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2.Refoulement Verbote

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77Nach allgemeinem Völkerrecht liegt die Entscheidung über Einreise und Aufenthalt von Ausländern in der freien, völkerrechtlich ungebundenen Entscheidungsbefugnis der Staaten. Die Gewährung von Einreise- und Aufenthaltsrechten ist daher grundsätzlich Ausfluss der Territorialhoheit eines Staates. Ungeachtet dessen ergeben sich aus gewohnheitsrechtlichen und völkervertraglichen Bestimmungen eine Reihe von Beschränkungen der freien Entscheidungsbefugnis von Staaten. Insbesondere im Bereich des Asyl- und Flüchtlingsrechts bestehen aufgrund völkerrechtlicher Verträge und gewohnheitsrechtlicher Prinzipien Ausnahmen von dem Grundsatz, dass ein Staat frei über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern entscheiden kann. Das Genfer Übereinkommen über die Rechtsstellung von Flüchtlingen1 verpflichtet die Vertragsstaaten dazu, Personen, die die Voraussetzungen des in der Konvention niedergelegten Flüchtlingsbegriffs (Verfolgung aus den in der Konvention genannten Verfolgungsgründen) erfüllen, nicht in die Verfolgerstaaten auszuweisen oder zurückzuweisen, in denen das Leben des Flüchtlings oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht sein würde2. Eine entsprechende Verpflichtung besteht aufgrund von Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) bei Flüchtlingen, die im Falle einer Zurückweisung, Ausweisung oder Abschiebung, Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe ausgesetzt sein würden. Diesen Gedanken bringt auch auf universaler Ebene Art. 3 Abs. 2 des UNO-Übereinkommens gegen Folter zum Ausdruck3:

„Ein Vertragsstaat darf eine Person nicht in einen anderen Staat ausweisen, abschieben oder an diesen ausliefern, wenn stichhaltige Gründe für die Annahme bestehen, dass sie dort Gefahr liefe, gefoltert zu werden.“

Die Europäische Grundrechtecharta4 nimmt diese Grundsätze in Art. 19 auf, indem die Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung an einen Staat verboten wird, in dem für sie oder ihn das ernsthafte Risiko der Todesstrafe, der Folter oder einer anderen unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe besteht.

