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2. Lachen und Körperlichkeit in Mittelalter und Früher Neuzeit: historische und kulturelle Differenzierungen

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Jacques Le Goff und Nicolas Truong sprechen in ihrer 2003 erschienenen Histoire du Corps au Moyen Âge davon, dass der Körper eine der großen Auslassungen der Geschichte sei, ein „vergessenes“ Thema der Geschichtsschreibung. Sie formulieren dies vor dem Hintergrund einer über 300jährigen Historiographie, in welcher der menschliche Körper weitgehend unsichtbar geblieben war. Erst seit den 1970er Jahren ist er zunächst punktuell, dann ab der Mitte der 1980er Jahre im Zuge des anthropologischen Wandels in den historischen Wissenschaften stärker in den Blick getreten, um in disziplinären und interdisziplinären Perspektiven Bilder und Repräsentationen von ihm stärker als nur in Umrissen herauszuarbeiten.1

Dass auch vorher in den historischen Wissenschaften eine Vorstellung darüber, welche Diskurse und Praktiken vom Körper im Mittelalter vorherrschten, existierte, soll nicht in Abrede gestellt werden. Dies war allerdings eine Vorstellung, die in hohem Maß von theologischen Auffassungen und Klassifikationsversuchen bestimmt wurde, auch wenn diese selbst hochgradig ambivalent waren. Denn auf der einen Seite – in der asketischen und moraltheologischen Tradition – war der Körper ein Gefängnis der Seele, der herausgehobene Ort für die Sünde, insbesondere die fleischliche Sünde, der Ort der Erbsünde, und somit bevorzugtes Angriffsziel des Teufels. Daher war es aus christlicher Sicht geboten, dem Körper zu misstrauen, wenn nicht ihn zu verachten, und ihn auf Grund seiner Exponiertheit dem Bösen gegenüber durch Buße, Meditation und Erniedrigung zu disziplinieren. Der Körper spielt daher auch im christlichen Schöpfungsmythos eine mindere Rolle als die Seele des Menschen, den Gott „nach seinem Abbild“ geschaffen hat (Gen. I, 26).

Andererseits erwarb der Körper im Christentum eine Würde, die er vordem nie besessen hatte: Diesen sündhaften, vergänglichen menschlichen Körper hatte nämlich der Gottessohn selbst angenommen, um die Menschheit zu erlösen. Der Körper begleitet den Menschen ins Jenseits, er ist Ort seiner Qualen in der Hölle und seiner glanzvollen Wiederauferstehung nach dem jüngsten Gericht, wenn die bislang getrennte Seele sich mit ihm wiedervereint: „Au XIIe siècle, le corps humain semble devenir la mesure idéale de toutes choses, quand l’image du microcosme organise la représentation du macrocosme tout entier“.2 Der Befund Jean-Claude Schmitts macht deutlich, dass das lange vorherrschende Bild des Körpers als Seelengefängnis im Mittelalter schon für das theologische Schrifttum als einseitig, ja monolithisch angesehen werden muss. Er macht weiterhin deutlich, dass der menschliche Körper zwar erst mit der Renaissance zum Fluchtpunkt der Weltauffassung wurde, dass diese Bedeutung jedoch keineswegs gegen mittelalterliche Vorstellungen eintrat, sondern dass sie spätestens seit dem 12. Jahrhundert vorbereitet worden war. Im Christentum selbst waren seitdem verschiedene Diskurse und Auffassungen vom Körper entstanden, wie etwa in der Mystik und der Visionsliteratur, aber auch in Hagiographie und Bußbüchern, die den Körper als vieldeutiges und für diese Bereiche elementares Phänomen erscheinen lassen. Dazu kommt, dass der theologische Diskurs nur einen Ausschnitt aus der Gegenwart und Gesamtheit des Mittelalters darstellt, sozusagen den der Wissenskultur. Daneben haben etwa höfische oder urbane, bäuerliche und magische, technische und künstlerische Auffassungen vom Körper ebenso existiert, und sie sind deshalb zu Recht von der Forschung in den letzten beiden Jahrzehnten in den Blick genommen worden.

