Читать книгу Faith und Leathan - Ursula Tintelnot - Страница 13
Geheimnisse
ОглавлениеDer Gang, tief unten im Brunnen, aus der Schattenwelt hinaus, in die Lichte Welt, blieb Richards Geheimnis, das er unter allen Umständen vor seinem Vater schützen musste.
Außer Magalie und Elsabe kannten nur Jesse und Julian diesen feuchten Tunnel, der sie aus der Schattenwelt direkt in eines der Gewächshäuser Magalies führte. Der einzige weitere Mitwisser, Rufus, der Sohn der Hexe Siberia, lebte nicht mehr. Richard fragte sich wieder, ob Rufus wirklich ein Sohn Leathans gewesen war, er also einen Halbbruder gehabt hatte? Der Gedanke, dass sein Vater den eigenen Sohn umgebracht haben könnte, verfolgte ihn.
Der Boden unter seinen Füßen war feucht, von den Wänden tropfte es. Ratten fiepten. Kein angenehmer Ort.
Am Ende des Tunnels erklomm er ausgetretene Steinstufen. Durch eine leichte Berührung der Bodenplatten über ihm schoben diese sich lautlos auseinander, und er konnte in eines der Gewächshäuser eintreten. Gierig sog er den süßen Duft der blauen Beeren ein, die in schweren Trauben über ihm hingen. Die Tür öffnete sich, strahlend flog sie auf ihn zu.
»Du bist da.« Faith küsste ihn. »Ich hab’s gespürt.«
Richard zog sie an sich, versank in ihrem Duft, ihrem üppigen roten Haar, ihrer Liebe.
»Komm.« Sie zog ihn hinter einen Vorhang aus wuchernden Ranken.
Früher, dachte er, hat es diese bequemen Kissen hier nicht gegeben. Dann dachte Richard nichts mehr.
Spät am nächsten Tag erwachte er allein. Richard sprang auf. Er wollte seine Töchter sehen, und er musste mit Magalie sprechen.
Der Weg zum Pavillon war nicht weit. Er genoss es, unter schattenspendenden Bäumen, an duftenden Blumenbeeten entlangzugehen. Nirgendwo in der Schattenwelt gab es annähernd solche Farbenpracht, solche Helligkeit, solchen Duft. Magalies Gärten waren ein Geschenk, das die Seele erfrischte und seinem Herzen Ruhe schenkte. Zarter Zitronenduft lag über allem. Ein Spiel mit Farben, Formen und Düften. Betörend.
Wenn nur ein Hauch über den Garten hinweg wehte, summten graugrüne Gräser eine leise Melodie. Zwischen den hohen Gräsern tauchte ein roter Schopf auf. Lisa, seine Tochter.
»Papa!«
So musste Faith als kleines Mädchen ausgesehen haben. Zierlich, ein unwiderstehlich niedliches Persönchen. Richard kniete nieder und breitete die Arme aus.
Faith stand in der Tür des Pavillons. Sie beobachtete ihre Tochter, die sich jubelnd in Richards Arme warf. Nie hatte sie an ihrer Liebe zu Richard gezweifelt, aber oft an ihrer Entscheidung, mit ihm in die Anderswelt zu gehen. Sie wusste, dass er seine Welt nicht verlassen wollte. Nicht weil er die Schattenwelt liebte, sondern weil er ein pflichtbewusster Mann war. Er könnte sich nicht verzeihen, die Geschöpfe zu verlassen, denen er ein besseres Leben versprochen hatte, sie Leathan auszuliefern und sich selbst in Sicherheit zu bringen.
Wenn sie die Spiegelwelt verließe, müsste sie ein Leben führen wie ihr Vater und Magalie. Oft getrennt, selten vereint. Ihre Kinder ohne Vater. Auch jetzt schon waren sie und Richard oft genug allein.
Ihr Vater trat zu ihr. »Woran denkst du?«
»Ich frage mich, wie ihr, Magalie und du, die ewigen Trennungen ausgehalten habt.«
Robert schwieg, dann sagte er. »Für mich war es schwer. Aber ich habe keine Möglichkeit gesehen, es zu ändern. Meine Angst um dich war zu groß. Ich wollte nicht, dass du in der Anderswelt aufwächst.« Er sah Faith nachdenklich an. »Denk an die Prophezeiung, die dich fast das Leben gekostet hätte.«
»Nur meinetwegen …?«
»Nicht nur, nein. Magalie wäre für immer zu mir gekommen. Aber sie hätte sich nie verziehen, ihr Volk im Stich gelassen zu haben. Daran wäre unsere Liebe zerbrochen.« Robert erkannte, was seine Tochter umtrieb. »Was ist mit dir, mein Mädchen?«
»Ich fürchte, mir geht es ähnlich. Ich kann Richard nicht bitten, seine Pflichten zu vernachlässigen. Aber mein Platz ist nicht hier. Hier werde ich immer eine Fremde bleiben, und ich fürchte für meine Kinder. Leathan ist zurück.«
Sie legte ihren Kopf an die Schulter ihres Vaters. »Ich habe Angst.«
Im Hof, den die beiden Seitenflügel und der Mittelteil des riesigen Landhauses bildeten, standen lange, weiß gedeckte Tische. Dieser Platz bildete den Mittelpunkt des Hauses. Hier wurden die Aktivitäten für den Tag besprochen, Neuigkeiten ausgetauscht, gemeinsame Mahlzeiten eingenommen, getratscht und gefeiert. Die Krone einer weiß blühenden Kastanie überdachte schützend den gesamten Innenhof.
Magalie lächelte, als sie Faith und Robert kommen sah. Sie bei sich zu haben bedeutete für die Fürstin Glück. Ihr Gesicht verschattete sich. Faith’s Gedanken trafen sich mit ihren eigenen Ängsten. Mit Leathans Wiederkehr war die Zukunft ungewiss. Was würde aus ihren Enkelinnen werden?
»Wo ist Lotte?« Sie blickte sich beunruhigt um. Der Tag verlor sein Blau.