78Im Einzelnen bestehen allerdings eine Reihe von Unklarheiten über die Reichweite dieses „Refoulement-Verbots“. Umstritten ist, ob das Refoulement-Verbot der Genfer Flüchtlingskonvention auch auf staatliche Maßnahmen außerhalb des eigenen Hoheitsgebiets anwendbar ist. So hat der amerikanische Supreme Court entschieden, dass das Refoulement-Verbot der Genfer Konvention die Vereinigten Staaten nicht daran hindert, Flüchtlingen aus Haiti die Einfahrt in die amerikanischen Hoheitsgewässer zu verbieten5. Anders hat der EGMR für das Refoulement-Verbot nach Art. 3 EMRK im Fall Hirsi/Italien6 unter Berufung auf seine frühere Rechtsprechung zur extraterritorialen Verantwortlichkeit der Vertragsstaaten zur Schutzgewährung gegen unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Falle einer Zurückweisung oder Rückführung in potentielle Verfolgerstaaten entschieden7. Der EGMR bejaht eine Pflicht, auch außerhalb der Küstengewässer aufgebrachten „Bootsflüchtlingen“ gegebenenfalls Schutz gegen eine Zurückweisung oder Rückführung in Länder zu gewähren, in denen eine Gefahr besteht, unmenschlicher Behandlung ausgesetzt zu sein. Die Reichweite der Schutzpflicht außerhalb des eigenen Hoheitsgebiets ist umstritten; insbesondere ist zweifelhaft, ob sich aus Art. 3 EMRK auch eine Verpflichtung ableiten lässt, gegebenenfalls Unterstützung in Form einer Ermöglichung eines Zugangs zum Asylverfahren zu gewähren8. Aus der Hirsi-Entscheidung des EGMR wird weithin der Schluss gezogen, dass zur Überwachung der Außengrenzen eingesetzte Küstenwachtboote verpflichtet sind, Bootsflüchtlingen, die auf der Hohen See aufgebracht werden, jedenfalls dann die Einreise in einen EU-Mitgliedstaat zu ermöglichen, wenn das Risiko einer unmenschlichen Behandlung oder unmenschlicher Lebensbedingungen im Falle einer Rückführung nicht ausgeschlossen werden kann und ein anderweitiger sicherer Drittstaat, in den ein Flüchtling verbracht werden könnte, nicht existiert. Zu beachten ist jedoch, dass Gegenstand der Entscheidung ausschließlich die Rückverbringung von Bootsflüchtlingen auf italienischen Küstenwachbooten nach Lybien war, wo sie nach Auffassung des EGMR unmenschlichen Lebensbedingungen und Gefahren für Leib und Leben ausgesetzt waren. Nach Auffassung des EGMR übt ein Staat in diesem Fall staatliche Herrschaftsgewalt aus. Ein Anspruch auf Seerettung und Aufnahme in die EU-Mitgliedstaaten zum Zweck der Überprüfung eines Antrags auf internationalen Schutz kann aus der EGMR Rechtsprechung nicht abgeleitet werden. Nach den einschlägigen seerechtlichen Konventionen besteht eine Verpflichtung zur Seerettung lediglich mit dem Ziel, die aus Seenot geretteten Personen in den nächsten erreichbaren sicheren Hafen zu verbringen. Wird ein Bootsflüchtling an Bord eines staatlichen Schiffes, auf dem eine quasi staatliche Hoheitsgewalt ausgeübt wird verbracht, so ist nach Auffassung des EGMR jedoch eine Prüfung, die auch an Bord eines Schiffes oder in einem Drittstaat stattfinden könnte, erforderlich, ob im Fall der Rückverbringung eine konkrete Gefahr unmenschlicher Behandlung oder Folter droht.9 Da aber mangels anderer aufnahmewilliger Staaten in der Regel keine Möglichkeit besteht, einen Schutzanspruch extraterritorial zu überprüfen, hat diese Rechtsprechung in der Vergangenheit dazu geführt, dass mit der Aufgabe des Außengrenzschutzes betraute Schiffe – ebenso wie zahlreiche private speziell zur Aufnahme von Bootsflüchtlingen gecharterte Schiffe Bootsflüchtlinge in die EU verbracht haben, um dort, Ansprüche auf internationalen Schutz in einem EU-Mitgliedstaat geltend zu machen. Im Falle eines Massenzustroms von Flüchtlingen wird diese Prüfung jedoch auch kollektiv erfolgen können, derart, dass Flüchtlinge an den Ausgangsort in einem Drittstaat, in den sie sich zur Organisation Ihrer Seereise mit dem Ziel, einen EU-Mitgliedstaat zu erreichen, begeben haben, wenn ihnen dort keine unmittelbare Gefahr für Leib oder Leben, Folter oder unmenschliche Behandlung droht, zurückverbracht werden können.

