Читать книгу Scurrilitas - Hans Rudolf Velten - Страница 31
Ansätze zu einer Theorie der Körperkomik
ОглавлениеDie folgenden neunzehn Paragraphen fassen das bislang Gesagte zusammen und machen den Versuch, einige theoretische Prämissen für das Feld körperlicher Lachanlässe aufzustellen. Sie formulieren gleichzeitig eine methodische Basis für die folgenden Kapitel, in welchen es um historische und mediale, vor allem textuelle Übermittlung von Körperkomik gehen wird.
§ 1 Lachen ist ein Phänomen körperlicher Eigenaktivität und als solches Teil einer Kommunikationssituation. Es ist nicht vorrangig Ausdrucksphänomen anderer Gefühle, sondern ein schwer kontrollierbarer, mehrdeutiger leiblicher Vollzug.
§ 2 Während das Lachen zahlreiche Anlässe kennt, wird die Komik vom Lachen regiert und bestimmt. Lachen ist somit nicht nur die Antwort auf komische Anlässe, sondern auch deren Maßstab, ein sie als Spiel markierender Rahmen in einer historisch jeweils neu zu definierenden Kommunikationssituation.
§ 3 Wenn Komik und Lachen in einem Interaktionszusammenhang stehen, stellt sich das Komische als ‚sozialer Vorgang‘ dar, der mindestens einen Akteur und mindestens einen Zuschauer benötigt. Das Verhältnis zwischen Akteuren und Zuschauern oszilliert zwischen Inszenierung und Emergenz und ‚bearbeitet‘ eine soziale Situation. Komische Vorgänge sind performative Prozesse: Sie entstehen aus dem Zusammenspiel von intentionalen und attentionalen Elementen, sie tragen Geschehenscharakter, sie sind kontext-, situations- und aufführungsbezogen.
§ 4 Komik und Lachen sind in soziale Beziehungen eingebettet: man lacht gemeinsam, man lacht in Gemeinschaft. Diese affiliative Funktion weist auf geteilte kulturelle Hintergründe und ähnliche Erwartungshaltungen der Teilnehmer am komischen Vorgang hin. Darüber hinaus verweist sie auf historisch, kulturell und sozial unterschiedliche Bestimmungen des Komischen.
§ 5 Komik ist ein relationaler Begriff: es gibt keine komischen Objekte oder Strukturen, sondern komische Relationen, deren Wirkung nur am lachenden Subjekt erfasst werden kann. Komik ist somit nicht essentiell zu definieren, sondern modal.
§ 6 Ich unterscheide zwischen komischem Vorgang und komischem Modus. Komische Vorgänge entwickeln und spielen sich immer im komischen Modus ab; sie sind nicht an sich komisch, sondern vollziehen sich innerhalb der komischen modalen Rahmung, die wiederum vom Lachen bestimmt ist. Der komische Modus kann als Sekundärrahmen begriffen werden, welcher Primärrahmen spielerisch – und häufig überraschend – verändert (‚modifiziert‘). Er wird über situative Vereinbarungen (Wiederholungen, mimetische Nachahmungen, Normabweichungen) hergestellt, schafft eine Eigenwelt und setzt Emotionen vorläufig außer Kraft – daher auch seine Enthebbarkeit.
§ 7 Komische Vorgänge können daher nicht ausreichend erklärt werden, wenn man nur ihre symbolischen Zeichenbedeutungen betrachtet. Sie müssen vielmehr innerhalb des komischen Modus als eines performativen Prozesses analysiert werden, in welchen sie eingebettet sind. Lachen und andere metakommunikative Signale können als Marker des komischen Modus gewertet werden.
§ 8 Der menschliche Körper ist zentrales Bezugsfeld und Agens komischer Vorgänge. Komische Vorgänge sind somit als ‚verkörperte‘ Vorgänge zu betrachten, d.h. sie haben gleichzeitig repräsentationalen und selbstreferentiellen Charakter. Daraus ergibt sich, dass der Körper im komischen Vorgang sowohl semiotische als auch performative Qualitäten aufweist.
§ 9 Unter ‚Körper‘ verstehe ich den situativ wahrgenommenen, präsenten Körper des Anderen. Er geht im Prozess der Wahrnehmung komischer Vorgänge mit dem Eigenleib (dem spürbaren Leib des Selbst) eine enge Verbindung ein, die zu einem interkorporellen Zwischen, einem ‚Leibkörper‘ als Umschlagstelle zwischen Selbst und Anderem führt. Dieser Leibkörper ist die Voraussetzung für die ‚Einleibung‘ des anderen Körpers, die mittels gesteigerter Aufmerksamkeit als Widerfahrnis erlebt wird. Sie hat Distanzlosigkeit und Unverfügbarkeit des Leibkörpers zur Folge. Die Einleibung wiederum ist entscheidendes Merkmal für die Erfahrung des Komischen, indem der Körper des anderen über seine komischen Abweichungen den Eigenleib ‚infiziert‘ und es zu einer Reaktion der ‚Auswerfung‘ im Lachen kommt.
