlichen Verhältnisse als nicht haltbar erweist.[793] Selbst wenn eine wesentliche Änderung der Verhältnisse oder der allgemeinen Anschauungen nicht eingetreten ist, kann ein Gericht ohne Verstoß gegen Art. 20 Abs. 3 GG von seiner früheren Rspr. abweichen, wenn dies hinreichend und auf den konkreten Fall bezogen begründet ist.[794] Zudem muss sich die Änderung im Rahmen einer vorhersehbaren Entwicklung halten.[795] Hingegen kommt, wenn keine nachvollziehbare Anpassung der Rspr. erfolgt, insb. wenn sachfremde Erwägungen angestellt werden, ein Verstoß gegen das Willkürverbot gem. Art. 3 Abs. 1 GG in Betracht.[796] Mit der Entscheidung, den für das große Ausmaß entscheidenden Betrag bei Verkürzung der zu zahlenden Steuer zu halbieren, wird keine nachvollziehbare Anpassung an bessere Erkenntnisse vorgenommen. Der Vergleich mit dem beim Betrug angesetzten Betrag trägt diese Entscheidung bereits nach den eigenen Ausführungen des Gerichts nicht. Auch der Behauptung, dass die falsche Steuerfestsetzung nahezu immer zu einem Schaden führe, kann insb. im Hinblick auf das Kompensationsverbot, aber auch auf die immer weitere Vorverlagerung des Erfolgseintritts durch den 1. Senat aufgrund der weiten Auslegung des Begriffs des steuerlichen Vorteils (der nach der Rspr. des BGH z.B. vorteilhafte Feststellungsbescheide umfasst), nicht zugestimmt werden. Darüber hinaus ist der Unrechtsgehalt der Steuerhinterziehung gegenüber dem Betrug auch deshalb als geringer einzustufen, weil die Steuerhinterziehung nach § 370 Abs. 1 Nr. 1 keine Täuschung voraussetzt und die nach § 370 Abs. 1 Nr. 2 und 3 stets durch Unterlassen begangen wird. Für die Annahme einer willkürlichen Änderung der Rspr. wird das voraussichtlich jedoch nicht genügen. Zweifelhaft erscheint vielmehr, ob die Rechtsprechungsänderung für den Steuerpflichtigen vorhersehbar war. Insoweit war ein möglicher Hinweis auf eine Rechtsprechungsänderung die Hervorhebung, wonach die Betragsgrenze von 50 000 EUR „namentlich“ dann Anwendung finde, wenn der Täter ungerechtfertigte Zahlungen vom Finanzamt erlangt hat und die in der Literatur um die Aufweichung der Abgrenzungskriterien durch den BGH entbrannte Diskussion. Mit der vollstängigen Aufhebung der Differenzierung und dem Abstellen für alle Fälle auf den niedrigeren der beiden bisherigen Beträge war aber auch unter Berücksichtigung dieser Umstände nicht zu rechnen.