79Dass diese Prüfung individuell, d. h. auf die einzelne Person bezogen sein muss, hat der Gerichtshof durch die ergänzende Heranziehung des Verbots der Kollektivausweisung10 unterstrichen. Einschränkungen bezüglich des Ausweisungsrechts sind in Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls zur EMRK niedergelegt. Art. 4 verbietet Kollektivausweisungen von Ausländern, mit der Folge, dass in jedem Fall einer Ausweisung eine Prüfung der individuellen Umstände erfolgen muss. Im 7. Zusatzprotokoll zur Europäischen Menschenrechtskonvention vom 22.11.198411 sind verfahrensrechtliche Schutzvorschriften in Bezug auf die Ausweisung von Ausländern vorgesehen. Ein Ausländer darf danach nur aufgrund einer rechtmäßig ergangenen Entscheidung ausgewiesen werden. Er muss Gelegenheit haben, seine Gründe gegen die Ausweisung vorzubringen und die Ausweisungsentscheidung durch die zuständige Behörde überprüfen zu lassen12. Der EGMR wendet diese Bestimmungen im Grundsatz auch auf extraterritoriale Maßnahmen staatlicher Organe an, die außerhalb des eigenen Hoheitsgebiets einen illegalen Grenzübertritt verhindern wollen13. Dagegen bestehen erhebliche rechtliche Bedenken, im Hinblick auf Wortlaut, Zweck und Entstehungsgeschichte des Verbots von Kollektivabschiebungen. Vieles spricht dafür, Maßnahmen der Grenzkontrolle bzw. zur Verhinderung illegaler Einreise von den durch Art. 4 des 4. Zusatzprotokoll erfassten Maßnahmen einer ohne Rücksicht auf die Umstände des Einzelfalls erfolgenden Aufenthaltsbeendigung einer sich bereits auf dem Staatsgebiet aufhältigen Gruppe von Ausländern zu unterscheiden. Hat ein Staat, wenn auch nur durch faktisches Handeln den Aufenthalt einer Person zugelassen, so kann der einmal tatsächliche förmlich erlaubte oder zumindest geduldete Aufenthalt nur noch durch eine individuelle die Interessen des Ausländers berücksichtigende Entscheidung beendet werden. Der Gerichtshof hat sich mit diesen aus der Entstehungsgeschichte und dem Zweck des Verbots der kollektiven Ausweisung abgeleiteten Erwägungen nicht auseinandergesetzt, mit der Begründung, eine Abgrenzung zwischen einer Ausweisung/Abschiebung einerseits und der Zurückweisung an der Grenze könnte einer willkürlichen Praxis der Vertragsstaaten, sich ihren menschenrechtlichen Pflichten aus dem Refoulement-Verbot zu entziehen, Tür und Tor öffnen14.

80Auf die beachtlichen rechtlichen Bedenken gegen die Anwendung dieser auf Ausweisungen, d. h. aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegenüber Personen, die bereits eine rechtlich schutzwürdige Position aufgrund ihres Aufenthalts im Aufnahmestaat erlangt hatten, bezogenen Vorschrift auf die völlig anders gelagerte Interessenlage bei Maßnahmen der Grenzsicherung15 ist der Gerichtshof nicht eingegangen. In dem Urteil der Großen Kammer des Gerichtshofs v. 13.2.202016 hat der EGMR an der grundsätzlichen Anwendbarkeit des in Art. 4 des 4. Zusatzprotokolls zur Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte niedergelegten Verbots einer kollektiven Ausweisung auf Maßnahmen der Zurückschiebung an der Grenze gegenüber illegal eingereisten Personen grundsätzlich festgehalten. Das Verbot der Kollektiven Ausweisung ist nach der Mehrheitsmeinung auch auf illegal die Grenze überschreitende Personen, die eine Zulassung begehren, anwendbar, ohne Rücksicht darauf, ob ein Vertragsstaat die illegale Grenzüberschreitung im formalen Sinne als „Einreise“ bewertet oder nicht. Nach Auffassung des Gerichtshofs wird aber gegen das Verbot der Kollektiven Ausweisung in Situationen eines „hot return“ nicht verstoßen, wenn – wie im Konkreten Fall der illegalen Überwindung der Grenzzäune an der Spanischen Enklave in Marokko – Drittstaatsangehörige, die versuchen, mit illegalen Methoden als Gruppe auf spanisches Territorium zu gelangen, ohne legale Möglichkeiten einer Unterbreitung eines Asylgesuchs zu versuchen, unmittelbar ohne individuelles Prüfungsverfahren zurückgeschoben werden. Das Urteil lässt für die Anwendbarkeit des Verbots der Kollektiven Ausweisung auf Maßnahmen der Grenzsicherung viele Fragen der rechtlichen Beurteilung von Maßnahmen der Grenzsicherung und Zurückweisung bzw. Zurückschiebung an der Grenze offen17.