Nicht nur begrifflich, sondern auch thematisch wurde die Körperrenaissance von Michel Foucault eingeleitet: In den 1960er Jahren entstanden die wegweisenden Arbeiten zur Relation von Körper und Macht, Körper und Sexualität, Körper und Wahnsinn; anthropologische Themen, in denen der Körper als Gegenstand der Reflexion wieder eine Rolle spielt.3 Neben Foucault war es vor allem die feministische Literaturwissenschaft, die den Blick sehr früh auf den (weiblichen) Körper richtete, sodass nicht nur das Feld der Gender-Studies, sondern auch der Körpergeschichte von ihr mit-inauguriert wurde.

Heute kann man mit Recht sagen, dass das Diktum Le Goffs und Truongs nicht mehr zutrifft. In der letzten Dekade ist der menschliche Körper in einem Ausmaß in den Blickpunkt verschiedenster disziplinärer und interdisziplinärer Forschungsgebiete und -themen gerückt, dass sich das breite Feld der Körperstudien kaum mehr überblicken lässt.4 Nicht nur hat sich gezeigt, dass dem Körper innerhalb der kulturwissenschaftlich sich neu orientierenden Philologien eine zentrale Rolle zukommt,5 denn er liegt im Schnittpunkt interdisziplinärer Fragestellungen. Auch ist ein starkes Interesse am Körper in Disziplinen zu erkennen, die außerhalb der Geisteswissenschaften liegen, mit ihnen jedoch Schnittmengen teilen: Ich spreche vom neuen Forschungsfeld des embodiment/Verkörperung in den Neurowissenschaften, der Psychologie und der Linguistik, der Philosophie und der Theory of Mind.6

Besonders die volkssprachigen Kulturen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit sind durch ihren Umbruchcharakter zwischen einem vornehmlich körper- und aufführungszentrierten skriptographischen System und einem vornehmlich textzentrierten typographischen System eine Nahtstelle für die Untersuchung historischer Dynamiken des Körperverständnisses und den sprachlichen Wandel von Körpermetaphern. Im Zuge der wachsenden Anerkennung anthropologischer und performativer Perspektiven erkennt inzwischen auch die Mediävistik zunehmend das Potential eines Gegenstandes, des Körpers, dessen Relevanz sich nicht allein auf Themen der historischen Anthropologie (wie Geburt und Tod, Geschlecht, Sexualität und Liebe, Ernährung, Krankheit und Alter, Kindheit und Erziehung usw.) beschränken lässt, sondern sich auch auf Probleme des medialen Umbruchs und des Kommunikationswandels, auf Fragen nach Formen und Funktionen von Ritualen und Aufführungen sowie gesellschaftlichen Spielregeln richtet.

Ich möchte im Folgenden skizzenhaft zwölf Ordnungskategorien nennen, unter die sich die gegenwärtige Forschung zum Körper in Mittelalter und Früher Neuzeit subsumieren lässt:7

1 Der Körper als Kommunikationsträger: Dazu gehören Arbeiten zu Gestik, Mimik, Stimme und Körpersprache, zu Boten und Botschaften.8

2 Der Körper als Medium und Einschreibefläche symbolischer Repräsentation: Studien zum Körper als Symbol, Körper und Schrift, Körpereinschreibungen und Markierungen (Tätowierungen, Narben, Verstümmelungen, gemarterte Körper usw.).9

3 Der Körper als Medium und Träger gesellschaftlich geprägter Codes: Bekleidung und äußere Attribute (Tragezeichen, Heraldik), Nacktheit und Entblößung, vor allem aber auch „verkörperte“ Emotionen.10

4 Der geschlechtlich codierte Körper in verschiedenen Wirklichkeitsbereichen: Arbeiten zum Körper in der Frauenmystik, zur Sexualität, zur Konstruktion des Frauenkörpers, seiner Erotik und objektivierendem Begehren, zu Geschlechtsteilen, sowie Männlichkeitsstudien.11

5 Der Körper als religiöses Medium: Marienkörper, Jesuskörper, Körper der Heiligen, mystischer und Seelenkörper, Realpräsenz des Körpers.12

6 Der ästhetisch codierte Körper in der höfischen Kultur: Schönheit, Kraft, höfische Idealität des Körpers.13

7 Der Körper als Objekt und Subjekt von Gewalt und Gewaltinszenierungen: Stigmatisierungen des Körpers durch soziale Ausgrenzung, körperliche Strafen (Marter, Folter, Schandbilder), Studien zu Schmerz und Scham.14