§ 10 Komische Vorgänge als Lachanlässe sind weniger als kognitive Stimuli anzusehen, die Lachen auslösen, sondern als körperliche Apperzeptionen. Das Lachen über Körperliches ist nicht ausreichend mit dem Stimulus-Response-Schema zu fassen, sondern muss als leibliche Kommunikation, als apperzeptive Aufnahme des anderen Körpers in den eigenen verstanden werden. Voraussetzung dafür ist die Annahme, dass der lachende Körper ein ‚Leibkörper‘ ist, der als Umschlagstelle zwischen dem Selbst und dem Anderen fungiert.
§ 11 Komischer Vorgang und Lachen gehören demnach in einen Zusammenhang der Widerfahrnis und Einleibung. Auf dieser Ebene der Übertragung körperlicher Komik im Erleben ergibt sich noch kein Sinn, sondern allein ein Nach- und Mitvollzug komischer Bewegung. Da dieser Moment des Mitvollzugs das eigene leibliche Selbstverhältnis in Frage stellt, und es zur kognitiven Erkenntnis des komischen Vorgangs kommt, lacht der Körper als Akt der Distanzierung vom körperlichen Nachvollzug.
§ 12 Dieser Akt der Distanzierung macht noch einmal die Bedeutung der Wahrnehmung komischer Vorgänge und ihren Performance- und Spielcharakter deutlich. Damit kommt sie der ästhetischen Wahrnehmung nahe, die ebenfalls als ein Distanzierungsprozess beschrieben werden kann, ohne mit dieser jedoch identisch zu sein.
§ 13 Komische Rede ist als Sprechhandlung ursächlich an den Körper, seine Zeigegesten und seine Vokalität gebunden, sie erscheint als körperlich eingebettet. Sprachliche Äußerungen im komischen Modus sind somit nicht allein semantisch zu analysieren, sondern auch in ihrer materiellen und performativen Erscheinung.
§ 14 Es ist daher unzutreffend, dass in komischen Vorgängen Körper und Sprache die Unangemessenheit einer Situation (Normkonflikt, Normtransgression) repräsentierten, sondern sie erzeugen sie allererst, indem Normverletzungen und -transgressionen durch Akte der Verkörperung aufgeführt werden.60
§ 15 Körperliche Unangemessenheit kann in der doppelten Struktur körperlichen Zeigens gefasst werden: einerseits als ‚Zeigen-als‘ und andererseits als ein nicht-gerichtetes ‚Sich-Zeigen‘. Die Bedeutung des Zeigens ist daher als verkörperte aufzufassen.
§ 16 Die Wahrnehmung einer körperlichen Unangemessenheit, eines (tatsächlichen oder gespielten) Kontrollverlustes beim Anderen kann als der wichtigste körperliche Lachanlass bezeichnet werden. Komische Vorgänge des Kontrollverlustes beziehen sich jeweils auf Transformationen kultureller Codierungen der Körperhaltung, der Körperbewegung, der Gestik und Mimik, der Stimme und des Blickes, der Hexis, der Kleidung und Haartracht, des gesamten körperlichen Habitus.
§ 17 Lächerlicher und komischer Körper unterscheiden sich nicht in ihrer Zugehörigkeit zur lebensweltlichen und ästhetischen Sphäre. Ist der komische Körper der absichtsvoll komisch inszenierte Körper (etwa eines Clowns oder Possenreißers), so verstehe ich unter einem lächerlichen Körper den unfreiwillig lächerlich gemachten Körper des anderen. Beide, komischer und lächerlicher Körper, haben semiotische und performative Anteile. Sie wirken zunächst über ihre Phänomenalität und ihre Präsenz, können aber dennoch zum Zeichen oder Zeichenträger werden.
§ 18 Ein professioneller Spaßmacher verfügt demnach über Techniken, mit Hilfe derer die verschiedenen Formen des Kontrollverlustes inszeniert werden können. Bewusste Angriffe auf das Körperschema, wie etwa die Nachahmung eines bestimmten Ganges, aber auch ein Zuviel oder Zuwenig an Bewegung, an Gestik und Mimik, körperlichen Expressiva, das reine Zeigen von Nacktheit, Verkleidung, Maskerade oder der Vorgang der Nahrungsaufnahme und der Ausscheidung können somit Gelächter auslösen, ohne dass es noch zu einer Decodierung der Zeichenbedeutung gekommen wäre.
§ 19 Während in theatralen Aufführungen Possenreißer und andere Lachfiguren über die Präsenz ihres phänomenalen Körpers als einer nicht allein expressiven, sondern performativen Qualität wirken, werden in schriftlich überlieferten Texten Präsenz und Performativität eines komischen Vorgangs in Form von sprachlichen Zeichen übermittelt. Sie gehen dabei nicht verloren, sondern werden medial verändert und im Akt der Rezeption imaginativ reproduziert.61