81Strittig ist auch, was unter dem Begriff der „unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung“, die eine Zurückweisung oder Rückführung ausschließt, zu verstehen ist. Über die einem Staat oder einer staatsähnlichen Organisation zurechenbaren Zufügungen körperlicher oder physischer Schmerzen oder eine Freiheitsentziehung hinausgehend, hat der EGMR auch miserable Lebensbedingungen in extremer Armut und unzureichenden hygienischen Verhältnissen, für die kein staatliches Organ verantwortlich gemacht werden kann, als unmenschlich qualifiziert und damit „Armutsflüchtlinge“ aus Kriegs- und Bürgerkriegsgebieten oder „failed states“ wie z. B. Somalia, dem Anwendungsbereich des Art. 3 EMRK unterstellt18. Aber auch die Lebens- und Unterbringungsbedingungen und unzureichenden Zugangsmöglichkeiten zu einem effektiven Asylverfahren, denen asylsuchende Flüchtlinge in Griechenland zur damaligen Zeit ausgesetzt waren, hat der EGMR als unmenschlich qualifiziert, mit dem Ergebnis, dass die innereuropäischen Zuständigkeitsvorschriften aufgrund der Dublin-Verordnung partiell außer Kraft gesetzt wurden19.

82Die schwierig zu entscheidende Frage, ob im Falle einer Zurückweisung oder Zurückschiebung die zu erwartenden Lebens- und Unterbringungsbedingungen in alternativen Regionen einer Herkunftsregion oder in Flüchtlingslagern benachbarter Staaten den vom EGMR oder den in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung aufgestellten Standards gerecht werden20, hat in der gerichtlichen Praxis zu einer Vielzahl langwieriger Verwaltungs- und Gerichtsverfahren und regelmäßig zu einer Verpflichtung geführt, Einreise und vorläufigen Aufenthalt für die Dauer des Verfahrens und damit in den meisten Fällen darüber hinaus zu gewähren. In Deutschland sind daher in zahlreichen Fällen Dublin – Überstellungsgesuche von vornherein nicht gestellt worden und Flüchtlinge gruppenweise oder aus bestimmten Transitstaaten trotz anderweitiger Zuständigkeit von EU-Mitgliedstaaten übernommen worden.

83Das BVerwG hat mit seinem Beschluss v. 25.10.201221 auf die Grenzen der Rechtsprechung zu vermeintlichen oder wirklichen Abschiebungshindernissen im Hinblick auf unmenschliche Lebensbedingungen hingewiesen. Ausländer können aus der Konvention kein Recht auf Verbleib in einem Konventionsstaat geltend machen, um dort medizinische Hilfe oder andere Hilfe oder Unterstützung zu erhalten22. Es ist daher auch nicht ausreichend, dass im Falle einer Aufenthaltsbeendigung die Lage des Betroffenen einschließlich seiner Lebenserwartung erheblich beeinträchtigt würde, sofern nicht ein besonderer Fall, wie etwa bei fortgeschrittener AIDS-Erkrankung mit unmittelbar drohender Verschlechterung und Tod vorliegt. Auch die EGMR-Rspr. im Fall M. S. S.23 kann daher nach Auffassung des BVerwG nicht dahin ausgelegt werden, dass Art. 3 EMRK generell soziale Leistungsrechte garantiert, wenn kein ausreichender sozialer Standard im Herkunftsland gesichert ist. Vielmehr beschränkt sich diese Entscheidung, die die Überstellung von Asylsuchenden an Griechenland im Rahmen des Dublin-Systems betrifft, auf die besondere Situation von Asylsuchenden, die in einem ihnen vollständig fremden Umfeld als besonders schutzbedürftige Personen (so der EGMR generalisierend im M.S.S.-Urteil) vollständig von staatlicher Unterstützung abhängig sind und behördlicher Untätigkei bzw. Unwilligkeit, eine wenn auch nur elementare Hilfe gegen drohende Verelendung zu gewähren, gegenüberstehen. Das BVerwG sieht sich in seiner Auffassung, dass damit keine generelle Erstreckung dieser Rechtsprechung auf allgemeine Standards im Heimatstaat des Betroffenen einhergeht, durch weitere Urteile des EGMR in den Fällen Sufi und Elmi24 und Nacic25 bestätigt.

84Umstritten ist ferner, ob aus dem Refoulement-Verbot eine Verpflichtung abgeleitet werden kann, einen Zugang zu einem Asylverfahren zu eröffnen. Grundsätzlich verbietet das Refoulement-Verbot des Genfer Übereinkommens lediglich die Abschiebung oder Zurückweisung in ein Verfolgerland; dies steht der Zurückweisung oder Rückführung in einen sicheren Drittstaat prinzipiell nicht entgegen, solange mit hinreichender Wahrscheinlichkeit feststeht, dass der als sicher qualifizierte Drittstaat nicht seinerseits eine Weiter- oder Zurückschiebung an Verfolgungsländer vornimmt oder selber zu Maßnahmen der Verfolgung oder unmenschlichen Behandlung greift.