8 Der Körper als Symbol und Metapher für kollektive bzw. gesellschaftliche Organisationsformen; politische Körperlichkeit.15

9 Der fremde bzw. andere Körper: Körperdifferenz, Wahrnehmung des fremden Körpers aus europäischer Sicht, zum kolonisierten Körper im 16. Jh.16

10 Der vitale, kranke und tote Körper: medizinisch-anatomische Körperauffassungen (Anatomie und Sektion, öffentliche Präsentation von Skelett und Leiche, Körper als Material), Ernährung und Diätetik, Heilung und Medikalisierung des Körpers.17

11 Der Körper in der Kunst: ikonographische Inszenierung von Körperlichkeit, der Körper in Text-Bild-Relationen.18

12 Der Körper in Ritual und Aufführung: rituelle Präsenz und Repräsentation (Liturgie, Prozessionen, kirchliche Feste), Theatralität der Körper; performative Körperlichkeit.19

Es ist auffallend, dass in diesen zwölf Kategorien der lächerliche Körper, der Körper, über den man lacht, sei er missgestaltet, Furcht erregend, bäurisch-täppisch oder närrisch, kaum präsent ist. Es scheint, als sei die Geschichte der Inszenierungen des Körpers in der Vormoderne bislang weitgehend ohne das Lachen geschrieben worden. Tatsächlich gibt es zu diesem Thema nur wenige Studien. Die wichtigste von ihnen ist sicherlich Michail Bachtins Rabelais-Buch, in welchem der ‚groteske Körper‘ zur zentralen Chiffre für eine ganze Epoche und eine gesamte Theorie wird; ich gehe weiter unten ausführlich darauf ein. Freilich sind auch in der Nachfolge Bachtins zahlreiche literaturwissenschaftliche und historische Studien vor allem zur europäischen Karnevalskultur entstanden, doch haben sie trotz der gängigen Verwendung der Metapher vom ‚grotesken Körper‘ meist nicht den Körper zum Hauptthema.32 Auch zahlreiche Arbeiten zum Lachen und zur Komik in der Vormoderne setzen sich mit Bachtins Thesen auseinander, aber hier spielen die Probleme der Volkskultur, der Ritualität, wie auch die vitalistischen Thesen des festtäglichen Lachens eine wichtigere Rolle als der Körper selbst.33 Bei den Arbeiten außerhalb der Bachtin-Rezeption dominieren entweder die Thematik des Komischen oder die des Körpers, selten werden ihre Konvergenzen behandelt.34 Wir haben es beim lächerlichen Körper quasi mit einer doppelten Leerstelle zu tun: kaum sichtbar in den Körperstudien, und nur in Umrissen in den Studien zum Lachen erkennbar.

Letztere sind in den vergangenen Jahren für Mittelalter und Frühe Neuzeit nicht in dem Maße wie Körperstudien, aber doch beträchtlich angewachsen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt erweist sich der Forschungsstand zum Lachen in der Vormoderne als methodisch uneinheitlich: Zwar werden immer wieder interdisziplinäre Sammelbände veröffentlicht,35 doch vereinen sie meist heterogene Studien zu Einzelphänomenen, folgen daher nur selten methodischen und theoretischen Vorgaben und bieten ebenso selten zusammenfassende Ergebnisse.36 Großangelegte Studien zur Geschichte des Lachens im Mittelalter stehen noch aus,37 und die jüngste deutschsprachige Veröffentlichung von Le Goffs Das Lachen im Mittelalter zeigt, dass sein Plan einer umfassenden Lach- und Komikgeschichte sich bisher in einigen Vorüberlegungen und allgemeinen Aussagen erschöpft hatte. Diese allerdings formulieren einige wichtige Bedingungen für die Untersuchung des Lachens im Mittelalter: Vor allem weist Le Goff auf seine historische und gesellschaftliche Variabilität hin, nennt seine Sozialität als Untersuchungsfeld, unterstreicht seine spezifischen rituellen und körperlichen Aspekte.38 Die entwicklungsgeschichtliche These Bachtins des Übergangs vom „insulären Lachen“ im Hochmittelalter zur „Ubiquität des Lachens“ im 15. und 16. Jahrhundert und seinem anschließenden Niedergang bleibt im Augenblick noch unwidersprochen.

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