Читать книгу Faith und Leathan - Ursula Tintelnot - Страница 6
Blutrote Wände
ОглавлениеRichard hatte es abgelehnt, in den dunklen Räumen seines Vaters zu residieren. Er hielt sich lieber in den Räumen auf, die er seit Kindertagen bewohnte. Nach dem Studium war er in die Schattenwelt zurückgekehrt, um sein Erbe anzutreten. Er hatte die Verantwortung für die dunkle Welt nur mit sehr zwiespältigen Gefühlen übernommen. Die blutroten Wände in den Räumen seines Vaters, die fast schwarz wirkten und das wenige Licht schluckten, das der mattviolette Himmelskörper über die Schattenwelt goss, mochte er nicht. Nur sein Pflichtgefühl zwang ihn, über die dunkle Welt zu wachen.
Maia, seine Großmutter, hatte während seines Studiums in der Wirklichkeit die dunkle Welt gelenkt. Solange Leathan ein Gefangener seiner eigenen Schöpfung, den Lebenden Steinen, war, gab es nur Richard, der seine Nachfolge antreten konnte.
Seit er die Lichte Welt Magalies kennengelernt und in der Welt der Sterblichen gelebt hatte, fehlten ihm Sonne, Farben und Licht. Seine Wurzeln lagen in beiden Welten, der Anderswelt und der Welt seiner Mutter, Agnes, einer Sterblichen. Er war zu klein gewesen, um sich an sie zu erinnern.
Nach ihrer Flucht mit ihm aus der Schattenwelt war sie gestorben. Leathan hatte ihn aus der Obhut seiner Großmutter entführt und mitgenommen in seine dunkle Welt.
Der graue Wolf, der neben seinem Arbeitstisch lag, sah ihn aus unergründlich bernsteinfarbenen Augen an und war im Bruchteil einer Sekunde verschwunden. Beunruhigt sprang Richard auf. Murat war oft an seiner Seite. Seit Richard seiner Pflicht nachgekommen war, über die Schattenwelt zu wachen, war Murat sein Schatten. Niemals würde er sich freiwillig auf diese Weise entfernen.
Das konnte nur eines bedeuten: Der Graue musste dem Ruf seines Herrn gefolgt sein, und sein eigentlicher, wenn auch ungeliebter Herr war Leathan, Richards Vater. An ihn war das Tier gebunden, ihm musste es folgen, wann immer er den grauen Wolf rief. Ein schmales goldenes Band, in seinem dichten Fell kaum wahrnehmbar, war das äußere Zeichen seiner Unfreiheit. Solange Leathan ihn nicht selbst aus seinen Diensten entließ, war er ihm ausgeliefert. Kein Zweifel, Leathan war zurück. Die Legende, schoss es Richard durch den Kopf.
In ihm stritten sich die widersprüchlichsten Gefühle. Sein Vater würde die Macht über die Schattenwelt wieder beanspruchen, zu Recht.
In den Jahren ohne ihn war allerdings einiges anders geworden, besser, wie Richard fand. Ob Leathan das auch so sähe? Ziemlich unwahrscheinlich. Richard machte sich Sorgen um die Bewohner seiner Welt, die jetzt ein wenig sorgloser lebten als unter Leathans Schreckensherrschaft. Viele von ihnen waren nach dem großen Brand, den Rufus zu verantworten hatte, in die Stadt zurückgekehrt.
Maia und Nathan war es zu verdanken, dass die uralten Paläste der Unterstadt wieder bewohnbar waren. Einst waren sie prachtvoll gewesen, jetzt waren sie passabel und immerhin komfortabler als die elenden Behausungen, die dem Brand zum Opfer gefallen waren. Aber es gab auch wieder die ärmlichen Hütten rund um die Paläste der Unterstadt.
Viele waren zurückgekehrt aus den Katakomben, in die Rufus sie getrieben hatte, um sie an Waffen auszubilden und gegen Leathan zu führen. Diejenigen, die sich nicht von Rufus hatten pressen lassen, kamen aus den Wäldern und Mooren, in die sie vor ihm geflüchtet waren.
Da waren sie wieder, die Armen, die sich im Schutz der alten Paläste am Fuß der Felsenstadt niederließen. Niemand verwehrte es ihnen. Für Richard gehörten sie zu dem Stadtbild, das er kannte und akzeptierte. Nie wäre er auf die Idee gekommen, wie Rufus, die Hütten niederzubrennen.
Rufus, sein Halbbruder, von Leathan, dem eigenen Vater umgebracht. Richard setzte sich, ließ sich in seinem Stuhl zurücksinken und legte den Kopf in beide Hände. Ihn gruselte es, wenn er daran dachte. Und jetzt war Leathan zurück? Es konnte keinen anderen Grund geben, warum Murat so plötzlich verschwunden war. Leathan musste ihn gerufen haben.
Die Legende besagte: Eines Tages sollten die Lebenden Steine die Steintoten wieder entlassen. Diese würden von den Mauern heruntersteigen und das alte Gemäuer verlassen. Um was zu tun? Richard rief nach Julian. Julian war, wie auch sein Bruder Jesse, in der Unterstadt groß geworden.
Jahre waren vergangen, seit Maia und Nathan die Brüder unter ihre Fittiche genommen hatten. Nathan hatte Julian zu einem großartigen Kämpfer ausgebildet. Er ritt, als habe er nie etwas anderes getan, und war ein ebenso guter Schütze wie Richard. Julian war zu einem verantwortungsbewussten, intelligenten jungen Mann geworden. Dass er aus der Unterstadt kam und sein Leben in größter Armut in einer der Hütten dort verbracht hatte, war ein Vorteil. Er besaß Einfühlungsvermögen und kannte die bunte Klientel, die sich aus Gesetzlosen, Bitterarmen, Trinkern, Gauklern, Zuhältern und Huren zusammensetzte. Er war, nach Nathan, der Stellvertreter Richards, wenn Richard eine seiner zahllosen Reisen in die Lichte Welt unternahm, um Faith und seine Töchter zu sehen.
»Richard, du hast mich rufen lassen?«
Julian war leise eingetreten. Diese Art, ohne Geräusch irgendwo aufzutauchen, hatte er Nathan abgeschaut. Auch sein alter Lehrmeister, war, trotz seiner Größe, in der Lage, unhörbar zu erscheinen. Julian war zu einem riesigen Elf herangewachsen. Fast so groß wie Nathan, dachte Richard. Schön war nicht der richtige Ausdruck, beeindruckend traf es eher. Aber trotz seiner imposanten Statur wirkte Julian nie gewalttätig.
»Setz dich, Julian, wir müssen reden.«
Julian setzte sich. »Wo ist der Graue?«
Richard teilte seinem Freund seine Befürchtung mit, dass Leathan den Wolf gerufen haben könnte. »Du weißt, dass Murat ihm gehorchen muss.«
»Er ist verschwunden, wie in den alten Zeiten, in denen Leathan noch nicht auf den Mauern seiner Kathedrale festsaß. Das kann nur eines bedeuten, mein Freund: Die Lebenden Steine haben meinen Vater entlassen.«
Julian sah besorgt aus. »Keine guten Neuigkeiten. Dem Fürsten wird es nicht gefallen, Jesse und mich hier vorzufinden.«
Richards Lachen klang nicht fröhlich. »Auch ich werde ihm nicht gefallen und noch weniger die Veränderungen in seinem Reich.«
»Wir sollten erst herausfinden, ob stimmt, was du vermutest, und dazu müssen wir …«
»… ins Moor aufbrechen.« Richard ergänzte den Satz seines Freundes.