85Die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) enthält im Übrigen grundsätzlich keine Bestimmungen über Einreise und Aufenthalt von Ausländern26. Ungeachtet dessen ergeben sich mittelbar sowohl aus Art. 3 EMRK (Verbot von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung) als auch aus Art. 8 EMRK (Achtung des Privat- und Familienlebens) erhebliche Einwirkungen auf die innerstaatliche Gesetzgebung und Praxis, insbesondere im Hinblick auf aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegenüber sich bereits im Aufenthaltsstaat rechtmäßig aufhaltenden Ausländern, ausnahmsweise aber auch im Hinblick auf Einreise und Aufenthalt oder illegal aufhältige Personen, deren Aufenthalt vom Gaststaat geduldet worden ist. Grundsätzlich geht zwar der Europäische Gerichtshof zum Schutz der Menschenrechte (EGMR) in ständiger Rechtsprechung davon aus, dass die Bestimmungen der EMRK die Befugnis der Vertragsstaaten, über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern auf ihrem Gebiet nach nationalem Recht zu entscheiden, nicht regeln. Ungeachtet dessen können sich aus einzelnen Bestimmungen der EMRK, insbes. aus Art. 3 und dem Gebot der Respektierung des Privat­lebens und des Familienlebens (Art. 8 EMRK) Einschränkungen der mitgliedstaatlichen Befugnisse vor allem bei der Beendigung eines Aufenthalts durch Nichtverlängerung einer Aufenthaltserlaubnis, Ausweisung und Abschiebung ergeben.

86Der Gerichtshof wendet hier in ständiger Rechtsprechung einen Test der fairen Abwägung der privaten Interessen am Verbleib im Aufenthaltsstaat mit den öffentlichen Interessen an der Aufenthaltsbeendigung27 an („fair balance of interests test“). Zu den relevanten Kriterien, die dabei in Betracht zu ziehen sind, rechnet der Gerichtshof die Dauer des Aufenthalts, das Maß an Integration im Aufenthaltsstaat, die Zumutbarkeit einer Rückkehr im Hinblick auf noch vorhandene oder fehlende Bindungen, Sprachkenntnisse, persönliche Beziehungen usw. sowie die Schutzwürdigkeit im Aufenthaltsstaat begründeter familiärer Beziehungen28. Grundsätzlich kann nach Auffassung des Gerichtshofs aus Art. 8 EMRK allerdings keine Pflicht abgeleitet werden, die Entscheidung eines Ausländers, eine Ehe oder ein Familienleben im Aufenthaltsstaat zu realisieren, aufenthaltsrechtlich durch Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zu ermöglichen. Ausländer können daher regelmäßig darauf verwiesen werden, eine geplante Familienbeziehung im Heimatstaat zu verwirklichen. Nur ausnahmsweise lässt sich – wie z. B. beim Nachzug eines unmündigen Kindes zu einer seit langem im Ausland lebenden Familie, wenn die bisherige Betreuung des Kindes wegfällt – aus Art. 8 EMRK ein Anspruch auf Erteilung eines Aufenthaltsrechts ableiten29.

87Umstritten ist, ob sich aus der neueren Rechtsprechung des EGMR zur Respektierung des Rechts auf Privatleben ein Anspruch „faktischer Inländer“, die sich seit langer Zeit im Bundesgebiet ohne gültigen Aufenthaltstitel aufhalten, auf „Legalisierung des Aufenthalts“ durch Gewährung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis ergibt, sofern nicht bereits aufgrund einer Bleiberechtsregelung ein Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (§ 104a AufenthG) besteht. Der EGMR hat unter besonderen Umständen ein Recht auf Erteilung eines Aufenthaltsrechts auch bei lediglich faktischem Aufenthalt anerkannt, ein Menschenrecht auf Legalisierung des Aufenthalts wird man aber daraus nicht ableiten können30.

Asyl- und Ausländerrecht

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